Der Weltraum, unendliche Weiten. Wie oft haben wir uns beim Nachdenken über Zeit und Raum, Entfernungen und Größen und Astrophysik schon das Gehirn verrenkt. Diese Zeiten sind nun vorbei. In der neuen Kolumne „Lichtjahre später” wird uns Autor und Astronom Aleks Scholz regelmäßig alles erklären, was wir wissen müssen: Bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter! Heute:
Projekt Marvin
Im Leben jedes Astronomen kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem er herausfindet, dass er Lieblingsobjekte hat. Ein Lieblingsobjekt kann alles Mögliche sein, ein Stern, eine Galaxie, ein Brauner Zwerg, ein Planet, ein explodierender Weißer Zwerg, ein leuchtender Nebel, ein Quasar, eine Dunkelwolke, ein Sternhaufen oder ein rätselhafter grüner Fleck. Der Astronom verbringt viele Wochen und Monate mit seinem Lieblingsobjekt, mehr Zeit als mit der Familie oder den Freunden, er ist besessen von seinem Objekt, er kennt jedes Photon, das jemals vom Lieblingsobjekt abgestrahlt und von irgendeinem Menschen registriert wurde, er weiß alles auswendig, was je über das Lieblingsobjekt geschrieben wurde.
Eines meiner Lieblingsobjekte – es besteht keinen Grund, nur eines zu haben, Polygamie ist erlaubt – heißt IRAS04325+2502. Es gab eine Zeit, in denen Lieblingsobjekte richtige Namen hatten, heute kriegen sie maximal eine Art Postleitzahl, die sich kein Mensch merken kann, es sei denn, man ist besessen. IRAS04325+2502, vielleicht sollten wir ihm für den Moment einen vernünftigen Namen geben, zum Beispiel „Marvin”, ist ein System aus mehreren Sternen, die in einer kleinen Dunkelwolke eingebettet sind. Die Wolke wurde bereits 1962 entdeckt, als kleiner schwarzer Fleck im Sternbild Stier. Marvins Sterne – es sind mindestens zwei, eventuell auch drei – stecken so tief im Staub der Wolke, dass ihr Licht stark gerötet ist, wie das Licht der untergehenden Sonne. Deshalb sieht man Marvin überhaupt nur im Infraroten, einem Spektralbereich, der dem menschlichen Auge verschlossen bleibt. Ohne Teleskope und empfindliche Infrarotkameras wüssten wir nichts von seiner Existenz.
Marvins Sterne sind brandneu, vielleicht eine halbe Million Jahre alt. Das klingt jetzt nicht so neu, aber viel früher kriegt man Sterne ohnehin nicht zu sehen, weil sie sich – wie Marvin auch – im Innern der Wolken befinden, in denen sie geboren werden. Sterne entstehen, weil diese Wolken instabil sind. Zwei Superkräfte – die Wärme der Wolke und ihre Schwerkraft – ringen um die Vorherrschaft, beide zerstören die Wolke, aber auf gegensätzliche Art: Wärme treibt die Wolke auseinander, wie die Rauchschwaden über dem Schornstein oder den Wasserdampf über dem Kochtopf, Schwerkraft dagegen bringt die Wolke zum Kollaps. Immer dann, wenn die Schwerkraft gewinnt, entstehen im Inneren der Wolke Zonen, in denen sich Gas verdichtet und Klumpen bildet, auf die anschließend weiteres Gas aus der Umgebung herabregnet – ein Protostern. All das läuft innerhalb von ein paar tausend Jahren ab, in astronomischen Maßstäben rasend schnell und für uns weitgehend unsichtbar. Anschließend beruhigt sich die Lage ein wenig, der junge Stern wächst stetig weiter, die Wolke zerfällt allmählich, bis der Stern sichtbar wird – ein epochaler Moment, den Marvin gerade erreicht hat. Willkommen in der Welt.
Im Sommer 2009 hatte ich es geschafft. Durch hartes Verhandeln, jahrelange Arbeit und etwas Glück war ich in Besitz einer umfassenden Sammlung von Bildern geraten, die Marvin in allen Farben des elektromagnetischen Spektrums zeigen, aufgenommen mit den besten Fernrohren der Welt. Dazu gehörten nicht nur hochaufgelöste Infrarotaufnahmen, auf denen man die Sterne und die von ihnen bestrahlten umliegenden Strukturen sehen kann, sondern auch solche, die den warmen Staub zeigen, der von Marvins Sternen aufgeheizt wird. Nie zuvor in der Geschichte des Universums hatte ein Mensch so guten Einblick in das, was im Inneren von Marvin abläuft.
