2016 ist das 500. Todesjahr von Jheronimus van Aken alias Hieronymus Bosch. Die Niederlande ehren den Maler mit einer großen Ausstellung und anderen, vielfältigen Aktivitäten. Boschs Werk war und ist Gegenstand der unterschiedlichsten Auslegungen und Interpretationen, die versuchen, seine phantastischen, bizarren und oft schlicht rätselhaften Gestalten, Pflanzen, seine Mischwesen und seine offensichtlich mehrfach codierten Bilderwelten sinnhaft zu entschlüsseln. Surreale, absurde, grausame und komische Bildwelten, die sich tief ins kollektive Gedächtnis gegraben haben, egal, ob man seinen Intentionen gerecht wird oder nicht. Denn Selbsterklärungen oder Aussagen zu seinen Werken gibt es nicht. Nur deren Faszinosum und deren Wirkmächtigkeit. Deswegen haben wir Ulrich Fritsche gebeten, jeden Monat in diesem Jahr ein Bild oder einem Bildausschnitt zu beschreiben und zu erläutern. Zu Folge 1, zu Folge 2, zuFolge 3, zu Folge 4, zu Folge 5, zu Folge 6, zu Folge 7. Zu Folge 8. Zu Folge 9.
Verborgener Sinn im Werk des Jheronimus Bosch (Folge 10)
Diesmal: „Der hl. Antonius im Baum“
von Ulrich Fritsche
Gegenstand ist ein merkwürdiges kleines Bild im Museum Prado zu Madrid (Bild 30). Die Zentralfigur meint zweifellos den hl. Antonius: Das belegen die nach ihm benannte Kreuzform und das Schwein als übliches Attribut. Verglichen mit anderen Gemälden Boschs, welche die Antonius-Thematik betreffen, ist die Stimmung allerdings sehr verschieden, wirkt trotz aller Bedrängnis heiter! Die tiefgründige Komposition und sein spezielles Symbolsystem sind indes typisch für den Meister aus ’s-Hertogenbosch. Die folgende Erläuterung beinhaltet ‒ soweit erforderlich ‒ Hinweise zu seiner Symbolik. Der lesende Betrachter mag zunächst zweifeln, ob sich der Maler so viel dabei gedacht hat. Aber diese Interpretation lässt sich durch Vergleich mit anderen Bosch-Werken bestätigen: Sogar absurd erscheinende Motive erweisen sich als sinnvoll.
Der hier vorgelegte Beitrag ist eine gekürzte Fassung des entsprechenden Kapitels im Buch dieses Autors mit dem Titel: Boschs und Grünewalds „Versuchungen des Antonius“, Untertitel: Schwert, Strick und Christentum. Verlag Hazeka, Schmallenberg, 2001
Baum und Haus sind grundlegend wichtige Symbole: Bäume charakterisieren die Entwicklung der Gesellschaft in geschichtlichen Epochen. Die Gebäude veranschaulichen Strukturen: Dach bedeutet Obrigkeit, der Unterbau die Gemeinde. Erstaunlicher Weise hat Bosch Dächer auf menschliche Kopfbedeckungen bezogen! Links hinten ragt aus einem Wäldchen ein Gebäude mit zwei Dächern, deren Umrisse der Kaiserkrone bzw. Papstkrone ähneln. Das relativ flache Dach entspricht der weltlichen Obrigkeit, das spitze der geistlichen Obrigkeit. Zwar überragt das kirchturmartige Dach sein Gegenstück, doch ist der Gesamteindruck leidlich ausgewogen: Gemeint ist das Hochmittelalter.
Das genannte Wäldchen wird von gelbem Grasland abgelöst. Die dünn belaubte Baumreihe auf abfallendem Hügel veranschaulicht Abstieg, wobei sich der Gegensatz hoch/niedrig entwickelt. Weiter rechts in flachem Gelände kommt der Gegensatz links/rechts dazu: Was auf den ersten Blick ein erwachsener Baum zu sein scheint, hat zwei Stämme. Nun sind zwei Gebäudekomplexe zu unterscheiden. Links befindet sich ein senkrecht gespaltener Quader, eine Hälfte hat ein kurzes „geistliches Dach“. Der erdfarbene, vierschrötig-weltliche Turm ist relativ niedrig. Das bedeutet: Der erste Stand beherrscht hier den zweiten, und das Bürgertum als dritter Stand ist stark ausgeprägt. Dagegen ist rechts ein gestuftes Gebäude mit „weltlichem Dach“ einem sehr schmalen spitzen Türmchen übergeordnet: Hier dominiert die weltliche Obrigkeit. Die zinnenbewehrte Mauer zwischen beiden Gebäudekomplexen bewirkt eher Abgrenzung als Verbindung. Festzuhalten ist, dass sich die christliche Gesellschaft nach einer Wachstumsphase im Spätmittelalter gespalten hat: Kaisertum und Papsttum versuchen, die andere Seite zu beherrschen.
