Geschrieben am 26. Juni 2013 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Joe Paul Kroll über Renata Adler

Renata Adler by Richard AvedonWiederentdeckt: Renata Adler

– Joe Paul Kroll über die Journalistin, Kritikerin und Autorin Renata Adler, die in diesem Jahr ihren 75. Geburtstag feiert und deren zwei Romane unlängst im Verlag der New York Review of Books wieder aufgelegt und als Neuentdeckung gefeiert worden sind.

Die Vielschreiber des Literaturbetriebs sind selten diejenigen Schriftsteller, von deren Texten und Meinungen man nicht genug bekommen kann. Hingegen die Autoren, die sich eher selten zu Wort melden, dann aber stets wohlüberlegt und in Form und Gedankenführung penibel: zu ihnen gehört Renata Adler, die ihre produktivste Zeit in den 1960er- und 70er-Jahren als Redakteurin des New Yorker erlebte. Dessen so großzügiger wie geduldiger Chefredakteur William Shawn schickte sie zum Sechstagekrieg[1] und nach Biafra, von wo sie ohne den Machismo berichtete, der die Kriegsberichterstattung so häufig zur Selbstinszenierung des Reporters verkommen lässt. Auch den Wandel in Amerika selbst beschrieb Renata Adler, als Teilnehmerin der Bürgerrechtsmärsche von Selma nach Montgomery und frustrierte Beobachterin bei einem Kongress linker Gruppen, der von Fehlorganisation und Lagerkämpfen geprägt war. Stillere, doch nicht minder bedeutende Veränderungen registrierte sie unter Teenagern auf dem Sunset Strip und in gruppentherapeutischen Sitzungen in New York. Es lag ihr jedoch fern, den „radical chic“ (Tom Wolfe) der Ära zu verhöhnen, um selbst umso gescheiter, abgeklärter zu erscheinen. Die in ihren Texten sich zeigende Persona hat wenig gemein mit dem zeitgleich aufblühenden New Journalism und seiner radikalen Subjektivität. Adler bevorzugte das Mittel der sprachlichen Akribie, um noch die scheinbar nüchternste Darstellung durch feine Nuancen unverwechselbar zu machen.

Doch Renata Adler konnte diese Zurückhaltung auch fahren lassen – gerade, wenn es um die Sache der Kritik selbst ging. Der New Journalism wollte damals aufräumen mit der Leisetreterei des amerikanischen Rezensionswesens, die Elizabeth Hardwick einige Jahre früher in einem berühmten Essay angeprangert hatte. Den Stand dieser Bemühungen resümierte Adler 1964 unter dem Titel „Polemic and the New Reviewers“. Dabei stellte sie fest, dass dieses Ringen um Erneuerung der Literaturkritik einherging mit einer zunehmenden Geringschätzung der Literatur als solcher. So wird Norman Podhoretz, Chefredakteur der einflussreichen Zeitschrift Commentary, mit der Aussage zitiert: „[I] lost my piety toward the form in its own right, which means that I do not feel an automatic sympathy for the enterprise of novel-writing.“ Diese zunehmende Ungeduld der Kritiker mit ihrem Gegenstand trieb sie dazu, sich selbst als die besseren Autoren zu inszenieren, die schließlich die Literatur würden ersetzen können. So wiederum Adler: „One result, however, is a conviction that imagination has been diverted from fiction into expository writing is that the expository writer, in particular the reviewer, is often tempted to press his own imagination upon the work of fiction, to prescribe for the novelist the kind of work that the reviewer thinks he ought to have written.“ Dazu geselle sich ein apokalyptisch gefärbter kulturkritischer Gestus, ein „generalized cultural alarmism“, den manche Kritiker zur Selbstlegitimierung als letztes Aufgebot intellektueller Rechtschaffenheit einsetzten.

