Demokratie? Es sind nur sattelfeste Koalitionen im Angebot des Augenblicks
– Von Wolfram Schütte.
“Die Herren machen es selber, dass ihnen der arme Mann feind wird”, begründete Thomas Müntzer eine Ursache des von ihm angeführten Bauernaufstands. Unsere parlamentarischen Herren, die Parteiabgeordneten im Bund & in Hessen, machen es derzeit auch selber, dass ihnen ihr Wahl- oder Wählervolk wenn nicht sogar feind, so doch erst einmal gram ist.
Zwar erhebt sich deshalb heute weder ein Bauer noch ein Bürger zur Revolte oder gar zur Revolution. Einige Jahrhunderte & zwei Weltkriege später, wieder vereint in einer repräsentativen Demokratie, sind die politischen Umgangsformen mittlerweile in Deutschland ziviler als am Ausgang des Mittelalters. Wenn aber der arme Wähler, der alle vier Jahre aufgefordert ist, seine Regierung selbst zu wählen, dieser heute oder künftig “feind ist”, zettelt er nicht wie damals die Bauern glücklos die Revolte an, die der Adel hinterhältig & von Luther lautstark ideologisch unterstützt, blutigst niederschlug, sondern er bleibt einfach zuhause, wenn er seinen Wahlzettel abgeben sollte. Und die Gewählten lamentieren dann scheinheilig über das wahlmüde Volk, dem es zunehmend wurscht ist, wer die Regierungsgeschäfte führt.
Nicht verwunderlich ist´s aber, wenn die repräsentative Demokratie von den gewählten Parteien nur noch derart verstanden wird, dass das Parlament, bevor es zu jenem repräsentativen Spiegel der widerstreitenden Volksmeinungen werden könnte, welche das numerische Ergebnis der Wahlen sind, erst einmal pazifisiert, bzw. mundtot gemacht wird. Und zwar durch sogenannten Konsultationen & anschließende Koalitionsverhandlungen, aus denen dann eine jeweils parlamentarisch “sattelfeste” Regierung hervorgehen soll.
Deren Sattelfestigkeit wird in einem “Koalitionsvertrag” festgeschrieben, der teils im öffentlichen Schaulauf, teils in Geheimverhandlungen wochenlang ausgeschnapst worden ist. Die “Medien” begleiten dieses angeblich “spannende” Szenario der Regierungsbildung als einen gewundenen Prozess, bei dem die jeweiligen Großkopfeten sich als Kämpfer für ihre politischen Sachen inszenieren – um dann “den Kompromiss”, bei dem sie schließlich landen, als höchste & zentrale demokratische Tugend sich schulterklopfend gegenseitig zu bestätigen.
Nun ist zwar sowohl der politische Kompromiss als auch die Koalition von Parteien durchaus eine demokratische Tugend, ohne die die parlamentarische Demokratie als staatspolitisches Modell nicht funktionieren würde. Aber dass die als entschiedenste Gegner aufgetretenen & gewählten Parteien ausgerechnet koalieren müssen (nur um eine Minderheitsregierung zu meiden) & die Angst vor einer notfalls & jeweils parlamentarisch zu erringenden Regierungsfähigkeit, die die Parteien angeblich dazu zwingt, de facto aber eher dazu verführt, sich vorweg “sattelfest” zu machen: das, meine Damen & Herren, lässt den angeblichen Souverän – das Wahlvolk – den vorparlamentarischen Ritualen “feind” werden.
Sofern der Souverän nicht bereits selbst an die absolute Notwendigkeit einer “sattelfesten” Regierung glaubt, die ihm ja nahezu einstimmig immer wieder von “den Medien” als conditio sine qua non aufgeschwätzt worden ist. Als seien die Parteien geradezu gezwungen, den komplex ausgefallenen Wählerwillen reduktionslistig & koste es was es wolle zu “korrigieren”. Es gibt immer mehr Wähler, die solches “corriger la fortune” als nachträgliche Bevormundung durch die Parteien empfinden (& ihre persönliche Souveränität der Wahl durch deren Souveränität, sich darüber hinwegzusetzen, beschnitten sehen).