Im Mittelgrund befindet sich ein Bauernhaus mit weit heruntergezogenem Strohdach. Die Haustür steht einen Spalt offen, lässt ebenso wie die Fensterluke nur wenig Licht herein. Auch in die angebaute hellwandige Kapelle vermag nur wenig Licht einzudringen. Das Dach als Symbol der Obrigkeit veranschaulicht Verschmelzung von geistlichem und weltlichem Faktor ‒ der oberste Teil lässt an einen Ritterhelm denken. Der untere Teil entspricht dem frühen Bürgertum. Gemeint ist das Frühmittelalter.
Von dem Bauernhaus führt ein heller Weg schräg nach hinten, und weiter führt ein Steg über sumpfiges Gelände bis an einen Flechtzaun. Seitlich ist Wachstum zu beobachten. Der Erdwall in der Bildmitte wächst gleichsam mit der Vegetation empor. 3 Wachstumsstufen sind deutlich zu unterscheiden: vom Gebüsch auf dem Erdwall zu jenem hinter der Kapelle und dann zu den großen Bäumen links im Hintergrund.
Dort sieht man zwischen Baumstämmen einen quer verlaufenden Weg. Im Hintergrund ein winzig-schmaler, krummer Weg, dann zwischen Hügeln ein schräger Weg Richtung Mittelgrund. Von dort gelangt man in den Vordergrund auf einem breiten Weg zwischen zwei Erdwällen. Bezogen auf die Bäume und Gebäude ergibt sich eine Art Kreislauf: links stufenweises Wachstum und rechts Niedergang!
Ein Bach halbiert das Gelände. Zwei Übergänge gibt es. Links gelangt man durch ein Tor zu der Kapelle. Rechts passiert man bei geöffnetem Gatter die Erdwälle. Das Tor entspricht dem geistlichen Faktor, der Erdbruch dem weltlichen Faktor der Gesellschaft. Überquerung von Gewässern lässt auf Veränderung schließen. Die Kluft zwischen den Erdwällen veranschaulicht Trennung. Aus der zentralen Baumruine wächst ein hoher Baum; sein Stamm erhebt sich unweit des Tores vor der Kapelle. Zwei hohe Bäume, die sich von dem Baumpaar im Hintergrund herleiten, sind dem Durchgang zwischen den Erdwällen zuzuordnen.
All das ist historisch aufzufassen. Der große alte Baum im Vordergrund bedeutet das christliche Altertum. Er ist stark verästelt und eigentlich tot, dient aber mitsamt Strohdach als Nährboden. Der daraus sprießende neue Baum beginnt perspektivisch an der Grenze zwischen grünem und grauem Grasland. In der Entwicklung des Christentums kann man Altertum, Frühmittelalter, Hochmittelalter und Spätmittelalter unterscheiden. Damit einher gingen charakteristische Veränderungen in den Beziehungen zwischen Bauernschaft und Bürgertum sowie weltlicher und geistlicher Obrigkeit. Verfremdung und Verfall im Spätmittelalter führten zur Neuzeit: Der Übergang ist analog dem Wechsel vom Altertum zum Mittelalter. Geschichte beinhaltet Wiederholungen. Antonius vertritt ein Christentum, in dem weltliche und geistliche Macht noch vereint waren.
Dem rechten Erdwall entspringt ein mittelhoher krummer Baum, Gegenstück zu jenem rechts von dem Baumpaar im Hintergrund. Zu der zentralen Baumruine gibt es ein Gegenstück links vor dem Bauernhaus: eine kahle Kopfweide mit struppig abstehenden Reisern. Das Antoniuskreuz auf dem Tor zeigt, dass der Einsiedler aus der Kapelle vertrieben worden ist! Aber wie kann er von da gekommen sein, wenn die dortigen Gebäude dem Frühmittelalter und die zentrale Baumruine dem Altertum zuzuordnen sind? Der entscheidende Punkt ist: Antonius repräsentiert das Bestreben, zu den Anfängen unverfälschten Christentums zurück zu finden! Er fühlt sich in keinem Gebäude, d. h. keiner Institution mehr zu Hause. Als Außenseiter wird er hart bedrängt.
