Geschrieben am 5. Oktober 2011 von für Litmag, Porträts / Interviews

Jan Brandt („Gegen die Welt“) im Interview

Die Totalität der Darstellung

In seinem voluminösen Debüt führt uns Jan Brandt in die ostfriesische Pampa und liefert ein schräges naturalistisches Sittengemälde mit einem Schuss Science-Fiction und bedrohlichen Verschwörungstheorien. Zu Recht hat er es mit seiner anarchisch ausufernden Romanlandschaft auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2011 geschafft. Karsten Herrmann hat sich mit dem Autor unterhalten.

Sie sind in Ostfriesland geboren und aufgewachsen und da liegt natürlich die Frage nahe: Wie viel von Jan Brandts Leben steckt in „Gegen die Welt“?

Geburtsjahr und Herkunft des Drogistensohns Daniel Kuper, der in „Gegen die Welt“ die Hauptrolle spielt, decken sich in etwa mit meinen biografischen Basisdaten, weil das die Zeit und der Ort ist, den ich aus eigener Erfahrung am besten kenne. Mir ging es bei dieser Geschichte um den Wahnsinn des Erwachsenwerdens und den gleichzeitigen Untergang eines Dorfes, weniger darum, über mich selbst zu schreiben. Vielmehr wollte ich den dramatischen Wandel sichtbar machen, der sich in den vergangenen 30 Jahren auf dem Land vollzogen hat. Innerhalb einer Generation sind jahrhundertealte Strukturen verschwunden: Bauern haben ihre Höfe aufgegeben, Einzelhändler ihre Geschäfte; die, die einst selbstständig tätig waren, sind jetzt Angestellte; und die Dörfer mit ihren ganzen Neubaugebieten sind zu Vororten verkommen, zu Schlafstätten für Pendler und haben ihre Funktion verloren, Gemeinschaft zu stiften.

Woher kommt ihr Faible für Drogeristen?

Die Drogerie war bis in die 90er-Jahre hinein eine Art protestantischer Beichtstuhl. Nirgendwo sonst kam das Wesen eines Dorfes – die soziale Kontrolle – besser zum Ausdruck als dort. Die Leute kauften beim Drogisten die intimsten Dinge und gaben so nebenbei viel von ihrem Privatleben preis. Der Drogist wusste nicht nur, was die Bewohner im Urlaub gemacht hatten (schließlich entwickelte er ihre Fotos), sondern auch, wer Sex hatte (wenn sie bei ihm Kondome kauften) und wer schwanger war (Folsäure, Kräuterblut etc.). Deshalb handelt „Gegen die Welt“ auch von der Drogistenfamilie Kuper, von ihrem Aufstieg und Fall und ihrem verzweifelten Kampf gegen die Invasion von Schlecker.

Über 150 Seiten zerschneidet die Geschichte eines Lokführers den Roman in zwei Hälften. Wie kam es dazu?

Mit dem Aufkommen der Eisenbahnen Mitte des 19. Jahrhunderts wurde die Provinz an die große, weite Welt angeschlossen. Viele Dörfer erlangten erst dadurch Wohlstand, bis in den 60er-Jahren die Automobilisierung, der Individualverkehr, dazu führte, dass viele Bahnhöfe auf dem Land wieder geschlossen wurden. Die Züge rasen jetzt, ohne zu halten, durch die Orte hindurch; und in „Gegen die Welt“ zerschneidet die Bahn nicht nur inhaltlich das Dorf, sie teilt auch den Text. Der obere Teil erzählt, wie Daniel Kuper und seine Freunde einen Mitschüler misshandeln und auf die Eisenbahnschienen treiben. Der untere handelt vom Lokführer, der unfreiwillig immer wieder zum Mörder wird. Mich hat interessiert, wie jemand mit diesem Beruf, mit diesem Kindheitstraum, Lokführer zu werden, umgeht. Einerseits verbindet er Menschen, bringt Paare und Familien zusammen, andererseits zerreißt er sie buchstäblich, macht sich schuldig, wenn sich jemand vor seinen Zug stellt.

Jericho ist ein fiktiver Ort in Ostfriesland. Stand für Sie da die biblische Assoziation im Vordergrund oder ist der Name auch Referenz an Uwe Johnsons Opus magnum „Jahrestage“?

Sowohl als auch und nicht nur das. Jericho, das ist für mich der fiktive Ort par excellence. Das israelische Jericho ist der am längsten besiedelte Ort der Welt. Aber anders als die Bibel uns Glauben machen will, sind die Mauern der Stadt nie zerstört worden, weil es dort, wie Archäologen jetzt herausgefunden haben, nie welche gegeben hat. Und der Schriftsteller Uwe Johnson hat das ostdeutsche Jerichow in seinen Romanen „Jahrestage“ und „Mutmaßungen über Jakob“ von Sachsen-Anhalt an die Ostsee verlegt. Jericho ist also überall und nirgends. Es gibt aber noch eine ganz einfache Erklärung für den Ortsnamen: Ich bin in dem ostfriesischen Dorf Ihrhove aufgewachsen, zehn Kilometer südlich von Leer, im Plattdeutschen heißt es etwa Jirov – und daraus haben die Bewohner Jericho gemacht.

Ein Debüt von knapp 1000 Seiten und mit dieser ambitionierten Vielfalt von Genres, Formen und Themen ist sehr ungewöhnlich. Wie lange haben Sie an diesem Roman gearbeitet?

