Schmetterling des Todes
Joan Margarit verarbeitet in dem einzigartigen Gedichtzyklus die Trauer über den Tod seiner Tochter.
Professor Bonaventura aus Barcelona habe seine Seminare immer mit einer wiederkehrenden Begrüßung begonnen: „Guten Tag, meine Herren! Heute sind soundsoviele Jahre, Monate und Tage vergangen, seitdem meine Tochter starb.“ Diese Erinnerung an seinen Professor lässt der als Architekt ausgebildete, heute als Schriftsteller unweit von Barcelona lebende Joan Margarit mit den Zeilen enden: „Meine Tochter fand seit zwei Monaten, drei Tagen und sechs Stunden im Tod den tiefen Grund.“ In einem großen Gedichtzyklus versucht Margarit immer wieder neu Worte für den für ihn unfassbaren Tod seiner Tochter zu finden. Dass Margarit noch eine weitere Tochter hatte, diese allerdings unmittelbar nach der Geburt verlor, kann man dem Nachwort des Übersetzers Tobias Burghardt entnehmen. Auch Pablo Neruda sei früh eine schwerkranke Tochter gestorben. Über diesen Tod seines Kindes habe der chilenische Nobelpreisträger jedoch nie auch nur eine Zeile schreiben können – oder wollen. „Ich hatte das Glück“, so schreibt dagegen schillernd interpretierbar Margarit, „in einer vergleichbaren Situation nicht fliehen zu können. Neruda hatte dieses Glück nicht.“ Als Kind ist seine Tochter Joana nicht gestorben. Immerhin war sie bereits dreißig Jahre alt, als der „Schmetterling des Todes“ sich auf ihr niederließ. Von Geburt an schwer behindert, war den Eltern wahrscheinlich schon früh bewusst, dass ihre Tochter nicht alt werden würde. Aber im Gegensatz zu Neruda hat Margarit seine Tochter nicht negiert, nicht einfach aus dem Leben herausgeschoben, sondern ihre Existenz mit allen Konsequenzen akzeptiert.
Never more
Und wie zentral Joana in seinem Leben und dem Leben der ganzen Familie gewesen ist, kann man erahnen bei der Lektüre seiner Gedichte. „Die Welt ohne Joana ist der, die wir gemeinsam erlebten, ähnlich, aber sie ist nicht gleich. Winzige Unterschiede weisen mich darauf hin, dass die Menschen, die Orte und die Dinge nicht die vertrauten sind. Ich stehe also vor dem reinsten Schrecken … Von nun an wird der Rabe von Poe in mir sein herbes ‚Nevermore’ unaufhörlich wiederholen.“ Nach dieser Einleitung folgen über 170 Seiten Gedichte (im katalanischen Original und in der deutschen Übersetzung), in denen die geliebte Tochter immer anwesend ist. „Überall tauchte Joana auf:/ von überall erschien der Blick/ jenes entstellten Körpers,/ von dem ich lernte, was Schönheit ist./ Die Spiegel der Nacht gaben/ ihr Lachen wieder, das gleiche Lachen,/ das uns die letzten dreißig Jahre umgab./ Ich fragte: Joana, was machst du hier?/ Von überall antwortete es: Ich entferne mich,/ um euch das Leben noch einmal zu zerstören.“ Und am Schluss des Gedichts mit dem Titel „Während du schläfst“ heißt es: „Mich besorgte sehr, dich alleine zu lassen./ So schwach und klein/ das erleuchtete Fenster in der Nacht auch sei,/ dies ist der Trost: es wird keine größere/ Verlassenheit mehr geben als meine.“ Kann nur, wer das gleiche Schicksal wie der Dichter erlebt hat, dessen Trauergedichte lesen?
Glut flammt wieder auf
Es ist gerade die Einzigartigkeit und Größe dieses Zyklus, dass er an keiner Stelle rührselige Betroffenheit ausstrahlt, die uns von vorgefertigten Mitleidspostkarten so unrühmlich bekannt ist. Poetische, aus dem Zusammenhang eines Gedichts herausnehmbare und zitierbare Verse findet man hier selten. Man muss sich schon die Zeit nehmen, den Zyklus vom Anfang bis zum Ende zu lesen. Von den Augenblicken, in denen Joana noch lebt bis hin zu dem vorläufigen Ausklingen der Trauer: „Mit der Stirn an der Fensterscheibe/ bitte ich meine beiden toten Töchter/ mir zu verzeihen, weil ich/ kaum mehr an sie denke./ Die Zeit hinterließ trockenen Lehm/ auf der Wunde. Und trotz aller Liebe/ beginnt das Vergessen.“ Nein, man muss nicht wie Margarit seine Kinder verlieren, um diese Gedichte in ihrer ganzen Schönheit, ihrer Trauer, ihrer lebenserschütternden Kraft zu erfassen. Wem aber dieses Schicksal nicht fremd ist, wem die Worte fehlen, um die Tiefe seiner Trauer und Verlassenheit auch anderen mitzuteilen, der wird in dem „Joana-Zyklus“ von Joan Margarit einen großen Trost finden. „Ich lege ein neues Holzscheit, bewege die Asche,/ und die Glut flammt wieder auf …“
Carl-Wilhelm Macke
Joan Margarit: Joana und andere Gedichte. Aus dem Katalanischen von Juana und Tobias Burghardt. Edition Delta 2007. 175 Seiten. ISBN 978-3-927648-18-0