Merkwürdig mickrige Gestalten tummeln sich im vorderen Mittelgrund. Die beiden durch das geöffnete Gattertor zwischen den Erdwällen kommenden Figuren tragen an einer Stange einen Anker als Hoffnungssymbol. Der hängt allerdings verkehrt herum. Die hintere Figur geht auf Armen, weil sie keine Beine hat. Statt Kopf existiert ein Kegelhelm mit Stachel obenauf, der an Tod denken lässt. Die vordere Figur mit nachschleifendem Schlangenschwanz und bärenhaften Beinen hat dagegen keine Arme. Der borstige, kaum noch menschliche Kopf steckt in einem Tuch: Man denkt an ein Ei, aus dem gleichsam Geist geboren wird. Hier marschiert getrennt, was vereint sein sollte: Handeln und Wandeln, Tod und Geburt, Geist und Körper bzw. geistlicher und weltlicher Faktor der Gesellschaft. Mit dem Anker hofft man wohl, einen Ruheort zu finden. Aber Leben beinhaltet Veränderung.
Andere Dämonen greifen das Strohdach des Antonius an. Der wie ein Kugelabschnitt geformte Schild erinnert an die „weltlichen Dächer“ des Hintergrunds. Die letzte Figur dieser Truppe hat Knickebeine: Eines geht vorwärts, das andere rückwärts. Trotz verkümmerter Arme ist ein Schwert am Kugelrumpf befestigt. Den Schweinskopf ziert eine weiße Haube, seinerzeit Merkmal von Ehefrauen. Gemeint ist wohl eine verfälschte, aber „fruchtbare Gemeinde“. Die zerrissene weiße Fahne mit krallenähnlichem Zeichen darauf lässt an Kapitulation und zugleich an Raffgier denken. Gestalten, welche für die schweinsköpfige Frau kämpfen wollen, aber doch zu feige sind, verbergen sich teilweise. Mit Flügelstummeln, die Auswüchse eines Mantels zu sein scheinen, müht man sich, eine Fahnenstange zu halten. Aufschwung ist damit nicht mehr möglich, „geistige Merkmale“ wurden zu Attrappen. Man will das Vorhaben bemänteln, sich hinter dem hohen Baum dort verstecken und im Schutz des riesigen Schildes vorrücken. Zur Truppe gehört ein Schwertkämpfer mit massigen Bärenbeinen und Helm, welcher ihn am Sehen hindert. Daneben ein Speerkämpfer, der statt Kopf eine Rundscheibe mit Spitze in der Mitte hat. Diese widersprüchlichen Figuren veranschaulichen blinden Gehorsam, Habgier, Hirnlosigkeit und feige Brutalität.
Einige Spießgesellen marschieren auf dem rechts in den Vordergrund führenden Weg. Die Nachhut bildet ein blaues Kerlchen, das wie der hintere Ankerträger mangels Beinen auf Armen geht. Anstatt Kopf existiert eine Rundscheibe mit Stachel darauf: Verlust des Geistes ‒ oder sagen wir: der Vernunft ‒ hat verletzende Wirkung. Der Nächste in diesem zur Mitte schwenkenden Trupp verbirgt sich hinter einem schildartigen Gebilde und betätigt eine Harpune zwecks Fischfang. Eine kümmerliche Fahne soll die Vorrückenden „bei der Stange halten“, welche zwischen dem Baumpaar als Geländer dient. Der mit breitem Schwert gerüstete Anführer der Truppe packt den Beginn dieser Stange und reckt seinen Haifischkopf empor. Vor Hochmut sieht er nicht, dass es abwärts geht. Seine klobigen Beine stecken in schwarzen Stiefeln, die Knie sind durch Schildchen geschützt. Sogar ein drittes Bein hat dieser Muskelprotz, allerdings käferartig dürr. Aus dem Bauch ragt ein Boot: Fisch und Schiff ‒ d. h. Christentum und gesellschaftliche Institution ‒ sind auf widersinnige Weise vereint. Diese Dämonen scheuen das Wasser, Element der Veränderung! Gemeint ist räuberisches Pseudochristentum. Niederträchtiger Fort-Schritt will den Einsiedler in der Baumklause vernichten, geht aber vorbei.
