Ebenfalls morgen Abend (2.2.) bei der „Langen Nacht junger deutschsprachiger Literatur und Musik“, der dritten „Ham.Lit“: Nora Bossong, vorgestellt von Britgitte Helbling.
Schneide den Kopf auf
Themen, die in diesem Bericht angesprochen werden: Der Kopf des Lyrikers, der Peter-Huchel-Preis, die Kokainleidenschaft von Papst Leo der Dreizehnte, das Beklauen von Dichtern, Windpocken, Arbeitstipendien in New York, Verdacht auf Heimweh. Von Brigitte Helbling
Schneide den Kopf des Lyrikers auf und schaue nach, was drin steckt. Bei Nora Bossong zum Beispiel: Geschichte und Geschichten, Gewänder und Kirchen, Natur und Familie – gemeint sind dann Eltern und Großeltern, denn diese Lyrikerin ist jung. Im Jahr 2012 wird sie dreißig, gerade wurde ihr der Peter-Huchel-Preis für ein herausragendes lyrisches Werk zugesprochen (10’000 Euro). Damit gesellt sie sich zu Koryphäen wie Sarah Kirsch, Wolfgang Hilbig, Durs Grünbein und Friederike Mayröcker. Die ausgezeichnete Neuerscheinung heißt: „Sommer vor den Mauern“ und ist in hübscher Ausgabe herausgekommen bei Hansers „Edition Lyrik Kabinett“. Übrigens muss man Bossongs Kopf gar nicht aufschneiden (als ob so etwas – für unsere Zwecke – auch nur ansatzweise möglich wäre); zu den acht Gedichtzyklen in dem Band gibt es hinten einen kleinen Anmerkungsapparat, der absolut ausschließlich nach dem Lustprinzip der Autorin zusammengestellt scheint und das eine oder andere berichtet, was nicht jedem beim Lesen der Gedichte automatisch einfallen wird.
Oder wer, unter allen Lesern dieser Welt, riefe bei dem folgenden Gedicht aus: Oho!, wird nun endlich die Dicht- und Kokainleidenschaft von Papst Leo XIII zum Thema eines ungereimten Kunstwerks gemacht!
Zweihundertsechsundfünfzig Verse
In die Archive drang die Hitze nicht.
Wir saßen vor monströsen Folianten
und rechneten an der Welt herum
als ein leuchtend weißer Greis
in unsre Mitte trat. O Dio, che sole!
rief einer der Brüder, während ihm Rhodos
unter den Fingern zu Tinte zerrann.
Die Worte tanzten auf unsern Blättern,
reihten sich neu und reimten sich.
Es waren nun griechische Verse,
die Schrift zu der des Alten umgerückt.
Wir sahen ihn an, er lachte verlegen,
sammelte schnell die Blätter ein
und verschwand kurz darauf. Alles, was blieb,
war ein Nebel im Äther, ein Coca-Duft,
der über unseren Welten trieb.
Wir neigten die Häupter
und atmeten ein.
Übrigens ist es kein leichtes Kunststück – das Bossong aber gelingt – zu diesem und einigen anderen Päpsten (ferner eine Königstochter, dem Duce, eine Brieffreundin von Luther, Paula Modersohn-Becker, etc.) unterhaltsame und vor allem kurze Anmerkungen zu schreiben, die die Gedichte zusätzlich zum Schillern bringen. Papst Leo interessiert mich gerade in der lyrischen Bearbeitung von Bossong (heißt also, ich geh nicht gleich aus dem Haus und kaufe eine Biografie über den Mann, wenn allerdings eine im Haus wäre, würde ich darin herumblättern). Und ja: Legionen von zukünftigen Lyrikforschern werden Bossong dafür danken, dass sie ihnen zumindest ein bisschen Recherche abgenommen haben. Es bleibt ja auch so noch genug an Spurensuche zu leisten.
Zum Beispiel: Woher kommt dieses Interesse, in diversen der acht Zyklen bemerkbar, an Madonnen, Kirchen, Messen und Pontifikaten? Im Zyklus „Große Exerzitien“ taucht eine katholische Großtante auf (und der Zyklusname sagt auch schon einiges), das lyrische Ich jedoch, wenn es sich zeigt (selten), zieht Gärten den Kirchen vor. Und es gibt ja auch den Zyklus, der sich den deutschen Protestanten widmet („Im Protestantenland“).
[…] Der Herbst roch klar. Norddeutscher Nebel.
Nur draußen, in den Dörfern, brannte Haar.
(„Märchen vom brennenden Mädchen“)
Oder erklärt sich die lyrisch-verspielte Papstforschung schlicht mit einem passenden Arbeitsstipendium, zum Beispiel in der Villa Massimo? Italien taucht auf Bossongs Stipendienliste nicht auf. Natürlich: Rom kann man auch privat besuchen (privat und verliebt vielleicht) und frappiert sein, und mehr als das, von den 265 Mosaikporträts in der Basilika San Paolo fuori le Mura.
Eine Aufforderung zum Beklauen! denn dafür sind unsere Lyriker auch da: Der Begriff „Botanikerlicht“, zum Beispiel, in einem Gedicht, das „Natur“ heißt. Die Verankerung von lyrischen Fundstücken im eigenen Reden und Schreiben ist das literarische Äquivalent zum Kind, das man mit Windpocken in die Kita schickt, damit es die anderen ansteckt.
Wo sie war: Mit einem Stipendium 2008 im Deutschen Haus in New York. Entweder war die Überwältigung zu groß, oder die eher magere Spiritualität der Stadt hat die Inspiration eintrocknen lassen. Die Gedichte in dem Zyklus „Neue Alte Welten“ sind die einzigen, die brav, beinah pflichtbewusst wirken, als hätte „the free world“ Bossong die Freiheit, die ihre Lyrik sonst auszeichnet, geraubt.
Oder es ist ihr zuhause einfach wohler?
An der Gete
Wir wollten uns hüten vor Kavallerien,
wir sollten uns hüten vor den Kavalieren,
die Kinder mit Konfekt verführten. Wir hüteten
nichts, wir scheuchten das Leben mit Tempo voran,
sahen zu, wie es über eine Klippe, den Rand
des Ententeiches sprang, es war ein Reif,
ein Ball, ein Tag zuviel, wir spielten noch nicht
um große Dinge, nur Länder, Steppen, Santa Fe.
Da brachen wir plötzlich in Wirklichkeit ein
da saß etwas Fremdes vor uns im Gras.
Wir schrien, doch es blieb, was es war.
Bei Botanikerlicht besehen: Was will man mit einem solchen Gedicht denn anderes machen, als sich ihm hingeben – und genießen. (Die Anmerkungen merken nichts dazu an, Google dagegen meldet, „An der Gete“ sei eine Schule in Bremen, die Stadt, in der Bossong aufgewachsen ist.)
Brigitte Helbling
Nora Bossong: Sommer vor den Mauern. Gedichte. Carl Hanser Verlag. München 2011. 96 Seiten. 14,90 Euro.