Geschrieben am 4. November 2015 von für Film/Fernsehen, Litmag

Kino: Democracy – Im Rausch der Daten

DemocracyDer Knoten meines Lebens

— Der erste Versuch klappt nicht, erst beim zweiten sitzt die Krawatte. Er ist bereit für einen schwierigen Kampf. Getragen von der Überzeugung, diesen Kampf bestehen zu müssen, geplagt von Zweifeln, ob das überhaupt möglich ist. Einer gegen alle, einer der plötzlich in der Mitte der europäischen Aufmerksamkeit steht. Der Auftrag, erteilt mit knapper Mehrheit vom Europäischen Parlament, ist der Job des Berichterstatters für die Reform eines gemeinsamen europäischen Datenschutzes. Er, der Bürgerrechtler und einer der jüngsten Abgeordneten im Parlament, mit einer Frisur, die die Parteizugehörigkeit verrät, mit einer Chuzpe und einem Verhandlungsgeschick, das hunderte Politiker und Lobbyisten monatelang beschäftigen wird. Sie haben ihn alle unterschätzt.

Im Film „Democracy – Im Rausch der Daten“ von David Bernet geht es um Jan Philipp Albrecht, um europäische Politik, um Lobbyisten und um die DNA der Demokratie – den politischen Kompromiss.

Der Film beginnt dramatisch. Ein Helikopter fliegt durch eine sepiafarben eingetauchte Großstadtkulisse. Die Welt hat sich verändert, die Bürger sind besorgt. Die Enthüllungen von Edward Snowden bestimmen die Atmosphäre des Filmes. Daten bedeuten nicht nur Macht, sondern sind auch eine Waffe. Überwachung ist, Menschen zu steuern und zu lenken. Es gibt Gänsehautmomente, in denen der Film genau diese Brisanz deutlich macht. Es müssen Antworten gefunden werden, wie wir mit unseren digital verfügbaren Daten umgehen, was Staaten und Unternehmen dürfen. Das Thema steht auf der Brüsseler Tagesordnung ganz oben. Eine europäische Datenschutzgrundverordnung zu entwickeln bildet dann auch die formale Rahmenhandlung des Films. Eindrücklich wird das Ringen um das Verstehen des Themas an sich gezeigt, die Wenigsten verstehen, worum es im Detail geht. Auch Albrecht kämpft mit den Schwierigkeiten und der Komplexität des Themas, er ringt mit Begriffen und Formulierungen. Er versucht, für sich die Amtssprache in verständliche Sprache zu transferieren und dabei zu verstehen, unklare und gefährliche Begriffe zu entschärfen und seine eigene Note einzufügen. Es ist aber kein Film über Datenschutz oder die neue Datenschutzgrundverordnung. Nicht die einzelnen Paragrafen, ihre Bedeutung und Auswirkungen stehen im Vordergrund, es geht um die Frage. wie parlamentarische Prozesse eigentlich funktionieren.

Der Film kommt ohne Sprecher aus, die Szenen, die teilweise an Stummfilme aus den 20er Jahren erinnern, die dramatische Musik und die Politiker sprechen für sich. Der Zuschauer ist direkt dabei und wird hineingezogen in die doch eigentlich staubtrockene parlamentarische Politik, die sich plötzlich als dramatisches Abenteuer erweist.

Es gelingt den Filmemachern dabei in den monatelangen Dreharbeiten, sehr intime Einblicke in den Maschinenraum der Demokratie zu geben. Gespräche mit Mitarbeitern, Telefonkonferenzen, Schulterklopfen von Kolleginnen im Parlament, müde Blicke und gehetztes Laufen durch künstlich beleuchtete Gänge, die richtigen Worte finden und unverhoffte Aufmunterungen zwischendurch. Die frühere EU-Kommissarin Viviane Reding nimmt sich Albrecht fast mütterlich an. Er ist ihr „Lieblingsberichterstatter“, er ist für sie aber viel mehr. Man spürt die Hoffnung, zusammen einen modernen Weg durch voreingenommene Positionen, verschleierte Wirtschaftsinteressen und parteipolitisches Geplänkel zu finden. Das Europäische Parlament als Tankschiff, keiner hat das Steuer in der Hand, und alle versuchen nur. das Gewicht zu verlagern, so sieht es Albrecht. Reding tut Albrecht gut und ist dabei eine wichtige Ratgeberin. Zudem ist sie erfahren in strategisch geführten Schlachten. Und um genau so eine geht es hier.

Der Lobbyistenschreck

Lobbyismus ist ein zentrales Element des politischen Diskurses und der Willensbildung. Lobbyisten sind nicht per se böse, wichtig ist nur, dass gegenläufige Interessen möglichst gleich gut von verschiedenen Interessensvertretern bespielt werden können und dass dieser Prozess so transparent wie möglich ist. Die Parlamentarier des Europaparlaments werden umlagert von tausenden von Lobbyisten. die alle nur das Beste des Politikers, der Branche oder der Gesellschaft wollen. Die meisten davon, Albrecht schätzt sie auf 99 Prozent, haben in der Realität aber nicht in erster Linie die Interessen der Bevölkerung im Blick. Er vermisst starke Lobbyisten, die die öffentlichen und allgemeinen Belange im Fokus ihrer Arbeit haben. Fast schon aus einer Abwehrhaltung heraus betont er deswegen, dass er selbst und die gewählten Parlamentarier die Vertreter der Bevölkerung seien. Er sieht sich trotzdem als David, der gegen den Goliath aus Industrievertretern bestehen muss. Dabei müsste es eigentlich umgekehrt sein – die Bürger sind die vielen und sollten eigentlich der Goliath sein. Doch diese Interessen sind in Brüssel kaum hörbar.

