Geschrieben am 9. Januar 2010 von für Litmag, Porträts / Interviews

Kontext: Ernest Mandel

Der letzte Berufsrevolutionär

Ernest Mandel war Widerständler gegen die Nazis, Berufsrevolutionär, mehr Theoretiker als Wissenschaftler und Bestsellerautor. Er verfolgte zwei große Projekte im Leben, die eng miteinander verwoben waren: Die Fortschreibung des Marxismus und den Aufbau einer revolutionären Internationale. Von Elfriede Müller

Wenn auch politisch nicht erfolglos, so erlangte er mit seinen beiden Standardwerken Marxistische Wirtschaftstheorie und Der Spätkapitalismus weit mehr Ruhm und Ehre als mit seiner unermüdlichen Tätigkeit für die IV. Internationale. Seine Schriften wurden hunderttausend Mal gekauft und erschienen in mehr als 40 Sprachen. Mandel war ein Mensch der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der sich Ende dieses Jahrhunderts immer mehr als Fremder in der Welt empfand. Sein spannendes Leben wird hier in Form einer detaillierten wissenschaftlichen Biografie von dem niederländischen Historiker Jan Willem Stutje erzählt, der als erster Zugang zu den Mandel-Archiven erhielt und zahlreiche Interviews mit Zeitgenossen und Weggefährten von Mandel führte.

Die elf Kapitel schildern nicht nur das Leben von Mandel, sondern bieten auch Einblick in die Geschichte des europäischen Judentums, Belgiens und der radikalen Linken vor und nach den Ereignissen von 1968. Mandel versuchte sein ganzes Leben lang, Theorie und Praxis zu verbinden, an allen Schauplätzen der Revolten und Revolutionen präsent zu sein und diese Erfahrungen in seine Theorie einfließen zu lassen. Einreiseverbote in mehreren Ländern, auch der Bundesrepublik, konnten ihn davon nicht abhalten. Von einem unglaublichen Optimismus getragen, lebte Mandel ein intensives, rasantes, aufreibendes und arbeitsreiches Leben, bei dem persönliche Dinge hinten angestellt wurden. Dieser Optimismus, der ihm auch half, die Nazizeit in der Illegalität, im Zuchthaus und in Lagern zu überleben, gaukelte ihm am Ende seines Lebens  Illusionen über die sozialistische Entwicklung der DDR vor.

Analyse aktueller Krisensituationen

Ernest Mandel knüpfte an der kreativen marxistischen Tradition der Zwanzigerjahre an und schrieb gegen die stalinistisch orthodoxe Marxinterpretation, die er im Dienste des Konformismus verortete. Er reintegrierte die Geschichte in Marx’ Theorie, wandte sich gegen Althussers Strukturalismus, der dem Subjekt keinen Raum mehr ließ, und analysierte aktuelle Krisensituationen. Er erörterte neue sozialistische Ökonomien wie die Kubas und diskutierte mit Che Guevara über Arbeiterselbstverwaltung versus Zentralismus.

Mandels Entwicklung wurde durch eine weltoffene, politisch-intellektuelle Familie begünstigt. Sein Vater, Henri Mandel, polnisch-jüdischer Herkunft, kannte Karl Radek und Wilhelm Pieck noch persönlich, bevor er sich in Antwerpen als Diamantenhändler niederließ und noch einige andere Berufe ausüben musste. Das Haus von Mandels Eltern stand allen politischen Flüchtlingen offen, vor allem aber den Häretikern des Stalinismus, die auch Ernests politisches Interesse weckten. Die Familie Mandel engagierte sich gemeinsam für die spanische Republik und gegen Francos Militärputsch. Bereits Ernests Vater Henri war für die Vierte Internationale tätig, wobei sein Sohn zum überzeugtesten Anhänger reifte.

