Befreiungsfatwa
– Von Wolfram Schütte.
Carolin Emcke meinte kürzlich in ihrer samstäglichen SZ-Kolumne: „Es wird Zeit, Edward Snowden nicht länger anzuklagen, sondern ihn zurückzuholen in eine Gemeinschaft, ob in Amerika oder Europa, die ihn für die Diskussion über ihre Rechte und Werte immer noch braucht“.
Die deutsche Publizistin ist beileibe nicht die einzige auf der Welt, die den US-Whistleblower zwar aus dem befristeten Exil in Putins Rußland befreit, aber auch nicht in den Fängen der US-Behörden sehen möchte. So grotesk ist die einst bipolar gewesene Welt im Augenblicks, dass alle, die Snowden hochschätzen, dafür dankbar sein müssen, dass ihm das heutige Rußland eine Zuflucht gewährt – wenn er auch seine Freiheit & sein Leib & Leben nur seiner Instrumentalisierung als symbolische Geisel Putins verdankt.
Die „Geisel“ ist für Putin, der sein weltweites Ansehen damit auffrischen möchte, umso wertvoller, als Edward Snowden erkennbar kein Spion Rußlands war, sondern gewissermaßen der Spion der US-Spione & deren insgeheimen illegalen, i.e. gesetzesbrecherischen Aktivitäten. Die weltpolitische moralische Situation, die in Snowdens russischem Exil sich verdichtet, ist denkbar paradox. In einem individuellen Akt moralischen Mutes hatte er den demokratischen Gesellschaften verraten, will sagen: de facto vor Augen geführt, dass ihre Demokratie subversiv von eigenen Institutionen unterminiert wird.
Statt den einzigartig mutigen Boten des nachhaltig wirksamen Unheils zu ehren, wird er aber wie ein gemeiner Denunziant verfolgt, der um Leib, Leben & Freiheit fürchten muss – als habe er „aus niederen Motiven“ ein ehrenhaftes & notwendiges Staatsgeheimnis verraten. (Ein unehrenhaftes Geheimnis des NSA hat er offenbar gemacht, wenn man z.B. betrachtet, wie angstgelähmt, unterwürfig & willfährig sich die deutsche Bundesregierung in der Affäre verhält, deren Opfer sie u.a. ja auch ist.)
Der Pate der ganz & gar nicht „lupenreinen“ russischen Demokratie kann dem US-Bürger Schutz vor seinen US-Verfolgern bieten, weil sein Staat autoritär genug ist, um die Operation von US-Geheimdiensten auf seinem Territorium (bislang zumindest) zu verhindern – etwas, das sich die USA nur von ehemaligen oder fortdauernd kommunistischen Regimen (wie in China oder Nordkorea) bieten lassen. Die Exekution Bin Ladens in Pakistan oder die Drohnentötungen auf der arabischen Halbinsel belegen die grenzüberschreitenden Aktivitäten der US-Militärs bei der physischen Eliminierung markierter Feinde der USA, wenn ihren Mordbegehren keine reale Staatsmacht entgegensteht. Wobei ja das an- & vorgeblich insgeheim in Gang gesetzte Tötungsunternehmen gegen den saudischen „Geronimo“ mitnichten dem intelligenten Spürsinn & dem kühnen Wagemut des US-Geheimdienstes zu verdanken war, sondern aufgrund eines bezahlten Verrats samt verschwiegener pakistanischer Duldung erst möglich wurde – wie der US-Journalist Seymour Hirsch kürzlich enthüllt hat.
