Hotel Marrakesch
Eine Zeitreise. Von Frank Göhre
Es ist durchgehend geöffnet. In den frühen Morgenstunden haben allerdings nur die Orangensaftverkäufer zu tun. Ein großes Glas Saft kostet 4 Dirham, etwa 40 Cent. Danach kann man auf der Terrasse des Café de France Platz nehmen und Kaffee und Croissant ordern, le petit-dejeuner, auf dem „Logenplatz an Afrikas berühmtester Straßenbühne“.
Der Blick auf den Djemma el Fna am Morgen.
Hubert Fichte korrigiert sich: „Djemma el Fna heißt gar nicht Der Platz der Gehenkten. Djemma heißt Die Moschee, Die Versammlung. Also vielleicht Der Platz. Fna heißt Das Fenster. Das Beendete. Der Tod. Der Platz der Toten. Nicht Der Platz der Gehenkten.“
Marrakesch, Tagestemperatur Ende März 25 bis 29 Grad. Gelegentlich bedeckt.
„Marrakesch ist keine Stadt, es ist ein unabhängiger Planet, von einem göttlichen Zufall wie eine rote Hure, so hat es ein Freund einmal ausgedrückt, an die ersten Hügel des Atlas geworfen, der in der Ferne mit seinen hohen verschneiten Gipfeln leuchtet“, schreibt Cees Nooteboom. „Es ist eine Stadt, über die man in einem Buch lesen kann, für das man Jahre braucht. Am besten taucht man einfach ein, lässt sich durch alle Falltüren ihrer wilden, verwirrenden Geschichte fallen und an der Hand zu Gräbern der Dynastien mitziehen, Saadier, Almoraviden, Alouiten, sieht ein, dass man von der Geschichte Marokkos nichts weiß, und vergisst dann alle diesbezüglichen Schuldgefühle in dem ewig dauernden Trubel des Djemma el Fna.“
Vor dem Café de France bietet ein junger Marokkaner Hut tragenden Touristen Hüte an.
Der in Marrakesch ansässig gewordene Pensionär neben mir fordert von den Europäern mehr Respekt gegenüber „Frau Dr. Merkel“ ein. Er redet viel. Er nickt diskret zu den anderen älteren Herren auf der Terrasse: „Wir kennen uns hier alle.“ Er senkt die Stimme: „Wenn Sie Fragen haben?“
Die Community der Schwulen.
Ein französisches Touristenpaar sitzt bewegungslos nebeneinander. Beide starren auf ihre iPhones.
Auf dem Platz trommeln die Trommler ihre Rhythmen zu schrillen Flötentönen. Eine Akrobatengruppe zeigt, wie gelenkig ihre Körper sind. Was sie alles drauf haben.
Müder Applaus.
John Dos Passos sitzt auf einem „kleinen sonnigen Balkon in Marrakesch, vor mir der hohe kakaobraune Turm der Koutoubia mit dem pfauenfarbenen Fries, bekrönt von drei goldenen Kugeln, eine kleiner als die andere, und dahinter die schneebedeckten Berge des Hohen Atlas.“
Der 30-jährige Dos Passos schreibt in Marrakesch einen Text über „homerische Eisenbahngesänge“. Er schreibt über Blaise Cendrars, den weitgehend und völlig zu Unrecht vergessenen Schweizer Schriftsteller und Abenteurer, ein Zeitgenosse Glausers.
Friedrich Glauser ist vom April 1921 bis zum Frühjahr 1923 in Marokko. In der Fremdenlegion. Vom Vater genötigt.
Glausers Stationen sind Sidi Bel-Abbés, Sebdou, Géryville, Gourrama, Atchana und Oran: „Grau war die Ebene, und tiefe Gräben zerteilten sie. Die Ränder fielen steil ab, und es sah aus, als habe Hitze und Trockenheit die Erde auf weite Strecken gespaltet … Aber im Winter flossen in den Spalten Bäche – herab von den Bergen aus rotem Stein, die fern in der Sonne flimmerten. Und im Osten, hinter ihnen, bauten sich die Schneegipfel des Hohen Atlas auf, weiß-blendend wie glühendes Silber, gegen den dunkelblauen Himmel …“
Das Atlas Gebirge. Fast in jedem Text, quasi das Gütesiegel: Wo Atlas draufsteht, ist garantiert Marokko drin.