„Polemic and the New Reviewers“ beginnt aber mit einer Aussage, die man im Nachhinein als Fehleinschätzung betrachten muss: „no other essay form becomes obsolete as quickly as an unfavorable review.“ Denn unvergessen ist ihre als Buchrezension getarnte Suada gegen die stilbildende Filmkritikerin Pauline Kael. Kael war – was die Sache noch pikanter machte – eine Kollegin Adlers beim New Yorker, und Adler selbst hatte für diesen und für die New York Times Filme besprochen. Dabei entstand ein weiterer berühmter Verriss, der John Waynes propagandistischem Kriegsfilm „The Green Berets“ („Die Grünen Teufel“) galt. Es handele sich um ein Machwerk, „so unspeakable, so stupid, so rotten and false in every detail“. Die Rezension enthält auch eine Lagebeschreibung Amerikas 1968, die ahnen lässt, warum sie bald einer „radikalen Mitte“ das Wort reden sollte: „If the left-wing extremist’s nightmare of what we already are has become the right-wing extremist’s ideal of what we ought to be we are in steeper trouble than anyone could have imagined.“ Obwohl sich solche Erkenntnisse gelegentlich in Filmkritiken unterbringen ließen, war dieses Format auf Dauer für Renata Adler wenig befriedigend. Über die Gründe hierfür gibt „The Perils of Pauline“ (1980) ebenfalls Aufschluss. Man kann diesen Text als Polemik aus enttäuschter Liebe lesen (Letzteres gibt Adler auch zu), doch man wird Adler kaum vorwerfen können, ihre Maßstäbe gegenüber dem Essay über die Literaturkritik von 1964 geändert zu haben.

Renata Adler und Joan Didion by Jill Krementz

Renata Adler und Joan Didion von Jill Krementz

Mit beinahe obsessiver Präzision zerlegt Adler die Kaelschen Kritiken und macht dabei sprachliche wie inhaltliche Muster aus: Die Gewaltverherrlichung, die noch die Sprache in Mitleidenschaft zieht; die Aneinanderreihung schiefer Bilder; der unpräzise Gebrauch eines abwegigen Vokabulars nicht um der Erkenntnis, sondern um des Effekts willen; die geschickt an der Schwelle von Irrtum oder Verleumdung platzierte Andeutung. Ein Problem oder vielleicht ein mildernder Umstand sei dabei die Lage der Kritikerin, die sich Woche für Woche an einem Gegenstand abarbeiten müsse, der diesen Grad der Vertiefung schlicht nicht wert sei. Zu wenige Filme lohnten wirklich der intellektuellen Auseinandersetzung. Doch in einer Aufmerksamkeitsökonomie sei für solche Bedenken, zumal bei einer fest bestallten Kritikerin, keine Zeit: „By far the most common tendency, however, is to stay put and simply to inflate, to pretend that each day’s text is after all a crisis – the most, first, best, worst, finest, meanest, deepest, etc. – to take on, since we are dealing in superlatives, one of the first, most unmistakable marks of the hack.“ Wo Effekte dominierten, verkomme durch Wiederholung zur Manier, was einst erfrischend gewirkt habe: „A voice that may have seemed, sometimes, true and iconoclastic when it was outside can become, with institutional support, vain, overbearing, foolish, hysterical.“ Alles sei Krampf, Hochspannung, sexuelle Entladung, immer radikal und immer am Abgrund. Anstelle von Argumenten würden die Leser mit Hype und zur Einschüchterung formulierten ideologischen Kanzelpredigten drangsaliert.

Adlers Essay ist weit mehr als eine Kritikerschelte, auch wenn sie sich ohne größere Verluste auf eine jüngere Generation amerikanischer Kritiker übertragen lässt, die von Kael geprägt wurde – beispielhaft seien nur James Wolcott und Howard Hampton genannt. Es handelt sich hier um eine Auslotung dessen, was Kritik noch erreichen kann und wodurch sie entwertet wird, aber auch um einen Ausdruck von Adlers eigenem Unwohlsein in einer Gesellschaft, die immer stärkerer Schocks zu bedürfen scheint. Diese Tendenz ist bereits in Adlers Vorwort zu ihrer ersten Essaysammlung „Toward A Radical Middle“ zu erkennen. Adler beschreibt darin das Nachleben der Begriffe, die für die Weltkriegsgeneration im Guten wie im Bösen prägend gewesen seien: „Totalitarianism, freedom, genocide, courage, passion, gentleness, a community of decent men“, und vom Verfall derselben zu bloßer Rhetorik durch ihre Indienstnahme für den Vietnamkrieg. Trotz oder gerade wegen diesem habe sich in der amerikanischen Gesellschaft die stets latent vorhandene Gewalt gestaut.