Hinter der grünen Anhöhe des Vordergrunds marschiert eine Kolonne, von der man nur Waffen, Geräte und Kopfbedeckungen sieht. Die Lanzen mit verdicktem Ende symbolisieren Zeugung. Leiter, Harpune und Kegelhelm sind uns schon begegnet. Links von der Baumruine ändert der Zug wieder die Richtung, auf die Klause des Antonius zu. Die Leiter soll Aufstieg ermöglichen, doch scheint dieser Weg zum Ursprung der Entwicklung zurück zu führen. Der hintere Leiterträger hat einen Schwanz und eine Lanze mit verdicktem Ende. Sein Hörnerhelm erinnert an den Dachtyp im Hintergrund, der die „weltliche Obrigkeit“ charakterisiert. Dem vorderen Leiterträger fehlt wohl der Kopf, Arme sind bloß im Ansatz vorhanden. Diese Leiter kontrastiert mit dem Anker an der Stange im Durchgang zwischen den Erdwällen. Niedergang und neues Wachstum sind miteinander verknüpft, die Dämonen agieren im Kreislauf. Der Angriff richtet sich gegen die zentrale Baumhöhle, gegen die ehemalige Klause des Einsiedlers, gegen Antonius selbst. Gemeinsames Ziel ist letzten Endes Vernichtung wahren Christentums. Böse, sehr fragmentarische Figuren haben sich verbündet und bringen doch nichts Ganzes zustande, ihr Treiben wirkt lächerlich.
Mit dem Wasser der Veränderung kontrastiert das Feuer der Vernichtung. Die Flammen in und hinter der Kapelle sind noch klein, bedrohen aber Strohdach und Baumruine. Ein brennendes Haus gehört zu den üblichen Attributen des Antonius, der auch als Schutzheiliger bei „Antoniusfeuer“ genanntem Hautausschlag angerufen wurde. Der Einsiedler flüchtete in der Hoffnung, dass der neue Baum den Brand überstehen wird. Die Baumhöhle wurde sein Heim. Der Stammrest wirkt als Rückenschild. Die obere Baumhälfte ist stark verästelt wie ein Hirschgeweih und versinnbildlicht damit gespalten-toten Auswuchs des Geistes. Umso rührender ist das Bemühen um Zusammenhalt: Da sind zwei fast waagerechte Stöcke gegenläufig gepfropft, ein senkrecht daran befestigter Stecken verbindet mit einem weiter oben parallel angebrachten Stock. All diese Stützen für das Strohdach sind labil.
Wie hier aus einer Baumruine ein gesunder neuer Baum hervorgeht, das grenzt an ein Wunder. Der Austrieb des Baumes bedeutet religiöse Erneuerung: vom Mittelalter zur Neuzeit. Boschs Vater hieß Anthonis, und so hat sich Jheronimus mit einem jungen Baum verglichen, der aus einem alten hervorging: Er verstand sich gewissermaßen als Abkömmling der Zentralfigur. Sein von der Heimatstadt ’s-Hertogenbosch abgeleiteter Künstlername bedeutet ein Programm! Denn das niederländische „bosch“ heißt so viel wie „junger Wald“: Anliegen unseres Malers war Erneuerung des Christentums.
Hier ist darauf hinzuweisen, dass im Mittelalter ein zweiter heiliger Antonius lebte: der von Padua. Aus Verehrung für den Ägypter aus dem Altertum nahm er dessen Namen an. Für zahlreiche Wunder bekannt, zog er sich gern auf einen großen Baum zurück, um von dort aus zu predigen. Bosch platzierte die Zentralfigur hier in einem alten Baum, aus dem ein junger wächst und gab ihr so auch Merkmale des Antonius von Padua! Solche typologischen Parallelen (auch Präfiguration genannt) hat er nicht selten dargestellt. Analog zu dem anerkannten Befund, dass manche Ereignisse im Alten Testament auf das Neue Testament vorausweisen.
Trotz Bedrängnis ist die Stimmung optimistisch ‒ im Gegensatz zu den „Versuchungen des Antonius“ (Lissabon). Dieses wohl während der Herrschaft von Papst Alexander VI. Borgia entstandene Triptychon endet nahezu in Verzweiflung. Später hat sich die Lage augenscheinlich gebessert: Antonius richtet sich in dem wieder austreibenden Baum häuslich ein. Baum und Bau werden eins.
Sein Haupt ruht auf den betend gefalteten Händen, die Ellbogen auf den Knien. Kopf, Arme und Beine wirken als Ganzes zusammen – im Gegensatz zur Disharmonie seiner Feinde. Ein edles Gesicht mit kahler Denkerstirn und grauem Vollbart. Noch im Sitzen stützt er sich auf einen Stab, mit dem die Unterarme ein Antoniuskreuz formen, wie das Zeichen auf der Achsel. Am roten Gürtel ist ein bläuliches Buch mit goldener Schließe mittels Glaskügelchen befestigt. Rückhalt bietend, berührt dieses Buch die Baumruine. Gemeint ist gewiss die Bibel, und somit erweist sich das Kügelchen als „Keim des Wortes“, woraus der neue Baum wächst. So überwindet der Heilige den Tod.