Marokko, lange Zeit Objekt imperialistischer Begierde, wird nach 1904/1911 in eine spanische Zone um Tanger und eine französische in den zentralen und südlichen Gebieten aufgeteilt. Es kommt zu zahlreichen innermarokkanische Stammesfehden. Der französische Generalgouverneur nutzt die Streitigkeiten. Mit dosierter Gewaltanwendung einerseits und Kooperationsverträgen andererseits gelingt es ihm, das Land weitgehend zu „befrieden“. Vollständig unter französischer Kontrolle ist Marokko aber noch nicht.
Nach dem Ersten Weltkrieg bekommt die Fremdenlegion großen Zulauf. 1920/21wird das dritte Fremdenregiment reaktiviert und ein neues viertes aufgestellt. Beide Truppen werden in Marokko stationiert. Zur gleichen Zeit setzen spanische Kolonialtruppen zur Eroberung des nördlichen Rif an. Die Operation stößt auf harten Widerstand. Abd el Krim, der Führer der Rif-Kabylen, kann 100.000 Mann mobilisieren. Auch die französischen Truppen sehen sich mit dem Partisanenkrieg konfrontiert. Die Auseinadersetzungen weiten sich zum längsten und verlustreichsten Feldzug aus, den die Fremdenlegion bis dahin geführt hat. Bis zum Ende der Kämpfe im Jahr 1935 lassen mehrere tausend Söldner das Leben.
Im Juli 1921 beginnt John Dos Passos seine Reise durch den Orient. Fünf Jahre später bereist er Marokko und macht Station in Marrakesch: „… es ist die Zeit des Nachmittagsgebets, die Stimme des Muezzins erklingt metallisch vom Himmel und verkündet, dass es keinen Gott gibt außer Allah und Mohammed sein Prophet ist.“
Wir werden morgens um Fünf mit dem ersten Gebet des Tages beschallt, zeitgleich von drei Türmen aus. Lautsprecherstimmen.
Die Gebete sind unterschiedlich, aber es gibt einen, der besonders laut und auch sehr melodisch ruft.
Im Sommer 1957 ist Allen Ginsberg zum ersten Mal in Marokko. Mit Jack Kerouac besucht er in Tanger William S. Burroughs.
Gemeinsam fügen sie Burroughs Zettelsammlung und Entwürfe assoziativ zusammen.
Der Roman Naked Lunch entsteht: „Ein Freund von mir fand sich eines Tage in Marrakesch nackt in einem Hotelzimmer, zweite Etage … (Als Kind war er von seiner texanischen Mutter in Mädchenkleider gesteckt worden … grobschlächtige aber wirksame Methode, um das Protoplasma von Kleinkindern zu deformieren.) Bei ihm im Zimmer sind drei Araber … jeder mit einem Messer in der Hand … sie beobachten ihn … das Funkeln der Klingen, kleine glitzernde Lichtpunkte in dunklen Augen … Bruchstücke einer Mordszene sinken langsam herab, wie Opalsplitter durch Glyzerin … Da die drei in ihrer animalischen Art zu langsam reagieren, hat er eine ganze Sekunde Zeit, um zu einem Entschluss zu kommen: Im Hechtsprung durchs Fenster und hinunter auf die belebte Straße …“
Wir sind mit easyjet angereist, an einem Nachmittag Ende März. Der Kleinbusfahrer kann uns nicht direkt bis zu unserem Riad in Marrakeschs Medina fahren. Das Haus liegt nur wenige Minuten vom Djemma el Fna entfernt, in einer Gasse, in der auch der spanische Autor Juan Goytisolo wohnt.
