Geschrieben am 19. Juli 2007 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Kultursherpas

Carl Wilhelm Macke zeigt beispielhaft, Wie die „Prekarisierung“ heute immer mehr in den gesamten Kulturbetrieb hineinwuchert und zur Grunderfahrung intellektueller Arbeit auf allen Niveaus geworden ist.

Ein über jeden Verdacht erhabener Literaturwissenschaftler fragt einen Autor, ob er Interesse habe, einen Lexikonartikel zu schreiben. Das Lexikon hat einen großen und guten Ruf in der Literaturwelt. An diesem Ort zu veröffentlichen, ist für jeden Autor eine Ehre. Da man glaubt, für die vorgesehenen Lexikonartikel eine gewisse Kompetenz zu besitzen, bekundet man Interesse an einer Mitarbeit. Der das Lexikon betreuende Wissenschaftler zeigt sich erfreut über die Zusage. Er müsse aber darauf hinweisen, daß es für die erbetenen Beiträge nur eine Arbeitszeit von maximal einem Monat gibt. Man müsse sehr eng planen. Und man könne für den Beitrag von maximal 5000 Zeichen nicht mehr als 25 Euro Honorar zahlen. Nun sind 5000 Zeichen nicht sehr viel für einen professionellen Schreiber, dessen Tagespensum oft den doppelten Umfang besitzt. Aber ein Lexikonartikel muß natürlich sehr gut recherchiert und geschrieben sein. Der Autor muß die darzustellende Thematik oder den zu definierenden Begriff in ihren vielen Verzweigungen quer durch die Geistesgeschichte kennen. Ein breites Wissen um die Primär- und Sekundärliteratur ist Voraussetzung für jeden, der das Verfassen eines Lexikonartikels zusagt. Für alles zusammen, das Spezialwissen, die Recherchen und das Verfassen des Beitrages wird dann ein Honorar von 25 Euro angeboten!

Es geht nicht darum, den Herausgeber des Lexikons anzuklagen. Er leistet sein Bestes – und das ist in der deutschsprachigen literarischen Welt wirklich das Beste – um dem Niveau des traditionsreichen Lexikon gerecht zu werden. Und nicht einmal der Verleger des aufwendigen Editionsprojekts soll hier ‚an den Pranger’ gestellt werden. Dass der Verleger überhaupt den Mut aufbringt, gegen alle Markttendenzen ein ambitiöses philologisches Großprojekt zu wagen, verdient Anerkennung. Gezeigt werden soll nur anhand eines wenig spektakulären Beispiels, wie sehr „Prekarisierung“ heute immer mehr in den gesamten Kulturbetrieb hineinwuchert und zur Grunderfahrung intellektueller Arbeit auf allen Niveaus geworden ist. Die Vermutung, befristete Beschäftigungsverhältnisse, Minijobs, Dauerpraktika und Tagelöhnerei betreffen fast ausschließlich Berufsanfänger, jedenfalls jüngere Qualifizierte, die keinen festen Zugang zum regulären Arbeitsmarkt finden, ist eine Illusion. Die ‚reflektierte Mittelschicht“ (so eine in Italien verbreitete Definition der gesellschaftlichen Zone zwischen „Reich“ und „Arm“) gerät heute immer mehr in den Sog des ‚Prekariats’. Man muß sich da nicht mehr nur auf unregulierte Arbeitsverhältnisse oder kurze Zeitverträge einlassen. Das sind für viele Beschäftigte auf dem Arbeitsmarkt keine neuen Phänomene, sondern vollkommen ‚normal’ gewordene Lebensumstände.
Neu ist vielleicht nur, daß der Kreis der so prekär auf dem Arbeitsmarkt herumflottierenden Akademiker längst nicht mehr auf bestimmte Altersgruppen und Sozialmilieus einzugrenzen ist. Neu hingegen sind jedoch Phänomene einer „Sherpaisierung“ in der kulturellen und intellektuellen Arbeitswelt, die noch unterhalb irgendwie rechtlich fixierter Verhältnisse liegen. Die „urbanen Freiberufler“ ( Thomas Gross ) müssen sich offenbar auf Dauer darauf einstellen, daß sie ihr Wissen, ihre kulturelle Phantasie, ihre künstlerische Kompetenz den im System etablierten „Großintellektuellen“ oder Medienmanagern unter demütigenden Bedingungen zur Verfügung stellen sollen. Anders und soziologischer formuliert: „In gewisser Weise ist der Kulturbetrieb zu einem Versuchslabor für die ‚Auspowerung’ der Ware Arbeitskraft geworden“ (Klaus Ronneberger).
Während der elitäre Teil des „reflektierten Mittelstands“ die Rückkehr des Bürgertums, seiner Werte, seiner Haltungen, seines „Bildungskanons“ fordert, beschäftigen sich einige ihrer ehemaligen Mitstudenten oder Nachbarn im städtischen Wohnviertel mit der Geschichte und der Kultur der Sherpas. Es wird Zeit, nicht die versnobten Anstandsregeln des äthiopischen Prinzensohns Asfa-Wossen Asserate sondern die Biographie des nepalesischen Sherpa Tenzing Norgay zu lesen. Da kann man denn erfahren, daß Sir Edmund Hillary immerhin noch alte britische Formen im Umgang mit seinem Sherpa pflegte. Davon können die Sherpas im Hochgebirge des heutigen Kulturbetriebs oft nur träumen.

Carl Wilhelm Macke