Eindringlich schaut er in die Zukunft. Er lauscht, ob die Glocke, die er in den obersten Zweigen der Baumruine angebracht hat, Sturm zu läuten beginnt. Reicht doch die Glockenschnur über das Strohdach und die beiden miteinander verbundenen Stöcke hinab bis zu der Geländefalte, in der Feinde des Antonius nahe seinem Kopf vorrücken. Glücklicherweise geht ihr Ansturm in sinnlosem Kreislauf an seinem letzten Rückzugsort vorbei. Der Verfall hat eine Gegenreaktion ausgelöst, die erste Stufe neuen Wachstums. Der Einsiedler hat dazu beigetragen, dass der tote Baum wieder ausschlagen konnte.
Ein Schwein als sein freundlicher Begleiter schmiegt sich wachen Auges an. Das Glöckchen im Ohr wird warnen, sollte dem Tier ein Leid geschehen.
Der Boden im Vordergrund ist erfreulich grün, im Unterschied zum gelben Grasland weiter hinten. Aber auch die Versucher sind gewachsen.
Bedrohlich nähert sich eine widernatürlich zusammengestückte Gestalt. Basis ist eine rundliche Burg mit kleinerem Anbau. Als Dach ist ein Kegel mit verlängerter Spitze schief aufgesetzt, ähnlich einem umgestülpten Trichter. Dieses Gebäude hat auch menschliche Merkmale. Unten versuchen affenartig behaarte, verschieden gewinkelte Beine zu laufen, doch fehlen einige Zehen. Oben schwingen Arme einen Hammer. Zwischen oberem und unterem Teil droht ein blaugelber Kopf mit gesträubten Scheitelfederborsten und gefährlich langem Oberschnabel. Dieses Biest schreit auf das Schwein ein, will es zerhacken und zerhämmern. Was soll das? Im Hintergrund hatten wir „geistliche und weltliche Gebäude“ identifiziert. Andere Bilder Boschs bestätigen, dass er Kopfbedeckungen auf Gebäude bezogen hat. Die Missgestalt hier kombiniert Mensch und Bau. Die Burg steht für die weltliche Macht, das spitze Dach für die geistliche Obrigkeit. Beide wirken zusammen wie Arme und Beine. Eine labile Synthese, wobei der geistliche Faktor dominiert. Was in gemeinsamer Anstrengung vernichtet werden soll, ist Fruchtbarkeit, die das Schwein verkörpert. Damit meinte Bosch auch sein Lebenswerk, denn auf der persönlichen Bedeutungsebene hat er die Zentralfigur mit seinem Vater Anthonis verglichen.
Ein riesiger Henkelkrug wird entleert. Gefäße versinnbildlichen „Körper“. Verschütten des Inhalts bedeutet, dass vom Leben nur das Äußerliche bleibt. Schwer gebaute und doch kümmerliche Kerle strengen sich mächtig an, den Krug auf eine schiefe Bahn zu bringen. Der dickhäutige Rumpf des einen endet in einem Stützschwanz, gebildet aus einem Elefantenrüssel: Hier wurde sozusagen Geist zu Körper umfunktioniert. Ein den Krug stützender Arm verdeckt großenteil das Gesicht dieses Dämons, das einem bärtigen alten Mann mit weißen Haaren ähnelt. Der Schild unter der Achsel und der Helm auf dem Knie zeigen, wie absurd es ist, gegen das Christentum zu kämpfen, hat der Heiland doch Gewaltlosigkeit gepredigt. Die zweite um das Ausschütten des Kruges bemühte Gestalt wirkt sehr fragmentarisch. Anstelle von Kopf und Rumpf existieren eine Rundscheibe und ein vermutlich rechteckiges Brett als Unterlagen für den Krug: Geist und Körper sind hier zu geometrischen Figuren abstrahiert und in äußerst labilem Gleichgewicht. Darüber hinaus sieht man kaum mehr als einen Arm sowie ein stämmiges Bein nebst einem dünnen. Zusammengefasst bedeutet die Krugszene: Sinnentleerung bedroht den Einsiedler.
