Geschrieben am 18. April 2012 von für Kolumnen und Themen, Lichtjahre später, Litmag

Kolumne: Aleks Scholz: Lichtjahre später (4)

Der Weltraum, unendliche Weiten. Wie oft haben wir uns beim Nachdenken über Zeit und Raum, Entfernungen und Größen und Astrophysik schon das Gehirn verrenkt. Diese Zeiten sind nun vorbei. In der neuen Kolumne „Lichtjahre später” wird uns Autor und Astronom Aleks Scholz regelmäßig alles erklären, was wir wissen müssen: Bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter! Heute:

Aleks Scholz. Foto: Ira Struebel

Von Braunen und anderen Zwergen

Wer bei Tageslicht um sich sieht, kann sie sehen, die gewaltige Diskrepanz zwischen Stern und Planet. Der Planet, auf dem wir leben, verfügt über Bäume, Felder, flüssiges Wasser, angenehme Temperaturen (jedenfalls in vielen Fällen), eine Atmosphäre mit halbwegs lebenserhaltenden Gasen, und festen Boden unter den Füßen, damit man nicht in ihn, den Planeten, hineinfällt. Nichts dergleichen gibt es auf unserem Stern, der Sonne. Eine einfache Schätzung ergibt, dass an ihrer Oberfläche Temperaturen von 6000 Grad herrschen müssen, eine lebensfeindliches Höllenfeuer, das nur deshalb einen so guten Ruf hat, weil es 150 Millionen Kilometer weit weg ist.

Am Nachthimmel werden noch mehr Unterschiede zwischen Sternen und Planeten deutlich, die einen stehen scheinbar still und bewegen sich nur, weil sich die Erde bewegt, während die anderen, wörtlich „Wanderer“ genannt, auf komplizierten Bahnen herumlaufen, eine Folge ihrer Wanderung um die Sonne. Seit Urzeiten ist bekannt, dass die vielen leuchtenden Punkte am Himmel entweder das eine oder das andere sind, entweder Stern oder Planet. Dazwischen klafft eine tiefe Schlucht.

Die Astronomie des 20. Jahrhundert hat diese Schlucht zunächst nicht gerade verkleinert. Wir wissen heute, dass Sterne in ihrem Inneren Energie erzeugen, sehr viel Energie, und zwar durch Fusionsreaktionen, in denen sich Atomkerne unter großer Hitze und großem Druck vereinigen. Diesen Reaktionen ist es zu verdanken, dass Sterne wie die Sonne zehn Milliarden Jahre lang einigermaßen stabil leuchten. Planeten können das nicht. Wir wissen außerdem, dass Sterne anders entstehen als Planeten. Zwar ist jeweils Newtons Gravitation die treibende Kraft, aber in einem Fall stürzen Fragmente von Gaswolken in sich zusammen, im anderen Fall staubige, scheibenförmige Nebel, die junge Sterne umgeben. Planeten entstehen aus den Abfällen der Fabriken, in denen Sterne entstehen.

Noch mehr Unterschiede: Zwar drehen sich sowohl Sterne als auch Planeten um ihre eigenen Achsen, aber Sterne wie die Sonne tun dies langsam (ein Tag auf der Sonne dauert einen knappen Monat), Planeten hingegen schnell. Sterne verfügen über extrem heiße Atmosphären, in denen fulminante Strahlungsstürme stattfinden, Planeten kontern mit Wolken, aus denen es manchmal Flüssigkeiten regnet. Sterne bestehen ausschließlich aus Gas, Planeten dagegen können fest, flüssig oder gasförmig sein. Und schließlich ein knallhartes Kriterium: Sterne sind deutlich schwerer als Planeten, weil man, um die erwähnten Fusionsreaktionen zu zünden, viel Masse braucht. Der kleinste Stern, das kleinste Ding, das dauerhaft selbstleuchtend ist, wiegt 80mal so viel wie Jupiter, der größte Planet des Sonnensystems.