Denn natürlich ginge es auch anders – z.B. sowohl im Bund wie in Hessen, wo auch demnächst ausgerechnet jene miteinander koalieren wollen, die jeweils aufgrund ihrer gegenseitigen politischen Abscheu gewählt worden waren & sich zum Ziel gesetzt hatten, einander von der Regierungsmacht zu trennen, die sie nun aber gemeinsam inne haben wollen.
Dass die SPD einen Mitgliederentscheid über das ausgehandelte Koalitionsabkommen mit den beiden C-Parteien erstmals eingeführt hat, ist nur unter anderem ein “demokratischeres” Ritual als die bisherigen “Absegnungen“ durch die Parteigremien. Indem sich die Verhandlungsführer in die “Geiselhaft” der SPD-Mitglieder begaben, haben sie einerseits geglaubt, die C-Parteien zu mehr Kompromissen erpressen zu können, die ihnen nicht ohne diese Drohung, die Koalition scheitern lassen zu können, von den C-Parteien, gegeben worden wären; andererseits haben sie zugleich ihrerseits aber die SPD-Mitglieder in “Geiselhaft” genommen: zum einen, indem sie diese damit erpressen, mit ihrem Votum das Verhandlungsergebnis zu billigen & damit auf eine denkbar breite Zustimmungsbasis zu stellen, andernfalls die Verhandlungsdelegation düpiert & die Partei “führungslos” dastehen würde.
Also gilt auch für diese scheinbar demokratischere Neuerung der SPD-Spitze die Merkelsche “Alternativlosigkeit”.
Nach den jüngsten “Abstrafungen” bei den IG-Metall-Wahlen, wo die neue Spitze von den verärgerten Delegierten mit nur 75 % gewählt wurde, könnte es jedoch so scheinen, dass auch die SPD-Basis den jedoch de facto unvorstellbaren, ja geradezu tollkühnen Mut besäße, im Schutz der Anonymität des Wählens ihren Unmut über die eilfertig zur Steigbügelhalterei der C-Kanzlerin bereiten Großkopfeten mehrheitlich zu artikulieren.
Da wird jetzt sogar die SZ nervös & leitartikelt gegen eine solche doch bloß theoretische Alternative. Denn nicht nur die konservativen, sondern so gut wie alle deutschen Medien aber würden diese heute schon unvorstellbare grunddemokratische Entscheidung als eine katastrophale politische Dummheit verdammen, sondern gar als etwas gewissermaßen Staatsfeindliches (“wo die sich doch so angestrengt & wochenlang miteinander gerungen haben!”).
Wenn man sich diese Möglichkeit eines demokratisch herbeigeführten Neins & seine Folgen einmal probeweise vor Augen stellt, wird einem schlagartig klar, wie weit wir uns schon von den Voraussetzungen der repräsentativen Demokratie entfernt haben. Wie sehr wir – aus Sicherheits- & Effektivitätsdenken oder aus parlamentarischer Faulheit – jedes unvorhersehbare parlamentarische Verhalten, mithin die Lebendigkeit des Parlamentarismus & dessen repräsentative Adäquanz zum Willen des Wahlvolks verabscheuen: von den Gewählten ebenso wie von den Wählern.
Im alten Rom war man da vor sich selber aufrichtiger: es gab Zeiten, für die man vorübergehend einen Diktator ernannte, der ohne die Gefahr einer Opposition regieren konnte. Wir nennen es Große Koalition, bzw. bringen Extreme zusammen, um “sattelfest” durchregieren & sich keinem Risiko oder einer argumentativen, transparenten parlamentarischen Debatte aussetzen zu müssen. Wahrscheinlich wäre aber das gewählte Personal & dessen freiwillige Knebelung durch “Fraktionszwänge”, Lobbyismus u.ä, gar nicht mehr dazu in der Lage.
Wolfram Schütte