Renata Adler spricht nicht vom „Unbehagen in der Kultur“ (Freud), meint aber etwas Ähnliches, einen zivilisationsfeindlichen, destruktiven Trieb. In Ermangelung der Möglichkeiten, diesen kollektiv abzubauen, wandere die Gewalt in Sprache und Denken ab, denke man nun – keineswegs nur in Endzeitsekten und politischen Splittergruppen – in Endlösungen, hänge einer „Psychologie der verbrannten Erde“ an. Diese Gegenwartsanalyse, verfasst im Juli 1969, im Monat der ersten bemannten Mondlandung und damit gewissermaßen am Scheitelpunkt der 1960er-Jahre, ähnelt in vielen Zügen Joan Didions melancholischen Lageberichten aus einem Kalifornien, wo die Gegenkultur schon unter Drogeneinfluss zerfiel, während sich Morddramen in den Vorstädten abspielten.[2]

Renata Adler_SpeedboatRenata Adlers literarisches Werk ist schmaler noch als das kritische: Zwei „Romane“ von jeweils unter 200 Seiten, die mit Erzählkonventionen brechen, nicht aber mit literarischem Ehrgeiz. Ist auch der Glaube an die Tragfähigkeit einer Handlungskonstruktion geschwunden, zeugen diese Bücher umso stärker vom Vertrauen in die Möglichkeiten der Sprache und von der Mühe um den treffenden Ausdruck. 1976 erschien „Speedboat“, dem Anschein nach eine Sammlung von Kurzgeschichten, ihrerseits aus Szenen und Reflexionen bestehend, verbunden durch eine Erzählerin, die Klatschreporterin Jen Fain. Deren Nachname ist homophon zum Verb to feign (vortäuschen), und man darf in ihren Äußerungen wohl zumindest nach Spuren von Adlers eigenem Denken suchen – zumal dann, wenn es etwa über die eigene Methode durchzuklingen scheint: „I often wonder about the people who linger over trash baskets at the corners of the city’s sidewalks. […] Sometimes I think they are writers who do not write.“ Das Auflesen von Versatzstücken ist ein Aspekt von „Speedboat“, das dennoch nie hektisch wirkt oder angestrengt, ständig Effekte zu produzieren, sondern die Szenen behutsam arrangiert, sodass ein Ganzes nicht als Abbild erscheint, sondern als bewusste Komposition. (Zu Recht relativiert Guy Trebay, der ein Nachwort zur Neuausgabe verfasst hat, den eigenen Einfall, man habe es hier mit einem Vorläufer des Twitter-Zeitalters zu tun.) Auch Sprachkritik findet sich in „Speedboat“, etwa gegen positiv gewendete Gewaltmetaphern wie „gut-busting“, die die Adler-Polemik vorauszuahnen scheint, oder den Automatismus bestimmter Nomen-Adjektiv-Kopplungen.

Einnehmend ist auch das Zeitkolorit – bis zur Beobachtung zeitgenössischer Namensmoden –, die Sitten in New York zwischen sexueller Befreiung und Psychoanalyse, der nur scheinbar unverbindlichen Liebeleien und der Träume vom Ausstieg. Es ist mitunter die Welt der Filme Woody Allens, doch hier erlauben nicht einmal die eigenen Neurosen mehr eine Selbstvergewisserung. Renata Adler schildert Denkprozesse in alltäglichen Situationen, die das Leben unsicher und kompliziert machen. So auch in ihrem zweiten Roman „Pitch Dark“ von 1983. Wieder versteckt sich die Autorin hinter einer Erzählerin, die diesmal Kate Ennis heißt – und die, wenn sie sich ein Pseudonym ausdenken muss, sich vom richtigen Namen nicht weit entfernen will. „Kate Ennis“ wählt in dieser Absicht den Nachnamen „Alder“.