Man tritt „durch ein schweres, eisenbeschlagenes Holztor. Hinter dem dunklen Flur öffnet sich die Pracht eines Patios mit einem Gärtchen und bunten Mosaiken unter freiem Himmel. An dem runden Korbtisch nehmen wir Platz. Abdeladid, der freundlich lächelnde arabische Hausgeist, bringt eine Flasche kaltes Mineralwasser und serviert wenig später frisch gebrühten Minztee in braunen Tonbechern.“
Der Tee ist stark gesüßt. Ist sehr, sehr süß. Nach zwei Gläsern zur Mittagszeit soll man ganz schön im Schumm sein.
Hubert Fichte notiert 1970: „Der Platz Djemma el Fna ist kein Platz. Nach oben hin franst das kleine Viereck der Anlage in den Souk aus, in die dämmerigen Marktstraßen, wo es mehrere Gassen mit Schuhläden gibt. Zigtausende von Schuhen und gelben Papuschen, vor denen man nie einen Käufer sieht außer nach sechs Uhr abends. Puschen kauft man abends. Am kleineren Viereck des Platze Djemma el Fna, der kein Platz ist, das Grand Hotel und Restaurant de la France, das neu eröffnete ehemalige Hippierestaurant und die so genannte Berberterrasse, mit Bänken und blechbenagelten Tischen, wo man gut essen kann, wenn der Kellner nicht derart im Kiffschumm ist, dass er die Bestellung nicht mehr hört.“
Das ist im März 2013 anders. Wie so vieles. Die Händler auf den Märkten und in den Gassen drängen sich nicht auf. Die Bettler klammern nicht. Wir geben Münzen für ein gutes Karma.
Klapp-Klapp. Klapp-Klapp.
Das Klapp-Klapp der Ledersandalen auf dem Kopfsteinpflaster.
Auf dem Lehmboden einer Gasse ein Büschel Hühnerfedern, abgebrannte Streichhölzer und von der Sonne ausgetrocknete Exkremente.
Marokkanische Kids stellen sich in den Weg und sagen, dass man hier nicht weiterkommt. Das ist eine nette kleine Lüge. Sie wollen Geld für ihre angebliche „Hilfsbereitschaft.“ Denn natürlich kann man weitergehen.
Es wird kühler. Es dämmert.
Wir knabbern kandierte Nüsse und trinken Wodka-Martini und Rosé. Über dem Platz steigt der Rauch der Holzkohlefeuer auf.
Abends erzählen sich die in Gourrama stationierten Legionäre ihre Lebensgeschichten: „Warum bist du in die Legion gekommen?“ – „Du weißt ja, wegen Diebstahl liefert die Legion nicht aus.“ – „Der Chinese erklärte mir, das sei Kokain, und ob ich nicht den Vermittler spielen wolle. Das wurde mir zum Verhängnis.“ – „Auf den Knien ist sie vor mir gerutscht, sie, eine Lady, nur um ein Gran zu haben.“– „Sie hat sich hinter meinem Vater versteckt. Der hat mich gezwungen ins Ausland zu gehen, um dem Prozess zu entgehen … Dann bin ich ins Rekrutierungsbüro gegangen.“ – „Ich ging an den Hafen. Dort stand eine französische Besatzungstruppe, bereit zum Einschiffen. Bei ihr ein Trüpplein Russen, das sich für die Legion verpflichtet hatte. Ich schloss mich an.
Der Beatnik Allan Ginsberg hockt mit dem Legionär Friedrich Glauser auf dem Jüdischen Friedhof in Marrakesch: „… eine weite Schlachtordnung weißer Sarkophage, ein großes weißes steinernes Feld, umschlossen von einer Mauer, und an seinem Ende die großen schwelgenden Bonbonnieren der Reichen.“
Ginsberg und Glauser rauchen Kif und Ginsberg deklamiert: „Ich sah die besten Köpfe meiner Generation zerstört vom Wahnsinn, hungrig hysterisch nackt, wie sie im Morgengrauen sich durch die Negerstraßen schleppten auf der Suche nach einer wütenden Spritze, Hipster mit Engelsköpfen, süchtig nach dem alten himmlischen Kontakt zum Sterndynamo in der Maschinerie der Nacht, die armselig und abgerissen und hohläugig und high wach hockten und rauchten im übernatürlichen Dunkel von Altbauwohnungen, in Jazz-Meditation schwebend über dem Häusermeer der Städte, die dem Himmel ihre Hirne entblößten unter der Hochbahn und mohammedanische Engel taumeln sahen auf Mietskasernendächern in Strömen von Licht …“
Kif, eine Mischung aus Tabak (mindestens 20%) und Haschisch (Harz oder Blätter/Blüten).
