Der hoffnungsvolle Steinwurf des kleinen Jungen oder: Wohin treibt die Türkei?
–Wolfram Schütte über Nuri Bilge Ceylans grandiosen Film „Winterschlaf“.
Der 55jährige türkische Regisseur Nuri Bilge Ceylan ist bisher mit keinem seiner außergewöhnlichen Filme mit der Redseligkeit seiner Protagonisten aufgefallen; durch die Länge seiner schweigsamen epischen Meditationen schon. Aber nun hat er sie mit der Länge von 3 Stunden und 18 Minuten für seinen in Cannes ausgezeichnetes Meisterwerk „Winterschlaf“ alle übertroffen; und sich durch die Redseligkeit der drei Protagonisten, die geradezu aus der familialen Debattenwelt des Iraners Asghar Farhadi („Nader und Simin- eine Trennung“) stammen könnten, von seinen früheren Filmen radikal entfernt.
Wie der iranische Kollege versteht es auch der Türke in „Winterschlaf“ gewissermaßen zweistimmig zu erzählen, so dass der Plot des Films uns sowohl als psychologisches Kammerspiel gefangen nimmt, als auch, auf einen „zweiten Blick“, transparent wird für eine große symbolisch-allegorische Lesart (was ja genauso auch auf Christian Petzolds „Phönix“ zutrifft). In dieser zweiten Lesart scheint der Regisseur die derzeitige existenzielle & geistige Situation der laizistischen türkischen Intelligenz, zu der er ja selbst gehört, & des kemalistischen Kulturbürgertums (selbst-)kritisch zu betrachten. Ohnmächtig scheint das urbane laizistische Milieu in der Türkei angesichts des kalten Staatsstreichs von Erdogan & seiner subversiven Re-Islamisierung, die vom Land her die Städte unterwandert.
Bilge Ceylan hat seinen diesjährigen Cannes-Preis „den jungen Menschen“ in seiner türkischen Heimat gewidmet, „und denjenigen, die im vergangen Jahr ihr Leben verloren haben“: auf dem Istanbuler Taksimplatz & anderswo, soll damit gesagt sein, & bei den Protesten gegen Erdogan.
Mit dieser öffentlichen Geste hat er sich politisch positioniert, denn die jungen Leute in der Türkei haben wohl kaum den epischen Diskurs-Film besucht, als er in Kinos lief, in die sie gewöhnlich nicht gehen. Das unterscheidet den jüngsten türkischen Cannes-Sieger von dem vorletzten türkischen Cannes-Triumph, als „Yol“ 1982 die Goldene Palme bekam. Dessen Regisseur Yilmaz Güney liebte die populäre Form des politischen Films, wohingegen Bilge Ceylan selbst ein Intellektueller ist – wie seine männliche Hauptfigur Aydin (Haluk Bilginer), der nun im Mittelpunkt von „Winterschlaf“ steht.
Selbstkritisches Porträt des etablierten Modernen
Der Istanbuler Aydin war einmal ein bekannter Schauspieler, der jetzt komfortabel in einem pittoresken Hotel wohnt, das sich an einen Felsen schmiegt & ihm gehört. Es wird – wunderbar gelegen in der einzigartigen anatolischen Naturlandschaft Kappadokiens, im Zentrum der Türkei – von trendigen japanischen- & Biker-Touristen aufgesucht. Aydin, der voll elektronisch mit Laptop & Handys ausgestattet ist, eine regelmäßige Kolumne in einer Provinzzeitung hat & angeblich an einem Buch über das türkische Theater schreibt, gehören aber noch mehr Häuser der kargen Gegend. Er hat sich aus der Großstadt „aufs Land“ zurückgezogen & ist dort ein vergleichsweise reicher Mann & souveräner Herr, spricht sogar davon, dass er „ein König in seinem Reich“ sei.
Das wird schnell deutlich, weil er zusammen mit einem Handlanger in einem Geländewagen ein ärmliches Haus aufsucht, in dem eine Familie lebt, die mit der Miete im Rückstand ist, weil der alkoholkranke Vater im Gefängnis gesessen hatte & nun keine Arbeit hat. Aydin, der um Aufschub gebeten wird, schiebt seinen Handlanger vor – wie es gang & gebe in feudalistischen Abhängigkeitsverhältnissen rundum in der Welt ist. Die „schmutzige Arbeit“ macht nie die Herrschaft. Als die beiden wieder wegfahren wollen, schleudert der Schuljunge der Familie aus Wut auf den Geländewagen einen Stein, der das Beifahrerfenster demoliert.
Aydin, der bevorzugt hinter seinem Laptop in seinem mit Büchern tapezierten Arbeitszimmer sitzt & schreibt, ruft seinen Handlanger & die ältere der beiden Frauen zu sich, die mit ihm in der geräumigen Klause leben. Es ist seine frisch geschiedene Schwester Necla (Demet Akberg) aus Istanbul, die nun bei ihm & seiner wesentlich jüngeren Frau Nihal (Melisa Sözen), einer Schullehrerin, zeitweilig Unterschlupf gefunden hat. Die Herbeigerufenen sollen dem sichtlich stolzen Kolumnisten sagen, was von der Mail einer Unbekannten zu halten sei, die aufgrund einer seiner kritischen Kolumnen ihn um eine finanzielle Hilfe für ihre von der Regierung vernachlässigte Landschule bittet.