„Pitch Dark“ wird, anders als „Speedboat“, von einem durchgehenden Handlungsbogen getragen, in Form einer Affäre mit einem verheirateten Mann und einem sich lange hinziehenden Trennungsprozess. Adlers große Leistung ist hier, zu schildern, wie kleine Fehltritte sich zu einem enormen Schuldgefühl zusammenfügen können: Bei einem Aufenthalt in Irland gerät die Erzählerin unwissentlich in einen Versicherungsbetrug hinein und flieht schließlich im Verfolgungswahn aus dem Land, indessen selbst Nichtigkeiten wie ein abgepulter Aufkleber am Mietwagen zum Albtraumhaften der Situation beitragen.

Renata Adler_PechrabenschwarzVery few of us, it seems fair to say, are morally at ease.“ – Diese Unsicherheit bildet den Grundton von Renata Adlers literarischer Prosa. Der Fragmentierung der Erfahrung begegnet sie nicht, indem permanent neue Erregungszustände herbeigeschrieben werden, sondern indem sie die Fragmente selbst auf ihre Aussagekraft hin untersucht. An ihrem Werk zeigt sich aber auch, wie eine „literarische“ Prosa sich von einer „journalistischen“ unterscheiden kann, selbst wenn der Glaube an herkömmliche Formen des Erzählens geschwunden ist. In ihrer non-fiction schreibt sie klar und urteilsstark. Schiene es dort unangebracht, ungehemmt mit der eigenen Subjektivität zu experimentieren, so kann Adler diese in ihrer fiction hinterfragen. Dass gerade die Romane diese Unterscheidung wiederum zu unterlaufen scheinen, ohne dass Adler die Trennung je explizit in Frage gestellt hätte, zeugt aber gerade vom Festhalten an der Literatur als eigenständiger Kategorie mit eigenen, großmütigen Gesetzen.

Nachbemerkung: Renata Adler, deren Eltern vor dem Nationalsozialismus aus Deutschland geflohen waren, studierte u. a. bei Claude Lévi-Strauss an der Sorbonne. In den 80er-Jahren nahm sie ein Jurastudium auf und promovierte an der Yale Law School. Danach schrieb sie häufiger über juristische Fragen, nicht ohne dabei einigen Ärger zu erregen. Die Sache der Anklage vertrat sie (publizistisch, versteht sich) gegen den New Yorker, für dessen Richtung nach dem Ausscheiden William Shawns sie wenig mehr als Hohn übrig hatte. 2013 feiert sie ihren 75. Geburtstag; ihre zwei Romane sind unlängst im Verlag der New York Review of Books wieder aufgelegt und von der amerikanischen Kritik als große Wiederentdeckungen gefeiert worden. Auf Deutsch erschienen sind „Rennboot“ („Speedboat“) und „Pechrabenschwarz“ („Pitch Dark“).

Joe Paul Kroll

Renata Adler: Rennboot. Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1979. 242 Seiten. 16,80 Euro. Speedboat. NYRB Classics 2013. 192 Seiten. 14,00 Dollar.
Renata Adler: Pechrabenschwarz. Frankfurt: Suhrkamp Verlag 1987. 235 Seiten. 16,80 Euro. Pitch Dark. NYRB Classics 2013. 168 Seiten. 14,00 Dollar.
Foto oben: Renata Adler, 1978. Foto: Richard Avedon. Foto 2: Renata Adler (li.) mit Joan Didion, 1978. Foto: Jill Krementz.


[1] Die Artikel aus dem New Yorker sind größtenteils leider nur für Abonnenten einsehbar, werden hier aber dennoch im Interesse einer besseren Zuordnung verlinkt.

[2] Joan Didions erste Essaysammlung „Slouching Towards Bethlehem“ erschien 1968.

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