Unser Vermieter bringt einen kleinen Brocken Haschisch vorbei. Zigaretten für die Tabakbeimischung gibt es einzeln zu kaufen, für zehn oder auch zwanzig Cent. Man kann handeln.
„Der Nachthimmel hat alles Licht aufgesogen“, schreibt Friedrich Glauser und träumt seinen Kif-Traum.
Allen Ginsberg fotografiert Peter Orlovsky, Jack Kerouac (beide in Badehosen) und William S. Burroughs (liegend und voll bekleidet) am Strand von Tanger. Im Hintergrund ein marokkanischer Junge.
1961 fotografiert Allen Ginsberg den amerikanischen Komponisten und Schriftsteller Paul Bowles auf einer Dachterrasse über dem Platz Djemma el Fna.
Robert Briatte schreibt in seiner Biografie: „Als Paul Bowles New York verließ, entdeckte er eine neue Welt, deren Existenz er niemals erahnt hätte, hätte er nicht die Brücken zwischen sich und Long Island abgebrochen. Er wird diese Welt auch nicht mehr verlassen, denn spürte er nicht schon am Anfang, dass sie besser war als alles, was er kannte? Was Paul Bowles schreibt, auch was er aufzeichnet und übersetzt (seien es nun Geschichten oder Musik), es gehört alles einer <anderen> Welt an. Einem <anderen Zustand> der Welt, schlicht: DEM ANDEREN. Was fasziniert ihn also? Ungeheuer, Künstler, Parias; die Trance, das Absurde, das Außergewöhnliche; die Wüste und der Dschungel: alles, was exzessiv ist, ob Klima, Landschaft oder Individuum. In Marrakesch sieht er, wie ein Mann sich in eine Ziege verwandelt …“
Beim Überqueren des Djemma el Fna notiert er zwei Sätze seines marokkanischen Begleiters: „Das Auge will schlafen, doch der Kopf ist kein Kissen“ und „Der Himmel erbebt, und die Erde fürchtet sich, und die beiden Augen sind nicht Brüder.“
„… leichtfüßig rannte er die steil ansteigende Straße hinauf, in die Filmkulisse des Himmels über Marrakesch, der ganze Film kippte jetzt in Schräglage, das Straßenpflaster wellt sich unter seinen Füßen …ein Tonfilm unserer täglichen Existenz … aufs Klo gehen, auf der Terrasse des Glacier sitzen und den Petit Marocain lesen, eine bescheidene kleine Tageszeitung, ejakulieren, träumen, aufwachen im diesigen Gelb und Blau des Morgens, ein Wodka-Tonic im rötlichen Dunst der Abenddämmerung, und die ganze Zeit murmelt der Soundtrack in deinem Hirn vor sich
hin …“ William S. Burroughs, Die alten Filme.
Die Zelluloid-Leichen von Marrakesch
… Fortsetzung am Samstag
Frank Göhre
Zitate aus: Robert Briatte, Paul Bowles. Ein Leben, Reinbek, 1991;
William S. Burroughs, Die alten Filme, Augsburg, 1979; Naked Lunch, Frankfurt am Main, 1978; Elias Canetti, Die Stimmen von Marrakesch, München, 1968; John Dos Passos, Orient-Express, München, 2013; Hubert Fichte, Der Platz der Gehenkten, Frankfurt am Main, 1989; Die alte Welt, Frankfurt am Main, 1992; Allen Ginsberg, Howl, Frankfurt am Main, 2004; Friedrich Glauser, Gourrama, Zürich, 1997; Juan Goytisolo, Engel und Paria, Frankfurt am Main, 1995; Tahar Ben Jelloun, Jean Genet, der herrliche Lügner, Gifkendorf, 2011; Cees Nooteboom, Nootebooms Hotel, Frankfurt am Main, 2000; Donald Spoto, Alfred Hitchcock, Hamburg, 1984