Aber natürlich kümmert sich die Natur nicht darum, welche Bezeichnungen und Nomenklaturen wir irgendwelchen Lichtpunkten überstülpen. Stattdessen zeigt sie uns im Oktober 1995, dass der Graben zwischen Planeten und Sternen ein menschengemachter ist; nichts dergleichen existiert da draußen, aller jahrtausendelangen Erfahrung zum Trotz. Das erste Beweisstück, dass die Natur mit Hilfe ihrer Handlanger Nakajima, Rebolo, und Oppenheimer vorlegt, ist ein Himmelsobjekt mit dem seltsamen Namen Gliese 229 B im Sternbild Hase, so benannt, weil es den Zwergstern Gliese 229 umkreist, der wiederum so heißt, weil er eine Nummer im Sternenkatalog von Wilhelm Gliese hat. Gliese 229 B ist zur allgemeinen Verblüffung weder Stern noch Planet. Seine Oberfläche ist 1000 Grad warm – kälter als jeder Stern, aber deutlich wärmer als alle Planeten des Sonnensystems. Der Grund: Er ist 20 Mal schwerer als Jupiter, und konnte damit für ein paar Millionen Jahre selbst leuchten, danach aber nicht mehr. What in God’s name, möchte man rufen. Aber da ist er nun mal und geht nicht mehr weg, der seltsame Hybrid. Gliese 229 B ist einer der ersten entdeckten Braunen Zwerge, wie man die Gestalten nennt – die Einführung einer neuen Klasse mit einem schillernden Namen seit jeher ein probates Mittel, um darüber hinwegzukommen, dass man eigentlich nicht weiß, WAS man da gefunden hat.

Nur fünf Jahre später – inzwischen waren ein paar Dutzend Braune Zwerge bekannt – fanden zwei Forschergruppen in Spanien und England Objekte, die nur fünf bis zehn Mal so schwer sind wie Jupiter, und damit nach allem, was wir über die Physik im Inneren von Himmelskörpern wissen, genauso fusionsunfähig wie die Erde und alle anderen Planeten. Sie leuchten lediglich, weil sie kurz nach ihrer Geburt noch heiß sind. Dazu sind mittlerweile Planeten bekannt, die deutlich schwerer sind als Jupiter, zwar nicht in unserem eigenen Sonnensystem, aber in anderen. Würde man so einen massiven Planeten neben einen der neuen Braunen Zwerge halten, es wäre kein Unterschied erkennbar – abgesehen davon, dass der eine einen Stern umkreist, der andere jedoch freifliegend im All unterwegs ist.

„Free-floating planets“ nannte die spanische Gruppe folgerichtig ihre planetenähnlichen Braunen Zwerge. Ein Affront für diejenigen, die aus kulturellen, historischen oder physikalischen Gründen das P-Wort gern reservieren würden für die altbekannten Planeten. Unabhängig von diesen reviermarkierenden Argumenten ist die Bezeichnung Planet für die Free-Floaters irreführend, denn sie suggeriert, dass wir wissen, wovon wir reden. Sie evoziert das Bild von einem blauen, lebendigen Planeten, der aus seinem Sonnensystem herauskatapultiert wird, vielleicht in einer spektakulären Kollision mit einem anderen Planeten, und infolgedessen zu ewigem Streunen in Kälte und Dunkelheit verdammt ist.

Bild: Der Braune Zwerg 2M1207, gesehen mit einem Teleskop auf dem chilenischen Cerro Tololo im März 2012. Den grünen Pfeil liefert das Universum nicht mit. (Foto: Aleks Scholz / SMARTS-Kollaboration)

Dieses romantische Szenario ist zweifellos eine Möglichkeit, wie Braune Zwerge entstehen können, aber nicht die einzige. Wahrscheinlicher ist, dass sich die meisten von ihnen so bilden wie Sterne, sie kondensieren aus gigantischen Gaswolken, vielleicht mit ein paar Zusatzschikanen, die wir noch nicht genau verstehen. Die Fachliteratur ist mittlerweile voll mit Vorschlägen für Umstände, die Braune Zwerge hervorbringen könnten oder auch nicht. Solange wir nicht mehr über den Ursprung von Braunen Zwergen wissen, sollten wir uns davor hüten, sie per Nomenklatur in eine Schublade („verhinderter Stern“ oder „freifliegender Planet“) zu stecken. Letztlich dienen diese voreiligen Einordnungen nur zur Verschleierung des Unbekannten, ein Heftpflaster, das die Wunde notdürftig abdeckt. So gesehen kann man Gefallen finden an der Bezeichnung „Brauner Zwerg“. Sie klingt ausreichend mysteriös, um unseren Kenntnisstand angemessen zu reflektieren und keine voreiligen Bilder heraufzubeschwören. Gleichzeitig impliziert sie für Fachleute eine Verwandtschaft zu roten und gelben Zwergsternen, zu denen unter anderem unsere Sonne gehört. Ähnlich diplomatisch verhält sich der Neologismus „Planemo“ (kurz für „planetary mass objects“), der seit einigen Jahren für freifliegende Objekte ohne Fusionsreaktionen in Gebrauch ist.