Von links kommt ein kleines Ungeheuer geschritten. Die Füße sind menschenähnlich, doch fehlen Zehen. Der Rumpf ist graubraun, der Kopf grünblau bis gelb. Hier und da stachlige Fortsätze und Borsten. Der Kopf lässt zunächst an eine Schildkröte denken, stellt indes nichts anderes dar als einen … Penis! Das Ungeheuer ist demnach primär Geschlechtsorgan, gibt sich aber geistig. Diese Verwandlung bildet einen Gegensatz zu dem rüsselschwänzigen Dämon. Den Peniskopf schmückt ein weißes Gebilde ähnlich einer Hörnerhaube, typisch für Ehefrauen. Wie der annähernd dreieckige, aber doch leicht geschwungene Raum dazwischen durch einen senkrechten schwarzen Strich geteilt wird, mit kleiner heller Verdickung obenauf, das lässt an eine … Vulva denken! Eine schwarze Schnur verbindet die Haubenenden unter dem Hals.
Gegenstück zu der Aufmachung des Peniskopfes ist eine Art Spindel, die an der vordersten Borste auf dem Rücken hängt. Mit dem Rädchen ganz oben, dem sog. Wirtel, wird gedreht. Der verdickte schwarze Teil dürfte das aufgewickelte Garn sein. Aber wozu dienen die beiden Kügelchen mit weißen Punkten obenauf? Vergleich mit Boschs „Steinschneiden“ macht klar, dass ein Messer gemeint ist, als Sinnbild des männlichen Geschlechtsorgans! Die beiden Kügelchen stellen die Hoden dar. Ein Messer als Trennwerkzeug kann auf die Penetration bei der Kopulation hindeuten, welche eine gewaltsame Komponente hat. Dieses Gerät ‒ oben Spindel, unten Messer ‒ veranschaulicht folglich den Wechsel zwischen Vereinigung und Trennung, wie er bei der Vermehrung stattfindet. (Tatsächlich spricht man bei der Zellteilung vom „Spindelapparat“.)
Wir haben gesehen, dass das Penisungeheuer nicht nur männliche, sondern auch weibliche Merkmale hat. Inwiefern ist das eine Gefahr für Antonius? Der Geschlechtstrieb ist nicht grundsätzlich schlecht. Aber es kommt darauf an, das Körperliche mit dem Geistigen zu verbinden (bzw. analog das weltliche mit dem geistlichen Prinzip). Ein Einsiedler läuft Gefahr, zweifelhaften Ersatz für einen menschlichen Partner zu suchen. Die weibliche Aufmachung des Penisungeheuers wirkt lächerlich, denn Ersatzbefriedigung bietet keine Lösung, kann Isolation nicht überwinden. Suggeriert wird die Möglichkeit der Ergänzung aus sich selbst: indem der Mann sich weiblich bzw. der Körper geistig gibt. Einerseits wird also das Fruchtbarkeit verkörpernde Schwein durch Schnabel und Hammer jenes Kerls bedroht, der eine unnatürliche Verquickung der gesellschaftlichen Institutionen personifiziert – andererseits will das Penisungeheuer glauben machen, man könne als Einsiedler Nützliches hervorbringen. Freilich lebt natürliche Entwicklung von Gegensätzen, sei es zwischen den Geschlechtern oder zwischen Geist und Körper: Setzt Streben nach Vereinigung nicht Trennung voraus – und umgekehrt? Das wandernde Penismonster zeigt verschiedene Wandlungsmöglichketen.
Erstaunlicher Weise illustrieren das auch die Bodenpflanzen. Abgesehen vom regellosen, aber zusammenhängenden Grasteppich wachsen hier detailliert gemalte Kräuter. Dergleichen findet man bei Bosch sonst nicht. Bezüglich der Blattform gibt es zwei Grenzfälle: glatt-gerundet und gezackt-länglich. Das passt zu Breitwegerich und Löwenzahn. Der Wegerich bildet steile Samenkölbchen, der Löwenzahn ist als „Pusteblume“ bekannt. Unser Maler hatte freilich keine botanische Systematik im Sinn, sondern Vererbungsprinzipien. Die Formen der beschriebenen Kräuter ähneln manchen Merkmalen des perversen Penisungeheuers. Merkwürdiger Weise scheinen Kreuzungen zwischen Wegerich und Löwenzahn vorzukommen. Dazu sind diese Arten gewiss nicht nah genug verwandt, aber hier geht es um prinzipielle Möglichkeiten. Vor der Baumruine fallen zwei hochgeschossene Kräuter auf, ein glattblättriges mit kleinen weißen Blüten und ein gezacktblättriges mit schwarzem Stängel. Diese Kräuter haben sich scheinbar am Boden verbunden. Weiter rechts ein großer Wegerich und noch etwas weiter ein typischer Löwenzahn mit aufbrechenden Blüten. Diese beiden scheinen sich „oben herum“ zu kreuzen, denn dazwischen wachsen nach oben zu zwei Pflanzen mit mittleren Eigenschaften. „Oben und unten“ entsprechen „Geist und Körper“ ‒ kein anderer Maler hat derart subtile Gedankengänge auszudrücken vermocht.