An diesem Punkt angekommen, könnte man eigentlich aufhören. Ich weiß jetzt, wie Marvin aussieht und wo er sich befindet. In den nächsten paar tausend Jahren wird er sich nicht nennenswert verändern. Ich könnte die Bilder noch ein wenig mit Photoshop verschönern, auf Facebook hochladen und die Kollegen würden sie liken. Jeder Fotograf, jeder Pfadfinder, sogar meine Eltern wären zufrieden mit mir. My work is done.
Aber leider geht es so nicht mehr. Viele Kollegen im 19. Jahrhundert haben nichts anderes gemacht, als durch Fernrohre zu sehen und aufzuschreiben, wie es da draußen aussieht. Maximal noch eine Skizze dazu, oder ein wenig später eine richtige fotografische Aufnahme. Heute sind die Spielregeln anders. An irgendeiner Stelle hat sich der Konsens durchgesetzt, dass gute Wissenschaft nicht nur beschreibend ist, sondern auch erklärend. Und es sollte nicht irgendeine Art Erklärung sein, sondern bitte eine, die in das physikalische Weltbild passt, was das Spektrum der Möglichkeiten erheblich einschränkt. Das ist nicht unbedingt besser oder schlechter als Bilder bei Facebook zeigen. Aber trotzdem muss eine Erklärung her, das verlangen die Regeln der Zunft. Und meine Neugier.
Was Erklärungen angeht, ist der Lieblingsstern Fluch und Segen gleichzeitig. Auf der einen Seite birgt er das Risiko, dass man ihn zu sehr ins Herz schließt und anfängt zu glauben, alle Sterne seien so wie er. Man läuft Gefahr, auf unzulässige Art zu verallgemeinern, der beliebte N=1-Fehlschluss. Vielleicht ist Marvin ein Sonderling, ein Freak, ein Stern, der sich auf irgendeine Art von allen anderen unterscheidet. Das wäre zwar auch interessant, Freaks sind immer interessant, aber wir würden es erst merken, wenn wir uns vom Lieblingsstern abgewendet und eine größere Stichprobe angesehen haben. Deshalb ist die Beziehung zum Lieblingsstern fragil; mit einem Auge schielt man immer auf die große Masse, um sicherzustellen, dass man keinem bizarren Außenseiter verfallen ist. Außerdem läuft man natürlich Gefahr, sich zum Gespött der Kollegen zu machen. – “Da kommt Aleks, der über nichts anderes reden kann als über IRAS04325+2502.”
Auf der anderen Seite hat man keine Wahl, man kann nicht alles über jeden Stern herausfinden, man kann nicht den gesamten Himmel jede Sekunde im Auge behalten (jedenfalls noch nicht). Selbst wenn man sich auf die paar tausend jungen Sterne beschränkt, die es in der näheren Umgebung von, sagen wir, 1000 Lichtjahren gibt, sind es immer noch zu viele. Die meisten von ihnen wird man nur flüchtig betrachten können, sie werden irgendwo in der Statistik auftauchen, aber ernsthaft über sie nachdenken wird niemand. Wir brauchen Lieblingssterne als repräsentative Vertreter des Universums, um zu überprüfen, ob die vielen Annahmen, die wir im Umgang mit Himmelskörpern ständig machen, sinnvoll sind oder nicht, um unsere Vorstellungen zu kalibrieren.
Unsere Vorstellungen von Protosternen sehen ungefähr wie folgt aus: Der neue Stern steht im Zentrum einer sich drehenden Scheibe aus Gas und Staub, ein gigantischer Wirbel, aus dem Materie auf den Stern hinabregnet, und aus dem eventuell irgendwann Planeten entstehen. Umgeben ist das alles von einer Hülle, aus der wiederum Material auf die Scheibe regnet. Zudem bläst das junge Ding Materie aus wie eine Art Dampfstrahler, ein Phänomen, das wir nicht wirklich verstehen, das aber entscheidend ist für die frühe Entwicklung von Sternen und ihrer Umgebung.
Wenn man sich das Bild von Marvin genau ansieht, kann man manche dieser Features tatsächlich sehen: Der helle Fleck unterhalb der Bildmitte ist der größte Stern in der Wolke, der Mittelpunkt des Systems. Der Fleck sieht asymmetrisch aus, weil er nicht nur den Stern, sondern auch die Scheibe enthält. Die seltsamen Klauen direkt oberhalb des Sterns sind Teile der Hülle, die vom Stern angestrahlt werden. Genauer: Es handelt sich um die Flanken eines Hohlraums in der Hülle, ein Hohlraum, den der Stern mit Hilfe seines eingebauten Hochdruckstrahlers selbst erzeugt hat.