Vor zehn Jahren habe ich begonnen, Kurzgeschichten und Erzählungen zu schreiben, die in einem kleinen, damals noch namenlosen ostfriesischen Dorf spielen. Irgendwann habe ich daraus einen Roman entwickelt, aber das war nicht „Gegen die Welt“. Dann, vor fünf Jahren, tauchte Daniel Kuper auf: ein äußerst fantasiebegabter, aber sportlich untauglicher Junge; ein erst neugieriges, aber schüchternes Kind, das sich allmählich zu einem Rebell entwickelt. Erst sollte es eine Novelle werden, dann, als die Geschichte immer länger wurde, musste ich alles dafür aufgeben: den ersten Roman, an dem ich immer noch parallel schrieb, meine journalistischen Nebenjobs, meine Freizeit, meine Freunde.

Wie oft sind Sie dabei an Ihre Grenzen gestoßen?

Ich bin einmal an meine Grenzen gestoßen, das war am 23. September 2009, als ich mich wegen Kopfschmerzen, Halluzinationen, Augenzittern und Sprachstörungen in die neurologische Abteilung des Unfall-Krankenhauses Berlin eingeliefert habe. Anamnese: „Zeitweise habe er das Gefühl, die Umwelt ziehe sehr langsam an ihm vorbei, ein Gefühl von Stillstand. Verstärkte Belastungen beim Bemühen, ein erstes Buch als Verfasser zu einem bestimmten Termin abzuschließen.“ Die Geschichte des Lokführers hätte mich fast in den Wahnsinn getrieben. Nach meiner Entlassung war der Knoten in meinem Kopf geplatzt.

Foto: Uta-Neumann

Sie bezeichnen Ihr Schreiben selbst als „Manischen Realismus“. Was steckt dahinter?

Der Manische Realismus ist ein Begriff, der meines Erachtens am ehesten die Totalität der Darstellung erfasst. Er grenzt sich vom Magischen Realismus, wie man ihn von Gabriel García Márquez kennt, dadurch ab, dass sich im Manischen Realismus Realität und Fantasie mit einer außerordentlichen Gewalt vermischen, mit der unerklärlichen Brutalität, die jederzeit über die Welt hereinbrechen kann. Die besten Beispiele scheinen mir dafür Roberto Bolaños Roman „2666“ zu sein, in dem er sehr detailliert hunderte Morde an jungen Frauen in der fiktiven mexikanischen Kleinstadt Santa Teresa beschreibt. Leider gibt es dafür ein reales Vorbild: die mexikanische Grenzstadt Ciudad Juárez. Und Mark Z. Danielewskis Horrorroman „Das Haus“. Darin entdeckt eine junge US-Familie, dass das Haus, in das sie gerade eingezogen ist, von innen größer ist als von außen, und plötzlich tun sich in den Zimmern neue Türen auf, hinter denen sich eine unendliche und sich ständig ausdehnende Dunkelheit verbirgt.

Der Roman aus der Provinz erfreut sich zurzeit gerade auch bei jungen Autoren größter Beliebtheit. Wo liegt für Sie, der seit Jahren in der Metropole Berlin lebt, der Reiz dieses Sujets?

Obwohl ich seit fast zwanzig Jahren in Großstädten lebe, habe ich gemerkt, dass mich das Dorf doch am stärksten geprägt hat. Ich bin dort aufgewachsen, ich habe dort die wichtigste Zeit meines Lebens verbracht, die Kindheit und Pubertät. Und dann fand ich das Dorf literarisch viel herausfordernder als die Stadt. Im Dorf kann niemand anonym sein; jeder steht mit jedem in irgendeiner Verbindung. So ein Dorf, das ist ein komplexes Gebilde, ein Gebilde von unendlich vielen Geschichten, die alle zusammenhängen. Das wollte ich darstellen.

Was hat die Nominierung für den Deutschen Buchpreis mit Ihnen gemacht? Wie erleben Sie den Medienrummel um Ihre Person?

Ich bin jetzt viel auf Reisen, gebe Interviews, stelle mich den Objektiven der Fotografen und lese aus meinem Roman. Gerade war ich in Prag und Frankfurt, und jetzt geht es erst richtig los mit der Lesereise: Köln, Darmstadt, Hamburg usw. Manchmal weiß ich nicht, wo mir der Kopf steht. Ich wünsche mir einen Klon, der für mich Fragen beantwortet oder Termine wahrnimmt; aber das Gefühl, einem interessierten Publikum gegenüberzusitzen, möchte ich an niemanden abgeben.

Gibt es schon konkrete Angebote für eine Übersetzung Ihres Romans in andere Sprachen?

Nein. Vermutlich sind 1000 Seiten einfach zu aufwendig.

Wie sind Ihre nächsten beruflichen Pläne? Schreiben Sie schon am nächsten Roman und wenn ja können Sie schon verraten, wo er spielt?

Der nächste Roman spielt wieder in Jericho, ist aber keine Fortsetzung von „Gegen die Welt“, sondern der, den ich davor begonnen habe. Er handelt von Auswanderern und wird ähnlich umfangreich werden, vielleicht sogar umfangreicher. Und es wird mich wieder einige Jahre und Nerven kosten, ihn zu schreiben.

Vielen Dank für das Gespräch!

Karsten Herrmann

Jan Brandt: Gegen die Welt. Dumont Verlag 2011. 930 Seiten. 22,99 Euro. Eine CULTurMAG-Rezension des finden Sie hier. Zur Facebook-Seite des Buches geht’s hier.  Die Webseite des Buches finden Sie hier, eine Leseprobe (PDF) hier. Oberes Foto: © Monika Keiler.

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