Unmittelbar vor dem Einsiedler droht von einer Uferecke aus ein weiterer rudimentärer Dämon. Soweit sichtbar, ähnelt der Kopf mit der kahlen Stirn dem Antonius ‒ dessen Haare sind allerdings noch nicht weiß. Ein senkrecht gestellter Helm verdeckt das Gesicht. Die Anordnung der Nieten bezeichnet nutzlosen Kreislauf. Hier ist ein Denker karikiert, dessen Hirn kaum noch mit Sinneseindrücken versorgt wird. Der verdrehte einzige Arm holt mit schartigem Hackebeil aus, um zu spalten. Dieser Dämon erkennt nicht, was er tut. Auch das isoliertem Geist entspringende, buntschillernd-zottige Kerlchen hat wohl keine Beine, aber Arme; es turnt die Leiter empor, welche an die hohe Stirn gelegt ist: Geist wird hier für körperliche Zwecke benutzt. Der auf dem Bogen liegende Pfeil ist durchaus nicht spitz, sondern wird breiter wie eine Schalmei. Und dieses Gebilde zielt zwischen die Beine des Einsiedlers: Geschlechtstrieb soll ihm verpasst werden!
Wie diese Absurditäten gemeint sind, wird im Vergleich mit den benachbarten Gestalten klarer. Die senkrecht orientierte Denkerbüste verhält sich zu dem waagerecht orientierten Penisungeheuer wie geistige Vernichtung zu bloß körperlicher Zeugung. Menschliches Leben beinhaltet Geist und Körper, Geist allein ist in dieser Welt nicht lebensfähig. Die Bedeutung des Helms erschließt sich durch Vergleich mit dem Kegel-Kopf des Hammerschwingers. Denn diese Aufsätze entsprechen dem „weltlichen bzw. geistlichen Dachtyp“, was vorliegende Interpretation erhärtet. Die Denkerbüste zeigt den Versuch, den geistig-geistlichen Faktor durch den körperlich-weltlichen zu beherrschen.
Mitten im winkligen Gewässer droht ein Kerl, von dem man nur das glotzäugig-blöde, schreiende Gesicht und eine über den Kopf erhobene Krallenhand sieht. Hier dominiert das Handeln über den Geist – fraglich, ob man überhaupt noch von Geist sprechen kann, ist doch die Hirnkapsel von brauner Kapuze verhüllt. Ein entsetzlicher Gefühlsausbruch! Erwartet man nicht von Klosterleuten ‒ sogar in der Not des Ertrinkens ‒ mehr Selbstbeherrschung? Wer ein gottgefälliges Leben geführt hat, kann ja auf den Himmel hoffen. Dieser Mönchsdämon verhält sich zu der kriegerischen Denkerbüste wie bloßer Sinnenkitzel zu verstiegenem Denken. Er simuliert das Ertrinken wohl nur, zumal er sich in einen Fisch zu verwandeln scheint. Körper ist kaum vorhanden, aber wer genau hinsieht, entdeckt zwischen den Binsen eine zweite Fingerkralle, welche Zangengriff ermöglicht. Die Versuchung besteht für Antonius in der Identifikation mit dem verzerrten Spiegelbild! Ihm wird vorgetäuscht, er sei böse und werde im Zeitenstrom untergehen.
Überall Widersprüche, ringsum Kampf zwischen rudimentären Wesen, die ein Ganzes bilden sollten. Selbstsucht ohne Anzeichen für Nächstenliebe.
Sind all diese Schreckgespenster symbolisch aufzufassen, worin besteht dann ihre Wirklichkeit? Mehrere Bedeutungsebenen sind zu berücksichtigen. Der Mensch wurde als Gottes Ebenbild erschaffen, doch sieht man hier ein widerwärtiges Abbild vom Bild. Wohin man sich auch wendet, überall falsche Alternativen. Existieren diese Dämonen nur bezogen auf Antonius, ist das teuflische Karussell nur seinetwegen inszeniert? Nein! Sind die Probleme dieses Einsiedlers noch aktuell? Durchaus. Im Besonderen zeigt sich das Allgemeine. Boschs Antoniusfigur veranschaulicht einen gesellschaftlichen Konflikt und zugleich seinen eigenen. Er wollte dazu beitragen, den alten Baum des Christentums zu erneuern, der ursprünglich ein Organismus gewesen ist. Nun schaut er am Ende seines Lebens besorgt, aber unbeirrt in die Zukunft. Was wird sie bringen, welche Gefahren lauern ringsum? Bildende Kunst wird im Bildersturm absichtlich zerstört. Boschs Lebensinhalt geht durch Unverständnis verloren. Wer Bösartiges hervorbringt, beruft sich auf ihn. Man verwandelt ihn in ein Denkmal, begreift seine Geistesgröße aber nicht und attackiert ihn als „Teufelsmaler“. Man verdeckt seine Botschaft, indem man sich an Äußerlichkeiten ergötzt. Man unterstellt Malerei aus dem Unbewussten (die auch berechtigt sein mag, aber für Bosch nicht zutrifft) und verhindert damit die beabsichtigte Wirkung.
