Geschrieben am 22. Februar 2012 von für Comic, Litmag

Jeff Lemire: Essex County Bd 1, Bd 2

Meisterwerk aus Kanada

– Einer der schönsten Comics des letzten Jahrzehnts erscheint gegenwärtig bei Edition 52 auf Deutsch: „Essex County“ von Jeff Lemire. Zwei Bände sind inzwischen erhältlich – „Geschichten vom Land“ und „Geistergeschichten“. Die Originale entstanden bereits 2007 und 2008 und gelten mit Recht als Meisterwerk des Graphic Novels. Die Handlung ist dort angesiedelt, wo der Schöpfer herkommt: im ländlichen Kanada. Von Brigitte Helbling

In den insgesamt drei Bänden Essex County (es gibt dazu diverse One-Shots) bietet eine Geschichte der andern die Hand. Band 1, „Geschichten vom Land“, beschreibt den Jungen Lester, der nach dem Krebstod seiner Mutter bei seinem Onkel Kenny lebt und über vier Jahreszeiten – Sommer, Herbst, Winter, Frühling – aus einem wortlos geschilderten Zustand von Trauer ins Leben zurückfindet, unterstützt von Jimmy dem Tankwart, der vielleicht sein Vater ist, gewiss aber der einzige, der für Lesters selbsterrichtete Schutzräume voller Helden, Außerirdischer und fantastischer Kämpfe Verständnis hat.

Band 2, „Geistergeschichten,“ zeigt einen alten Mann, der von der Gemeindeschwester versorgt wird und dessen periodische Verwirrung ihn in die früheren Zeiten von Hockeytriumphen und der verbotenen Liebe zu seiner Schwägerin zurückträgt – es ist der Großonkel von Jimmy dem Tankwart. Die verwandtschaftlichen Verortungen der Gemeindeschwester, auf der der Fokus des dritten (noch nicht auf Deutsch erschienenen) Bandes liegt, reichen noch weiter in die Vergangenheit zurück und bieten eine noch breitere Klammer für die Figuren der Bände davor.

Er habe sich mit dem Ort auseinandersetzen wollen, wo er herkomme, sagt Lemire in einem Interview. Die Auseinandersetzung meint auch die Bilder – ländliche Ansichten von Silos, Hochspannungsleitungen, alte Traktoren, Scheunen. Die Couch, auf der Onkel Ken fernsieht, die Umkleidekabine, in der der Held der Geistergeschichten seine Karriere verfolgt, der Diner, in dem die Gemeindeschwester isst – sie alle erzählen so viel wie oder mehr als der Text, der sparsam bleibt und bleiben kann, weil Lemire hier beides verantwortet: Wort und Bild. Weite Himmel. Der Schatten einer Scheune bei Vollmond. Kleine Flüsse, in denen Jimmy angelt und am Ende des ersten Bandes wie ein alter, toter Indianer auf einem Floß davonschwimmt. Einbildung oder Realität? Für den Waisen Lester geht eins ins andere über, genauso wie für den alten Mann im zweiten Band, der dem Jungen einmal begegnet (die zeichnerische Schnittstelle der beiden Bände) und der möglicherweise sein Urgroßvater ist.

Fantastisch ist an diesen changierenden Wirklichkeiten wenig, wir lebten so als Kinder, als Greise wird unser Erleben möglicherweise wieder so sein. Die Stille, die Ereignislosigkeit dieser Landschaft erscheinen hier als Aufforderung, sie mit ausgedachten Ereignissen zu füllen. Autobiografisch ist an dieser Saga zumindest so viel, dass in ihr, versteckt, auch der ländliche Boden einer Berufung erzählt wird: Der Comiczeichner berichtet von seinen kreativen Ursprüngen.

Lester liebt Comics, Lester zeichnet (Superhelden-)Comics – einer ist in dem Band abgedruckt – und über beinah ein Jahr weigert er sich, sein selbst gebasteltes Heldenkostüm auszuziehen. Die Hilflosigkeit seines Onkels Ken angesichts dieser stillen Verweigerung, ganz „da“ zu sein, ist so anrührend wie Jimmys Entscheidung, in die Fiktion des Jungen mit einzusteigen. Hier gibt es keine Helden und Schurken, hier gibt es nur das geduldige, beharrliche Bemühen, mit einer Situation klarzukommen, die alle Beteiligten zu überfordern droht. Die Klimax, die diesen Knoten lösen kann, ist dann so unspektakulär wie das Leiden davor. Manche Dinge brauchen ihre Zeit. Sommer, Herbst, Winter, Frühling …  so viel schlichte Wahrheit findet sich selten in einem Comicband.

Verwunderlich ist dennoch nicht, dass der 1976 geborene Lemire, der für seine Essex County Trilogie mit Anfang 30 bereits die höchsten Auszeichnungen erhielt, seit ihrem Abschluss nun in den Dienst vom Superheldenverlag DC getreten ist – zunächst mit eigenen Serien beim DC Alternativlabel Vertigo, seit 2010 nun auch als Autor im Heldenuniversum. In seinen Landgeschichten ist die Dramaturgie der Erzählung unübersehbar geschult an Werken früher Vertigo-Autoren wie Grant Morrison, Peter Milligan oder auch Alan Moore, während er für seine Schwarzweiß-Zeichnungen neben amerikanischen Altmeistern wie Toth oder Infantino allerdings auch den Einfluss der Südamerikaner Munoz und Breccia anführt.

Mit „Animal Man“ führt Lemire nun als Autor eine von Morrison entwickelte Figur weiter, für „Justice League Dark“ hat ihn Peter Milligan an Bord geholt. Schurken und Helden gehören in diesen Welten dazu – hier regiert der (leicht schrammelige) Glamour, den die Figuren von Essex County sich nur erträumen können: Lester/Lemire, der kleine Junge vom Bauernhof, ist dort angekommen, wo er schon immer hinwollte.

Brigitte Helbling

Jeff Lemire: Geschichten vom Land (Tales from the Farm, 2007). Essex County Bd 1. Übersetzt von Thomas Schützinger. Lettering: Michael Beck. Edition 52: Wuppertal 2010. 112 Seiten. 11 Euro.
Jeff Lemire: Geistergeschichten (Ghost Stories, 2008). Essex County Bd. 2. Übersetzt von Thomas Schützinger. Lettering: Michael Beck. Edition 52: Wuppertal 2011. 224 Seiten. 18 Euro.
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