Geschrieben am 1. August 2017 von für Litmag, SEXMAG, Specials

Kristy Husz: Was Sie schon immer über sexuell explizite Textstellen lesen wollten…

Sherin-Kristy HuszWas Sie schon immer über die Reaktionen auf sexuell explizite Textstellen lesen wollten, aber bisher nicht geschrieben fanden

 

„Jetzt sitzt er mit einem großen Scotch auf dem Sofa, und sein Schwanz fühlt sich an und sieht aus wie etwas, das in einen schrecklichen Unfall verwickelt war – wie ein Comic-Hotdog vielleicht, nach dem missglückten Versuch, eine viel befahrene Straße zu überqueren.“
(Nick Cave, „Der Tod des Bunny Munro“)

Faust und Gretchen haben Sex. Das ist Fakt. Sonst könnte die nicht mehr unschuldige Margarete später kaum über gepflückte Blümlein sinnieren und am Ende der Tragödie als verzweifelte Kindsmörderin im Kerker darben.

Wie findet in „Faust I“ der für den Handlungsverlauf so wichtige Entjungferungs- und Zeugungsakt jedoch statt? Das hat Goethe, in dieser Hinsicht ganz Sprössling seiner Epoche, neckisch verhüllt. Ich erinnere mich noch genau, dass es mein Deutschlehrer Walter S. war, der uns in der 12. Klasse auf ein paar bedeutungsschwangere Buchstaben aufmerksam machte – und von sieben Leistungskurs-Teilnehmerinnen und einem tendenziell schwer zu beeindruckenden Deutsch-LK-Quotenschüler ungläubig hochgezogene Brauen erntete: What the fuck?! Yep, in der Nachbarin Garten werden die Weichen für eine gemeinsame Liebesnacht gestellt; der Rest ist Diskretion.

Tatsächlich darf man im klassischen Literaturkanon die expliziten Äußerungen oft mit der Lupe suchen. „Let’s talk about sex, baby“? Fehlanzeige. In der Bibel werden komplette Begattungsvorgänge in die poetische Vokabel „erkennen“ gepresst; vom Gros der Leserschaft unbemerkt treiben es Hans Castorp und seine kirgisische Herzensdame Madame Chauchat auf Thomas Manns „Zauberberg“; Ödipus-Epigone Walter Faber und Tochter Sabeth tauschen inzestuöse Körpersäfte in Avignon aus, in einer Szene, die uns Max Frisch allerdings nicht näher ausleuchtet; und selbst ein skandalumwittertes Werk wie Nabokovs „Lolita“ enthält, anders als womöglich zu erwarten, keine detailliert gemalten Humbert-Humbert-nagelt-nackte-Nymphchen-Tableaus.

Lehrer und Literaturprofessoren hatten immer wieder die Aufgabe, unsere Augen für gewisse Andeutungen zu schulen, für die Gedankenstriche, Auslassungspünktchen und sonstigen Leerstellen, die unsere jugendliche Fantasie nach Belieben füllen mochte. Entlockte uns das alles zu Teeniezeiten eher ein peinlich berührtes Kichern (Huch, der alte Knacker an der Tafel redet über Sex…!), erwachte an der Uni der Ehrgeiz: nämlich der, die für den Plot zwar nötigen, aber penibel versteckten Passagen selbst aufzustöbern.

Grundsätzlich scheint bis heute das Schreiben über Schäferstündchen eine schambehaftete Angelegenheit zu sein. Zumindest eben in „anspruchsvollen“ Texten (Ausnahmen bestätigen die Regel, siehe Elfriede Jelinek), welche das deutsche Feuilleton nach wie vor denjenigen „unterhaltsamer“ Natur vorzieht. Die Briten handhaben das bekanntlich etwas weniger pejorativ, sondern pragmatisch, und wenn moderne Paarungsversuchsprosa besonders missglückt ist, verleihen sie einfach den „Bad Sex in Fiction Award“.

