Geschrieben am 10. August 2011 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Gerlachs Unmögliche Lektüren (5)

Verrisse sind oft nicht ganz fair. Manchmal sogar richtig unfair. So wie bei uns: Gunter Gerlach stößt sich an Büchern, die anderen gut gefallen – dabei hat er sie noch nicht einmal zu Ende gelesen … Heute: Alex Capus: Léon und Louise

Im Auftrag der Regierung zur Ruhigstellung der Bevölkerung

Ich weiß ja, der Streit zwischen mir und Maja hat mit einem Adjektiv angefangen. Damit beginnen immer die Missverständnisse. Jeder hat eine andere Vorstellung davon.

Wenn es in unserer Beziehung ein wenig kriselt, schiebt mir Maja meist einen Liebesroman über den Tisch.

„Lies das mal.“

Es ist „Leon und Luise“ von Alex Capus.

Ich nehme die Strafe an und lese brav. Meist will mir Maja damit vorführen, wie unsere Beziehung sein sollte.

Das Buch fängt auch ganz gut an mit der Beerdigung des Protagonisten. Am Sarg taucht die heimliche Geliebte mit einer Fahrradklingel auf. Da will ich natürlich wissen, wie es dazu gekommen ist.

Zum ersten Mal schüttle ich auf Seite 12 leicht den Kopf. Der Erzähler berichtet von den „starken, lebenstüchtigen und warmherzigen Frauen“ der Familie. Es ist wie eine Art Erwachen. Von dieser Stelle an bemerke ich, dass Alex Capus immer das erstbeste Adjektiv benutzt und schon werden aus Sachverhalten Klischees. Ein Bursche ist „kräftig“, Müdigkeit ist „bleischwer“, man ist „wunschlos glücklich“, die Villen sind „stolz“ usw. Sprache so glatt, dass ich daran abrutsche.

Schlimmer noch sind die von mir vermuteten Intentionen des Autors. Er führt einen sogenannten kleinen Mann vor, ohne besondere Fähigkeiten und Absichten. Wo man ihn auch hinstellt, er erfüllt seine Pflicht. Vielleicht waren die Menschen tatsächlich so am Ausgang des ersten Weltkrieges. Aber dieser lässt sein Schicksal über sich ergehen wie eine Naturgewalt. Auf gleiche Weise nährt sich ihm der Krieg, erst als fernes Gewitter, die Front rückt „ungemütlich“ nah. Dieser Protagonist zeigt kaum Aufbäumen, kein Aufbegehren. Das Unwetter namens Schicksal wird ja auch wieder vorbeiziehen. Das Liebespaar wird getrennt, aber der Leser weiß vom Anfang, der Mann wird 100 Jahre alt und hat 34 Enkel und Urenkel. Die Spannung ist weg.

Ich bemerke, dass ich Absätze überspringe, dann sogar ganze Seiten. Ich lasse das Buch in den Schoß fallen und stoße wie ein Pferd mit flatternden Lippen die Luft aus.

„Wie weit bist du gekommen“, grinst Maja aus ihrem Sessel.

Ich blättere zurück. „Im Grunde nur bis Seite 94.“

Maja hebt die Arme in die Höhe. „Genau. Ich auch“, jubelt sie.

Ich nehme es als Bestätigung, dass wir doch noch zusammenpassen.

„Ist es nicht eine einzige Anweisung, sein Schicksal hinzunehmen und ja nicht aufzumucken?“, frage ich.

Maja nickt und setzt noch einen drauf: „Wahrscheinlich hat die Bundesregierung das Buch in Auftrag geben, zur Ruhigstellung aller unterprivilegierten Menschen.“

„Für Hartz-4-Empfänger.“

„Ertragt euer Schicksal: Nur die Liebe zählt.“

„Genau, genau.“

Ich stehe auf, das Buch fällt herab. Da kann es liegen bleiben. Ich küsse Maja auf die Nasenspitze.

„Ich glaube“, sage ich, die Liebe in der Realität ist noch besser, als die in den Büchern.“

Maja zieht mich zu sich herab. Alles wird gut.

Gunter Gerlach

Alex Capus: Léon und Louise. München: Hanser Verlag 2011. 315 Seiten. 19,90 Euro.