Geschrieben am 12. April 2010 von für Litmag, Porträts / Interviews

Georg Klein im Porträt

Im hellen Bärenkeller

„Zu 112,5 % autobiographisch“, so charakterisiert Georg Klein seinen neuen Roman unserer Kindheit. Im März hat er den Preis der Leipziger Buchmesse dafür gewonnen, jetzt reist er durch Deutschland, um die Zuhörer in ihr Kindsein zurückzulesen. Gisela Trahms hat ihn getroffen.

Der Ältere Bruder, wie er im Buch meist genannt wird, ist gerade 57 geworden und jung. Gut gelaunt sitzt er in der Sonne und lässt das Gespräch trudeln. Sein scharfer Blick ist gedimmt.

Wenn er zu schreiben beginne, sagt er, sei die halbe Arbeit bereits getan. Um es mit einem Bild aus dem Roman zu fassen: Er hat dann schon jene Lücke in die Häuserzeile gerissen, in die er einen hellsichtigen Blinden setzen kann. Nach den passenden Worten muss er nicht lange suchen. Der Roman unserer Kindheit erzählte sich in zwei Jahren, 446 Seiten hochkomplexe Struktur, ein irrlichterndes Kreuz und Quer und Hin und Her durch federnde Erzählebenen und Motivgeflechte, das zum Schluss, wenn sich die Lücke wieder schließt, dort mündet, wo es begonnen hat.

Der Beginn lautet: „Es blutet und blutet.“ Der Ältere Bruder ist mit der Ferse in die Fahrradspeichen geraten. Er wird zum Arzt und dann ins Krankenhaus geschafft, wo ihn die Nonnen zu seinem ungedruckt bleibenden Namen beglückwünschen. Heiliger Georg, der die Lanze gegen den Drachen schwingt! Auf einem knochenübersäten Feld reitet er auf den widerwärtigen Riesenwurm zu, ein Horrorszenario, und weil der Ältere Bruder gern ähnliche Schrecken in kräftigen Worten malt, hat die Kritik ihn zum Spezialisten fürs Schaurige gestempelt. Und wird sie etwa nicht fündig? Nicht nur am Anfang blutet es. Gegen Ende wälzt sich die Blindenhündin im Blut, bis ihr schönes weißes Fell rot trieft.

Die Welt ist bedrohlich, auch in der Kindheit. Beim Fußballspiel auf dem erhöhten Betonquadrat einer Baustelle wäre das Kind Georg um ein Haar in die Armiereisen gestürzt und aufgespießt worden. Im Roman geht es um andere, grundsätzlichere Gefahren, nicht zuletzt um einen Krieg zwischen Gut und Böse, um existentielle Schuld. Dennoch leuchtet überall ein warmes Licht. Die Kinder sind voller Vertrauen, der Leser mit ihnen. Es ist der helle, ewige Sommer der Großen Ferien.

Die kreative Energie des Lesers beatmet den Text

Der Ältere Bruder hat immer gelesen, immer erzählt. Seine Mutter, treueste Kundin der einzigen Leihbücherei im Augsburger Stadtteil Bärenkeller, verzehrte jede Woche drei Bücher. Zwei wählte sie aus, eines der Sohn. Er traf seine Wahl nach dem Eindruck von Schutzumschlag und erster Seite. Seeräubergeschichten, Landserromane, Abenteuer, Phantastisches. Und kaum hatte er ein Buch verschlungen, spuckte er es wieder aus in eigenen, ähnlichen, verwandelten Geschichten, auf die die kindlichen Freunde schon warteten. Ihnen, den Nichtlesern, stand der Mund offen, wenn er sie auf das Piratenschiff oder in den Dschungel mitnahm und mit immer schnelleren Schritten auf das grässliche oder glückliche Ende zusteuerte, das er gleichzeitig weiter und weiter hinausschob, weil die Erzähllust ihn trieb.

Der Erzähler hat die Macht, sagt der Ältere Bruder heute, aber die kreative Energie des Lesers muss den Text beatmen. Damit es gelingt, braucht das Zauberspiel den souveränen Autor, aber auch den Glauben des Lesers an die Kraft der Erzählung. Wenn der Leser nur ein Abbild dessen erwartet, was ihm täglich in Bus und Büro begegnet, fühlt er sich von Libidissi bis Roman unserer Kindheit betrogen. Denn deren Referenzsystem bildet weniger der plane Alltag als der Raum der Sprache, von den mundartlichen Wendungen des Süddeutschen bis zu den Motiven, die im Lauf der Lektüre immer bedeutungssatter werden. Was die Erzählstimme anbietet, sind „symmetrisch verspiegelte“, lustvoll abzutastende Welten, welche ihr eigenes Erzähltwerden, ihre Herkunft aus Trash, Genre und Tradition wie lauter Glitzerschmuck vor dem Leser ausbreiten.

Spannungssteigerung durch rasante Wechsel von Schauplätzen und Personen

Als Sechzehnjähriger wollte er mit einem Freund zusammen einen Roman schreiben, immer abwechselnd jeder ein paar Seiten. Es klappte nicht. Also probierte er es allein, über Jahre hinweg, hartnäckig. Lange Zeit hielten die Texte dem Blick des nächsten Morgens nicht stand. Und als sie es endlich taten, wollte niemand sie veröffentlichen. Aber der Ältere Bruder ist in einer Glückshaut geboren. Er traf Alexander Fest, heute Verlagsleiter von Rowohlt, der ihn druckte und ein Freund wurde.

Kleins Bücher polarisieren, es gab Verrisse und Hymnen. Dagegen hat der Autor weniger einzuwenden als gegen gewisse Klischees. Nicht auf seine blühenden Adjektive ist er stolz, sondern auf die Lücken (und überhaupt auf seine Schnitttechnik, möchte man ergänzen, denn in der Spannungssteigerung durch rasante Wechsel von Schauplätzen und Personen ist er ein Meister). Das Düstere reizt ihn, zugegeben. Der Schauder weckt Lust. Aber durch den Roman unserer Kindheit ziehen lauter herzerwärmende Figuren. Wer hätte nicht gern eine so liebe- und verständnisvolle Mutter? Solche Freunde? Solche Helfer? Alle sind sie durch ein heimliches Einverständnis miteinander verbunden, sie „spüren“ (ein Lieblingswort des Romans), wer wann welche Hilfe braucht, und leisten sie. Die Sonne scheint uns könnte, in einem anderen Sinne, auch dieses Buch heißen.

Der Ältere Bruder ist keine zerquälte Person. Die Literatur ist ihm nicht die Axt für das gefrorene Meer in uns. Eher stößt sie Türen auf zu erfahrungserweiternden Welten und sprachlichen Volten, die in den Kümmerreden des Alltags keine Chance haben. Des Autors liebste Sorge ist, dass er mit dem Schreiben nicht nachkommt, wenn Bilder und Figuren durch den Kopf wirbeln. Es gibt so viele Geschichten, die ins Licht drängen. Ein neuer Band mit Erzählungen von Georg Klein wird schon im Herbst erscheinen, er heißt: Die Logik der Süße. Was mag sich hinter diesem Titel verbergen? Zärtliches? Verruchtes?

Für unsere Winternahrung ist gesorgt.

Gisela Trahms

Foto: © Bauer, 2009

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| Interview: Gisela Trahms im Gespräch mit Georg Klein (taz)