Seit 1993 gibt es diese turnusmäßig überreichte „Goldene Himbeere“ der Buchwelt; unter den Trägern und Nominierten des schrägen Preises finden sich zumeist männliche Autoren, etwa Haruki Murakami, Philip Kerr, Norman Mailer, John Updike (ausgezeichnet für sein Lebenswerk, yay!), der Musiker Morrissey oder Ex-Premier Tony Blair. Ihre – ansonsten häufig als sehr gelungen gefeierten – Erzeugnisse strotzen vor Schlüpfrigkeiten, die geschmacklos und zugleich unfreiwillig komisch sind, nichts zur Entwicklung von Handlung und Charakteren beitragen und redundant Klischees durchnudeln.

Diese Art der Reaktion auf Geschlechtsverkehr in Romanform ist natürlich ein Paradebeispiel britischen Humors. Fast könnte man meinen, dass die Anarcho-Komiker von Monty Python hinter der Idee stecken und alsbald das berüchtigte 16-Tonnen-Gewicht auf die mies dichtenden Musensöhne niedersausen wird – in Wahrheit ist es das renommierte Magazin „Literary Review“, das genüsslich all die Gemüsemetaphern und Plumpheiten aufspießt, wenn es um geistige Ergüsse zu Erektionen und Ekstase geht.

Wie abschreckend die von Auberon Waugh, Sohn des großen Evelyn Waugh, begründete „Ehrung“ wirkt, ist nicht bekannt. Dabei warnen nicht nur angelsächsische Kritiker davor, sich die Tippfinger an zu hitzigen Textpassagen zu verbrennen. Auch hiesige Schreibratgeber wie Stephan Waldscheidt empfehlen künftigen Edelfedern, besser nicht in die Sexfalle zu tappen: Insgesamt sei es bloß ein schmaler Grat, der funktioniere, erzählte er im Mai dieses Jahres im Deutschlandfunk Kultur, denn „was für den einen Leser sexy sein mag, das törnt den anderen ab.“

Ist das Vögeln in der „ernsthaften“ Literatur also ein Parforceritt vorbei an möglichen Fettnäpfchen, formulieren die anderen, „seichteren“ Genres gezielt alles bis aufs letzte Schamhaar (sofern dieses noch existiert) aus – und finden so Schmöker am laufenden Regalmeter. Während meiner Tätigkeit als Buchhändlerin fiel mir nämlich auf, dass etwa der „Nackenbeißer“ unter Frauen eine treue Fanbase hat und fleißig in immer neuen Varianten nachbestellt wird. Bereits das Standardcovermotiv dieser Untergattung verweist auf die hinter selbigem lauernde Leidenschaft: Eine wilde Braut, der zufällig (?) das halbe Rüschenkleid von der Schulter gerutscht ist, empfängt nach rüschenkleidverrutschender (!) Gegenwehr schließlich willenlos (halb zog er sie, halb sank sie hin) die Fangzähne eines sabbernden Muskelprotzes auf ihrem Schwanenhals, was sich wahlweise als Kuss oder Knabbern interpretieren lässt. Gern gesteigert zur Vampirettenschmonzette mit garantiert echtem Fantasy-Biss.

Männer hingegen, gerade die brav und zutraulich ausschauenden, aber auch die mit den niemals blinzelnden Augen und gierig blätternden Fingern, kauften sich bei mir im Laden oft durch die endlosen Reihen der Thriller voller Triebtäter. Glauben Sie mir: Wenn typische „Psycho“-Ware auf den Tresen gepackt wird, hat die Kombi aus Augenstarre und Fingernervosität etwas latent Beunruhigendes. Die Wolf-im-Schafspelz-Optik freilich nicht minder. So ein Alarmknopf unter der Theke, der Buchhandlungen bei Bedarf zu Bankschaltern aufmotzt, könnte eine Marktlücke sein…

Harmloserer Natur, doch schweißtreibend war dafür das überwiegend feminine Interesse an der BDSM-Trilogie „Fifty Shades of Grey“ und Nachahmern: Horden von Mädels, die plötzlich ihre geheimsten Träume verwirklicht wähnten, von Christian Grey und Konsorten lustvoll ausgepeitscht werden wollten und mich, manchmal im Auftrag ihrer Boyfriends, den Megatrend kistenweise nachordern ließen! Passenderweise waren die bisherigen „Shades“-Streifen zu Valentinstag-Events hochstilisiert, und garantiert wird Teil 3 Pärchen und BFF-Rotten ebenfalls mit fesselnden Werbemaßnahmen zum Kinobesuch bewegen.