Ich wundere mich schon geraume Zeit, dass keiner der noch aktiven Intellektuellen der Welt auf die Idee kommt, sich über alle Kontinente hinweg mit seinesgleichen zusammenzutun, um den Whistleblower Edward Snowden als freien Menschen & schützenswerten Helden des „zivilen Ungehorsams“ (gegenüber dem illegalen, die Allgemeinheit bedrohenden Übermut der Geheimdienste) in unsere Welt-Gemeinschaft „zurückzuholen“, wie das Carolin Emcke sich wünscht. Das Internet bietet doch für eine solche moralische Solidarisierung der besten & qualifiziertesten Köpfe unter uns die schnellsten, weitreichendsten, umfassendsten Möglichkeiten der Kontaktaufnahme & Verbreitung.
Als 1989 der fanatische iranische Revolutionsführer Chomeini eine „Fatwa“ gegen den Romancier Salman Rushdie aussprach, haben die Schriftsteller auf der ganzen Welt über diese Morddrohung gegen einen von ihnen noch erbittert untereinander gestritten. Die überwiegende Mehrzahl stand auf der Seite Rushdies & bekundete es. Und selbst unter jenen, die Rushdies Roman „Satanische Verse“ & den islamkritischen Impetus des Apostaten Rushdie nicht schätzten, lehnten die meisten das Tötungsgebot Chomeinis ab.
Warum hat bisher keiner der herausragenden Intellektuellen der Welt eine „Befreiungsfatwa“ gestartet, die von den USA fordert, dass sie Snowdens Mut zur (verheimlichten) Wahrheit endlich anerkennt? Warum ergreift keiner die Initiative zum Handeln: z. B. Habermas, Sloterdijk, Zizek, Bernard-Henry Lévy, Pamuk, Rushdie, Jerofejew, Ai Weiwei, Vargas Llosa, Amos Oz – um nur einige zu nennen, die bestimmt in Edward Snowden den einsamen & mutigen Helden unserer Zeit sehen, dem wir alle zu Dank verpflichtet sind?
Liegt es etwa daran, dass nicht eine der üblichen „verdächtigen Institutionen“ autoritär-diktatorischer Staaten von ihm als Täter & Bedrohung aufgezeigt, sondern der mächtigste Geheimdienst des mächtigsten Staates der Erde öffentlich angezeigt wurde & sich einzig durch Snowdens Offenbarung weltöffentlich blamiert sieht? Gibt es aber unter den herausragenden Köpfen „in aller Herren Länder“ keinen mehr, der willens ist & Sinn darin sieht, den beispiellosen Mut der einsamen Tat Edward Snowdens öffentlich nicht nur zu rühmen, sondern sich (zusammen mit anderen seiner Reputation) zu ihm zu bekennen? Ist eine „Befreiungsfatwa“ für Edward Snowden undenkbar in unserer schönen neuen Welt der angeblichen Alternativlosigkeit? Gibt es niemanden auf der Welt mehr, der sich im Blick auf Snowdens unglückliche derzeitige Lebens-Situation an Voltaire & dessen jahrelang europaweit geführten Kampf zur Rehabilitation des zu Unrecht als Mörder hingerichteten Jean Calas erinnert? Gib es keinen unter den Schriftstellern, Philosophen, Geistes-& Naturwissenschaftlern oder Nobelpreisträgern, der heute zum „Fall Snowden“ etwa so denkt & empfindet wie Voltaire es damals mit diesen Worten im „Fall Calas“ sich sagte: „Ich glaube, daß es im Interesse der Menschheit liegt, sich über diesen Fall Klarheit zu verschaffen, der, wie man es dreht und wendet, den Höhepunkt des allerschlimmsten Fanatismus darstellt. Wer diese Vorkommnisse mit Gleichmut erträgt, verläßt den Boden der Menschlichkeit“?
Haben wir etwa schon längst „den Boden der Menschlichkeit“ verlassen, weil wir kein „moralisches Gesetz“ (Kant) mehr anerkennen & „die Interessen der Menschheit“ uns nur noch Schall & Rauch sind? Und sind wir für uns selbst: nichts mehr?
Wolfram Schütte
Foto Snowden: Snapshot des Films Prism von Laura Poitras / Praxis Films, Wikimedia Commons.