Mandels Jugend war von Gefängnis, Flucht und Illegalität geprägt, aber auch von einem intellektuellen und politischen Milieu, das seine Bildung und sein Vertrauen in Menschheit und Geschichte nährte. Seine Reise durch ein halbes Dutzend Arbeitslager und Gefängnisse bestärkte seine internationalistische Position, antideutsche Haltungen waren ihm fremd, ganz im Gegenteil erhoffte er bis zu seinem Tod eine deutsche Revolution. Bereits 1946 äußerte sich Mandel zur Judenvernichtung in seinem Nachwort zu Abraham Léons Die materialistische Auffassung der Judenfrage.

Dass der Trotzkismus eine langweilige politische Strömung sei, straft Mandels Biografie Lügen. Jugendbrigaden für Jugoslawien nach Loslösung des Landes von der Sowjetunion, Waffenproduktion für die algerische Befreiungsbewegung FLN in Marokko, intime Diskussionen mit Che Guevara und Fidel Castro vor der Bürokratisierung Kubas, Beteiligung am belgischen Generalstreik von 1960/61, Freundschaften mit Roman Rosdolsky, Rudi Dutschke, Ernst Bloch und Perry Anderson, Fahrten rund um die Welt, Lektüre ohne Ende, eine publizistische Tätigkeit sondergleichen – man fragt sich, wann Mandel eigentlich geschlafen hat und wundert sich nicht, dass er in den Neunzigerjahren vor Erschöpfung zusammenbrach.

Hervorragend recherchiert und dokumentiert

Dass Mandel die wichtigste revolutionärste Tugend eigen war, die Geduld, stellte er mit seiner jahrzehntelangen Arbeit in der belgischen Sozialdemokratie unter Beweis, deren linken Flügel er vom Trotzkismus überzeugen wollte. Immerhin streikten die 700.000 belgischen Arbeiter 1960/61 für eine sozialistische Organisation ihrer Wirtschaft. Daran war Mandels unermüdliche Praxis und Theoriebildung in den belgischen Gewerkschaften nicht unschuldig.

Die politische Aktivität war für ihn der Lebensinhalt, an dem er nie zweifelte, vielleicht auch, weil er sich die Zeit zum Zweifeln nicht nahm. So schien ihm auch das Streben nach Emanzipation dem Menschen eigen. Gleichwohl schrieb er 1990 in einem seiner letzten Texte Karl Marx, die Aktualität seines Werkes: „Fünf Generationen Sozialisten und drei Generationen Arbeiter waren überzeugt (…), dass der Sozialismus möglich und notwendig war. Die heutige Generation nicht mehr.“

Mandels schärfste Analysen entstanden in den Jahren zwischen 1965 und 1980. Sie beeinflussten die Neue Linke und die europäische Studentenbewegung, vor allem die deutsche, die anders als in Frankreich und Belgien ihren Bezug zur Arbeiterbewegung durch den Nationalsozialismus verloren hatte. Sein Verschwinden wurde auch wieder nach der Finanzkrise deutlich, die bis heute keine substantielle marxistische Analyse erhielt.

Die ausführliche, hervorragend recherchierte und dokumentierte Biografie hätte ein gutes Lektorat verdient. Leider stößt man sich an manchen Begrifflichkeiten und es fehlen hin und wieder die deutschen Übersetzungen für flämische und französische Titel. Doch sollte dies kein Hinderungsgrund sein, sich mit Mandelscher Geduld vergnüglich seinem Leben, der Genese seiner neomarxistischen Theorie und seinen aufreibenden Aktivitäten zu widmen. Stutjes Biografie ist auch ein Kompendium zur Geschichte der Neuen Linken und ihres Scheiterns.

Elfriede Müller

Jan Willem Stutje: Rebell zwischen Traum und Tat. Ernest Mandel (1923-1995).
(Ernest Mandel. Rebel tussen droom en daad, 2007).
Aus dem Niederländischen von Klaus Mellenthin.
Hamburg: Vsa Verlag 2009. 480 Seiten 39,80 Euro.

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