Irgendwie scheint die Farbe Grau ja ein Dauerabo auf Erotikthemen zu besitzen. Lange vor Christian Grey ging, auf ewig verknüpft mit dem noch ungeflickten Lausbubengesicht Mickey Rourkes, ein gewisser John Gray in die Pop(p)kultur ein. Allerdings zeitverzögert, denn im Unterschied zu den angetörnten Europäern fand das US-Publikum das kontroverse Buchverfilmungsdrama „9½ Wochen“ anfangs eher zum Fremdschämen.

Heutzutage kann nicht einmal mehr die ehemalige Porno-Queen Sasha Grey wirklich damit schocken, dass sie ein Schriftstück auf den Markt wirft. Spannender ist da die Frage, wie Marina Ann Hantzis zu ihrem Pseudonym kam. Pate für den Nachnamen der preisgekrönten Ex-Hardcore-Darstellerin standen nämlich stark rezipierte Texte: der einst als unzüchtig geltende Oscar-Wilde-Roman „Das Bildnis des Dorian Gray“ und die Grauschattierungen in den beiden Reports des Zoologen Alfred Charles Kinsey – wer in dessen persönliche „Twilight Zone“ fällt, ist zu einem bestimmten Grad bisexuell.

Apropos Grauschattierungen. Absolut keine darf man sich von den „Feuchtgebieten“ Charlotte Roches erwarten. Schwarz auf weiß wird ein Tabu nach dem anderen gebrochen, die Sprache ist schlicht, der Inhalt laut Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki „sehr ekelhaft“. Und trotzdem – oder je nach Perspektive: gerade deshalb – glückte Roche mit ihrer provokanten Fi(c)ktion der Bestseller des Jahres 2008. Tatsächlich hat ihre enthemmte Beschäftigung mit normwidrigem Verhalten, bei allem Sex-sells-Kalkül, durchaus etwas Erlösendes: Eigentlich schnackt hier bloß jemand über stinknormale Körperfunktionen. Über Ohrenschmalz, Hämorrhoiden, Regelblutungen, Schamhaare (Whoomp, there they are again!). Über all die Dinge eben, deren Existenz in unserer krankhaft keimfreien, auf Hochglanz retuschierten, letztlich fast alle Indizes der Sterblichkeit bekämpfenden Gesellschaft so sauber verschwiegen wird.

Womit wir bei den originellsten Tabubrechern angelangt wären, die aktuell erwerbbar sind: Sachbücher. Ja! Charmant, witzig und schlau – quasi schlichtweg wunderbar – werden dort derzeit sämtliche „Fuck-ten“ entlarvt, die (Kirchen-)Männer seit Jahrhunderten zur Kontrolle der Frau sowie weiblicher Genitalien und Sexualität benutzen.

Das Redaktionsbüro Nansen & Piccard schildert in hundert amüsanten Anekdoten, wie geil die gesamte Menschheit immer schon gewesen ist („Zehntausend Jahre Sex“). Christopher Ryan und Cacilda Jethá stellen nichts weniger als den Kern der meisten Partnerschaften infrage und beweisen, dass der Homo sapiens erst durch die Erfindung des Besitzes zum monogamen Wesen wurde („Sex – Die wahre Geschichte“). Gerhard Staghun revidiert die patriarchalischen Ansichten Sigmund Freuds und erklärt gar anti-machohaft die Klitoris zum besseren Schniedel („Der Penis-Komplex“). Liv Strömquist legt, im Comic-Stil, eine Kulturgeschichte der Vulva vor und kritisiert radikal deren Kolonialisierung durch übereifrige Herren aus Politik und Wissenschaft („Der Ursprung der Welt“). Und Luisa Stömer und Eva Wünsch beseitigen jegliches Halbwissen über Uteri und prangern den prüden, negierenden Umgang mit jener Wiege des Lebens an („Ebbe & Blut“).

Äußerst wohlwollend besprechen die Rezensenten diese unverblümten Neuerscheinungen. Wie üblich sind dagegen die Kommentare derer, die sich in den asozialen Netzwerken über ungelesene Veröffentlichungen ausheulen, voll mit Feminismus-Bashing und sonstigem Geifer. Gähn.