Krankhafte Lust am Grässlichen ist die gemeinste Unterstellung. Darstellung des Bösen war für Bosch kein Selbstzweck! Warum wirken seine abartigen Gestalten so echt? Weil sie Sinnbilder für Schwächen und Fehlentwicklungen sind. Laster wirken ja dem natürlichen Harmoniestreben entgegen, machen auf Dauer hässlich – darf man dem Künstler vorwerfen, dass er sie so lebendig darzustellen vermochte? Im übertragenen Sinne sind all diese Dämonen durchaus real und bedrohen uns noch immer. Um sie zu überwinden, sollte man sie freilich kennen.
In ihrer Deformierung erscheinen die bösen Mächte klein und lächerlich. Hier zeigt sich ironische Distanz, man kann auch sagen: ein Schuss Humor! Unser Maler, für Teufeleien berühmt wie kaum ein anderer, hat Frieden gefunden.
Aber gehen diese lächerlichen Anfechtungen wirkungslos vorbei? Hier wird Boschs Dilemma deutlich: Er blieb offenbar persönlich einigermaßen unbehelligt, weil man seine Symbolik kaum verstanden hat. Aber deshalb blieb auch die erhoffte religiöse, ethische, pädagogische Wirkung weitgehend aus. Nicht unterhalten, sondern bessern wollte er: Christi wahre Heilslehre bewusst machen. Nein, Grässliches war ihm durchaus nicht Selbstzweck! Und so hat er in diesem späten Gemälde eine betont heiter-gelassene Stimmung verwirklicht: Vermächtnis eines Einsiedlers wider Willen.
Ein zur Ruhe gekommener Mensch zeigt sich hier. Die den Kreislauf von Stirb und Werde antreibenden Begierden irritieren ihn kaum noch. Man muss an Buddha denken, der unter einem gewaltigen Baum Erleuchtung gewann: Es ist die Leidenschaft, die Leiden schafft. Güte, Mitleid, Mitfreude, Gleichmut können des Lebens Eitelkeit überwinden. Man soll der Welt ein Freund sein und ungebeten helfen. Bosch musste sich gewissermaßen zurückziehen: Das war lebensnotwendig im Hinblick auf die Inquisition. Aber er vertraute doch inbrünstig auf Gott.
Abschließend noch ein verblüffender Befund: Bosch hat auf einigen Bildern Hinweise in Form von Ziffern gegeben! Man hat sie gewöhnlich als Katalognummern missverstanden. Das kann mindestens für das Gemälde „Steinschneiden“ nicht stimmen, weil die Ziffern Bestandteil eines kunstvollen Schriftornamentes sind. In allen Fällen handelt es sich um Zitate aus den Psalmen! Kein Zufall, sie passen genau zu dem jeweiligen Bild und zeigen, was der Maler dabei empfunden hat. Zu Füßen des Penisungeheuers stand markant rot geschrieben: 446. Die jüngste Restaurierung hat das beseitigt.
Psalm 44, Vers 6 lautet:
„Mit dir stoßen wir unsere Bedränger nieder, in deinem Namen zertreten wir unsere Gegner.“
Wie das gemeint ist, verdeutlichen die nächsten Verse:
„Denn ich verlasse mich nicht auf meinen Bogen, noch kann mein Schwert mir helfen;
nein, du hast uns vor unsern Bedrängern gerettet; alle, die uns hassen, bedeckst du mit Schande.“ (Ps 44,6-8)
Eine sehr persönliche Aussage!
Ulrich Fritsche
Ulrich Fritsche ist Autor von bislang drei schön aufgemachten Büchern über Hieronymus Bosch und kommentiert auf Facebook regelmäßig Bosch-Bilder.
Im Taschen Verlag ist die ultimative Werkausgabe von Bosch erschienen, auf die wir hier hingewiesen haben.
Abbildungen, Bildnachweis: © Wikimedia Commons (public domain)