Die Datenschutzgrundverordnung betrifft branchenübergreifend nahezu alle Verbände und Unternehmen, dementsprechend voll ist der Terminkalender von Albrecht. Im Film gibt es Ausschnitte aus diesen Gesprächen, die zunächst alltägliche Begegnungen zwischen Politikern und Lobbyisten zeigen. Auf den zweiten Blick sieht man aber auch noch etwas anderes: Unsicherheit und Angst bei den Lobbyisten. Sie können Albrecht nicht einschätzen, sie sind vorsichtig. Fast schon unterwürfig verzweifelt versuchen sie, ihre Botschaft zu übergeben. Sie spüren, dass dieser junge Mann ziemlich gut ist und ihre üblichen Wege, Überzeugungsarbeit zu leisten, möglicherweise nicht erfolgreich sein werden. Das führt dazu, dass man beim Betrachten dieser Szenen als Zuschauer fast schon Mitleid bekommt.

Der Entwurf des Berichts ist da

Nach monatelangem Arbeiten und hunderten von Sitzungen ist das Werk des Berichterstatters Albrecht dann getan, der erste Entwurf zur Datenschutzgrundverordnung. Ralf Bendrath steht rauchend am Fenster und gibt die Interpretation gleich mit: „Unser Bericht ist der beste Datenschutzgesetzentwurf, den die Welt aus Datenschutzsicht in den nächsten 20 Jahren gesehen hat.“ Bendrath ist Mitarbeiter und Spin Doctor von Albrecht. Er steht zwar formal in der zweiten Reihe, seine Rolle ist aber, wie so oft bei Mitarbeitern, genau so wichtig wie die seines Chefs. Er ist nicht überschwänglich, wie er da so steht, eher nachdenklich. Gleichzeitig blitzt das kampfeslustige politische Tier aus ihm heraus, und er erklärt lächelnd: „Wir kommen langsam in den Kriegsmodus“. Eine Ansage, die deutlicher nicht sein kann. wenn jemand von dem, was er tut, überzeugt ist. Albrecht teilt diese Meinung, zieht gleichzeitig mit Respekt, wenngleich lächelnd, die Augenbrauen hoch und sagt, er fühle, wie die Wölfe schon die Zähne fletschten, um ihn zu zerreissen.

Der Kompromiss – die ganze Welt schaut zu, was wir hier machen

Die Wölfe kommen. Nicht mit Schaum vor dem Mund und blutigen Lefzen, sie kommen in Gestalt von fast 4000 Änderungsanträgen zu seinem Entwurf. Noch nie gab es in der Geschichte des Europäischen Parlaments so viele Änderungsanträge zu einem Bericht. Die Bendrath-Albrecht-Task-Force hat auch diese Herausforderung genommen. Nicht einfach so, sondern unter Selbstzweifeln und Ernüchterung, ob das überhaupt personell und auch auf demokratisch korrektem Wege zu bearbeiten und zu schaffen ist. Jeder einzelne Satz, jedes Wort, jedes Komma aus allen Änderungswünschen wurden abgeklopft und mit den anderen Fraktionen im Parlament vorverhandelt. Der Druck steigt. Was am Anfang kaum für möglich gehalten wurde, ist plötzlich Realität. Ein abstimmungsreifer Kompromissvorschlag für alle Beteiligten liegt vor. Ein erstes Mal löst sich in der vorbereitenden Verhandlungsrunde die Anspannung, und es werden erste Scherze gemacht. Noch ist es nicht geschafft. In der entscheidenden Abstimmung im Parlament wird einzeln über die Änderungsanträge abgestimmt. In jeder Sekunde die Gefahr, dass der vorab vereinbarte Kompromiss doch in letzter Sekunde nicht mehr steht weil sich Meinungen in der Politik auch sehr kurzfristig ändern können. Albrecht hält bei jeder Auszählung die Luft an. Und dann ist es soweit. Sein Kompromissvorschlag ist durch, und es gibt Applaus. Albrecht macht eine Faust. Er hat gewonnen. Im nächsten Moment nimmt er schon Glückwünsche entgegen, lächelnd, aber nicht gelöst, sondern staatsmännisch. Wie stolz ein Kompromiss machen kann, sieht man, wenn man ihn ansieht.

Die Verhandlungen im Trilog zwischen Europäischen Parlament, dem Europäischen Rat und der Europäischen Kommission laufen im November 2015 noch. Erst am Ende wird sich zeigen, wie der europäische Datenschutz in Zukunft aussieht. Wie Albrecht aussieht wissen wir nun, er hat das Meisterstück seiner jungen politischen Karriere abgelegt. Er hat den ersten großen Knoten seines politischen Lebens gelöst.

Dieser Film ist ein hoch spannender und dramatischer Lehrfilm über und für die Demokratie.

Philipp Otto

Philipp auf Twitter

DEMOCRACY – IM RAUSCH DER DATEN ist eine Produktion von INDI FILM in Koproduktion mit SEPPIA und Atmosfilm, SWR, Norddeutscher Rundfunk, in Zusammenarbeit mit ARTE, Submarine, HUMAN, RTS und YLE. Mit Unterstützung von der Filmförderungsanstalt und Centre National du Cinéma et de l‘image Animée (Deutsch-Französische Kommission), der MFG – Filmförderung Baden-Württemberg, des Deutschen Filmförderfonds, der Film- und Medienstiftung NRW, MEDIA – Programm der Europäischen Union, Région Alsace sowie Eurométropole de Strasbourg. Verleih: farbfilm verleih. Ab 12.11. in Deutschland im Kino.

Tags : , , , , , ,