Die negativen Reaktionen auf „pussies out of (porn) context“ erstrecken sich aber nicht nur auf den virtuellen Raum. Strömquist, deren Titel „Der Ursprung der Welt“ nicht von ungefähr dem eines prominenten Aktgemäldes von Gustave Courbet gleicht, schilderte vor Kurzem in einem „jetzt“-Interview: „Eine Zeichnung aus dem Buch zeigt eine Eisläuferin, die einen Flecken Menstruationsblut zwischen ihren Beinen hat. Dieses Bild wurde in einer Wanderausstellung gezeigt – und in fast jeder Stadt haben sich Besucher darüber beschwert. Ich habe auch gesehen, dass jemand auf einem Poster mit der Zeichnung ein Höschen drüber gemalt hat.“ Wetten, dass sich von einer nackerten statt menstruierenden Schlittschuhdame kaum jemand belästigt gefühlt hätte…?

Doch zurück zur Belletristik. Wir fassen zusammen: Sex-Lektüre ist ein schwer zu händelndes Phänomen. Für irgendwen wird sie stets obszön denn reizend, öde denn erregend sein. Soll sie Letzteres überhaupt sein? Und falls ja: Wie löst man das als Autor, der gleichzeitig was fürs Hirn schreiben möchte – zumal die schönste Nebensache der Welt eh zu weiten Teilen im Kopf stattfindet? Technik, Glitsch und Imagination sind hier die Zutaten, die, je nach Gusto, eine leckere Buchstabensuppe zaubern oder gründlich den Appetit des Literaturfreundes verderben können.

In der jüngeren Vergangenheit hat eigentlich Nick Cave, der Chef-Melancholiker der Rockmusik, am elegantesten diese Fickmühle niedergemäht. Sein 2009 publizierter, zweiter Roman „Der Tod des Bunny Munro“ ist Roadmovie-Kunst at its best und, gemessen an Sprachgewalt und Wucht der Symbolik, so etwas wie die perfekte Mischung aus Bibel, Faustus und Nabokov. Allerdings auf jeder Seite ergänzt um eine manische Fülle an Geschlechtsorganen im Dauereinsatz. Derb ist das, politisch unkorrekt, apokalyptisch; und trotzdem zärtlich, wenn man sich auf den Handlungsstrang mit Bunny Junior konzentriert.

Okay, das Werk war für einen gewissen Award nominiert. Mir scheint indes, die Jury hat da was missverstanden. Cave schlittert nicht haarscharf an den Grenzen des guten Geschmacks entlang. Er brettert absichtlich mitten hinein ins Gefilde von Kitsch und Co., um die spezielle Tragik seiner Hauptfigur und deren Untergang glaubhaft zu machen. „Übertreiben, um anschaulich zu sein“, nannte das Heinrich K. (R.I.P.), mein Deutschlehrer der 10. Klasse. Ich sage: gallige Sozialsatire, Schätzchen!

Am Ende haben die Leute von der „Literary Review“ dennoch recht. Es kommt auf den Zweck an. Ist es für das Begreifen des Textes von Bedeutung, dass kurzweilig – heißt: vielleicht ein bisschen an den ollen Goethe denken und Ausgelutschtes sparsam dosieren – darin untergebracht ist, wer was wo und wie reinsteckt, dann rein damit. Will der Verfasser bloß protzen, vermeintliche Erwartungen befriedigen oder verstohlen die Zeichenzahl pushen, dann weg damit. Berufs- wie Freizeit-Rezipienten wissen in der Regel durchaus zu beurteilen, welcher Fall vorliegt.

Menschen haben Sex. Das ist Fakt. Und wenn sie diesen Fakt literarisch verarbeiten, verdammen, verulken oder lobpreisen, reagieren die angestrebten Leser – hoffentlich positiv.

Kristy Husz

Die Literaturwissenschaftlerin Kristy Husz bekam die Liebe zum geschriebenen wie gesprochenen Wort von ihren ungarischen Eltern in die Wiege gelegt. Sie war einige Zeit Teilhaberin einer kleinen Buchhandlung und ist heute in Franken in den Bereichen Journalismus und Event-Veranstaltung tätig.

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