Aber das Bild zeigt auch, dass Marvin nicht einfach nur Stern plus Scheibe plus Hülle ist. Zum einen ist dort ganz offensichtlich noch ein Stern, entdeckt im Jahr 1999 mit dem Hubble-Weltraumteleskop von amerikanischen Kollegen. Er ist zwar nicht besonders hell, aber doch eindeutig zu sehen, und vom ersten Stern gut 1000 Astronomische Einheiten entfernt – nur tausend Mal so weit wie die Erde von der Sonne, ein Katzensprung. Und auch der zweite Stern verfügt über seine eigene Scheibe, seine eigene Hülle und seinen eigenen Dampfstrahler. Beide Sterne müssen zusammen aus derselben Wolke entstanden sein, daran besteht wenig Zweifel. Zum anderen sind da offensichtlich Dinge zwischen Stern A und Stern B, eine S-förmige Lichtbrücke, die beide Sterne verbindet. Außerdem ist die Wolke, in der sich beide Sterne befinden, nicht einfach nur eine Wolke, sondern zeigt komplexe Strukturen (nicht auf diesem Bild zu sehen, aber auf anderen): einen Knoten, einen diffusen hellen Fleck, einen weiteren dunklen Fleck und einen seltsamen dunklen Streifen.
Sternentstehung ist offenbar kein besonders ordentlicher Vorgang. Das schöne Bild, das man in manchen Lehrbüchern findet, von der Wolke, die sauber in sich zusammenstürzt und im Zentrum einen Stern bildet, ist eine starke Vereinfachung. Sterne entstehen nicht einzeln, sondern in Gruppen, sie interagieren miteinander, sie sammeln Materie aus der umgebenden Wolke auf und zerschießen die Wolke gleichzeitig mit ihren Ausströmungen, alles keine neuen Erkenntnisse, aber bei Marvin kann man diese Vorgänge sehen. Wie es überhaupt dazu kommt, dass aus der Wolke nicht ein, sondern zwei eng benachbarte Klumpen entstehen, ist eine offene Frage. Entweder hat es damit zu tun, dass sich die gesamte Struktur dreht und aufgrund der Fliehkraft irgendwann in zwei Teile zerbricht, oder aber – im Falle von Marvin wahrscheinlicher – es sind Turbulenzen in der Wolke, die zwei Klumpen erzeugen statt einem.
Es hat eine Weile gedauert, alle Details in den Bildern von Marvin einigermaßen plausibel zu deuten. Mehrere Monate hatte ich nichts anderes im Kopf als Marvin. Man muss sich klarmachen, dass die Himmelskugel wie eine große Projektionsfläche wirkt – wir sehen eine zweidimensionale Projektion von Marvin, der in Wirklichkeit natürlich dreidimensional ist. Die einzelnen Features haben eine Tiefendimension, die man sich irgendwie dazudenken muss. Irgendwann im September 2009 fand eine Transformation statt, ich sah nicht mehr nur Bilder, ich begann, eine Landschaft zu sehen, ich navigierte durch Marvins merkwürdige Umgebung, ich war in Marvin. In meinem Kopf befindet sich jetzt eine kollabierende Gaswolke mit zwei eingebetteten Protosternen. Man könnte meinen, eine ganz ähnliche Wolke befände sich in 500 Lichtjahren Entfernung im Sternbild Stier, aber eigentlich brauche ich diese erfahrungsunabhängige „Wolke an sich” nicht mehr. Wichtig ist nur, dass die Wolke in meiner Vorstellung keine physikalischen Regeln verletzt und außerdem einwandfrei zu den Bildern passt, die das Teleskop mir geschickt hat.
Wenn ich heute an junge Sterne denke, dann fällt mir als erstes Marvin ein, mit seinen komplizierten Streifen, Krallen und Flecken. Der Lieblingsstern hat seine Schuldigkeit getan.
Aleks Scholz
Die gesamte Geschichte von Marvin ist hier nachzulesen, mehr Bilder von Marvin finden Sie hier.
Aleks Scholz, geboren 1975, ist Astronom und Schroedinger Fellow am „Institute for Advanced Studies“ in Dublin, Irland. Er befasst sich vorwiegend mit der Entstehung und der Entwicklung von Gelben, Roten und Braunen Zwergen. Foto: Ira Struebel. Aleks Scholz bei Google+.