Was Planemos angeht, befinden wir uns noch im Stadium des Jagen und Sammelns. In langjähriger umständlicher Handarbeit gilt es, die dunklen Gestalten aufzuspüren, zu katalogisieren und zu zählen – eine verdienstvolle, wenn auch mühsame Aufgabe. Während an anderen Stellen noch gesammelt und ausgewertet wird, publizieren ungeduldigere Naturen die ersten wagemutigen Extrapolationen: Es gebe eventuell so viel Planemos wie Sterne in der Milchstraße, konnte man letztes Jahr lesen, vielleicht sogar sehr viel mehr, behauptete eine andere Studie im Januar diesen Jahres. Das Suchprojekt „SONYC“ (kurz für: „Substellar Objects in Nearby Young Clusters“) mit dem japanischen Superteleskop Subaru zeigt ein anderes Bild – nur etwa einen Planemo auf 20 bis 50 Sterne. Andererseits ist SONYC nicht in der Lage, Objekte zu finden, die weniger als fünf Mal so schwer sind wie Jupiter, weil das riesige Teleskop immer noch zu klein ist. Möglich, dass es Milliarden freifliegende Objekte in Jupitergröße gibt, die sich unseren Methoden (noch) entziehen.

Bisher steht nur eines fest: Es gibt sie, die freifliegenden sternähnlichen Objekte, die so aussehen wie Planeten. Die Zeiten der Zweiklassengesellschaft am Himmel sind vorbei. Es war schierer Zufall, dass wir Sterne und Planeten mehrere tausend Jahre vor Braunen Zwergen zu Gesicht bekamen – die einen, weil sie so hell, die anderen, weil sie so nah sind. Wir sollten uns damit abfinden, dass es keine klare Trennung gibt, auch wenn wir dazu jahrtausendealte Denkmuster überwinden müssen. Eventuell wäre es hilfreich, beim Blick an den Himmel für einige Zeit auf die vorurteilsbehafteten Begriffe „Stern“ und „Planet“ zu verzichten und stattdessen irgendein neutrales Wort zu verwenden. „Lichtpunkt“ böte sich an.

Die Grenzen der Absurdität sind damit allerdings noch lange nicht ausgeschöpft. Wir kennen mittlerweile Braune Zwerge, die Sterne umkreisen, Braune Zwerge, die Braune Zwerge umkreisen, und Planemos, die Braune Zwerge umkreisen. Es ist nicht völlig auszuschließen, dass wir demnächst einen Jupiter finden, der sich im Orbit um einen anderen Jupiter befindet. Einer davon könnte wiederum als Zentralgestirn für eine Erde oder andere kleinere Planeten dienen. Die Bewohner dieser seltsamen (und kalten) Welt haben keine Vorstellung davon, wie Sterne aus der Nähe aussehen, weil sie keine Sonne am Tageshimmel haben. Ihre unmittelbare kosmische Umgebung besteht nur aus Planeten, alle Sterne sind Lichtjahre entfernt. Es ist für sie deutlich schwieriger, eine Beziehung zum Sternenhimmel zu entwickeln und das eigene System richtig einzuordnen – zu extrem ist der Unterschied zwischen den nahen Planeten und den restlichen Lichtpunkten am Himmel. Diese Aliens sind solange davon überzeugt, dass Planeten sich gegenseitig umkreisen, bis sie irgendwann unser Sonnensystem finden und jemand es wagt, die Erde einen Planeten zu nennen. In der ewigen Dämmerung der anderen Welt ist die Aufregung groß.

Aleks Scholz

Mehr zum Projekt SONYC hier.

Aleks Scholz, geboren 1975, ist Astronom und Schroedinger Fellow am „Institute for Advanced Studies“ in Dublin, Irland. Er befasst sich vorwiegend mit der Entstehung und der Entwicklung von Gelben, Roten und Braunen Zwergen. Foto: Ira Struebel. Aleks Scholz bei Google+.

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