Der Fall ist insofern bezeichnend, weil ihm später seine Frau vorwerfen wird, dass er sich nur aus persönlicher Eitelkeit mit dem Problem der finanziell unterversorgten Schule beschäftige. Denn er habe bisher weder sich dafür interessiert & noch zur Kenntnis genommen, dass seine Frau mit ihren Lehrer-Kollegen sich schon seit geraumer Zeit genau darum kümmere & in der Gegend Spenden akquiriere, um mit dieser solidarischen Eigeninitiative den Versäumnissen der Regierung entgegen zu wirken. Eben jetzt hat sie deshalb in dem Hotel eine Versammlung ihrer Kollegen anberaumt – ohne ihren Mann jedoch darüber zu informieren, was ihr sofort sein Missfallen einträgt. Ohnehin traut der Besserwisser Aydin den jungen Lehrern nicht zu, die Spenden ordnungsgemäß zu registrieren. Befürchtet er gar, das dilettantische Vorhaben seiner politisch aktiven Frau könnte das Misstrauen der Behörden wecken?
Offenbar sind alle drei schon seit geraumer Zeit einander tief entfremdet – wobei Aydin als der immer besserwisserische, intellektuell arrogante, ewig moralisch überlegen auftretende pater familias agiert. Die Meinungskonflikte, die er sowohl mit seiner etwa gleichaltrigen Schwester & seiner jungen Frau hat, die fast seine Tochter sein könnte (& die er im Disput auch so behandelt), führen zu einer sich steigernden Debatte über alle existenziellen Probleme zwischen ihnen. Hier ist das geistige Zentrum des aufregend aktuellen Films, sein moralischer Glutkern!
Erst als seine sichtlich an seiner Unerschütterlichkeit verzweifelte Ehefrau Nihal die mögliche Scheidung in Betracht zieht, scheint der seine verbale Dominanz genießende Aydin sich zügeln zu wollen. Im Dunkel der Nacht lässt er das für ihn zuvor in einer qualvollen Tortur gefangene Wildpferd frei. (Eine bestürzende dokumentarische Episode des Films hat das buchstäblich vorgeführt & erinnert lebhaft an den gleichen Metapherngebrauch in John Hustons „Misfits“.) Aydin nimmt damit die demonstrativste Metapher seines Machtbewusstseins & seiner Gewaltbereitschaft zurück. Und obwohl er Nihals gesellschaftliche Aktivitäten zusammen mit ihren Lehrerkollegen verachtet & sie davon abhalten will, drängt er als Versöhnungsgeste der Widerstrebenden einen Umschlag mit einer beträchtlichen Eurogeld-Spende auf.
Der servile Imam & sein Zwangsregime
Während diese Phase des familiären Dauerzwists im warmen Licht der opulenten Innenräume an die verbalen Zerfleischungen in manchen Ingmar-Bergman-Filmen erinnert (aber auf Tschechow-Erzählungen beruht), nimmt nun durch Nihals Verhalten der Film eine Wendung ins Dostojewskihafte. Statt die Spende (ordnungsgemäß) als Schulspende zu verbuchen, eilt die junge Lehrerin mit dem Geld Aydins aber zu der ärmlichen Behausung der Schuldner ihres Mannes, denen sie die Euroscheine aufdrängt, damit sie sich damit freikaufen könnten – wenn nicht der stolze Vater, der als Alkoholiker die Familie ins Unglück gestürzt hatte, die Geldscheine unter Nihals entsetzensstarren Augen ins offene Feuer werfen würde, damit er (wie er ihr erklärt) seine Ehre in den Augen seines kleinen Sohns bewahre, die dieser ja schon mit dem Steinwurf gegen das Auto Aydins grimmig verteidigt hatte.
Zugleich hatte sein Verwandter, ein im Haus mitwohnender serviler Imam, aber den kleinen Steinwerfer dazu gezwungen, dem „feinen Herrn“(Aydin) unterwürfig die Hand zu küssen & damit um Verzeihung zu bitten: die klassische Geste der Unterwerfung in allen feudalistischen Gesellschaftsformen. Widerwillig hatte es der Junge getan, ebenso widerwillig hatte Aydin ihm dazu seine Hand überlassen. Ihm, der als Städter in einer ganz anderen urban-westlichen Welt lebt als die ihn umgebende Landbevölkerung, ist es ganz offenbar peinlich, die von ihm ignorierten, jedoch existierenden Macht- & Klassenverhältnisse vor Augen geführt zu bekommen – auch noch durch das erzieherisch-religiöse Zwangsregime des Islam, als dessen Exponent der Imam hier auftritt.
Am Ende der familiären Konflikte mit seiner Schwester & seiner Ehefrau entschließt sich Aydin, beide allein zu lassen & unter dem Vorwand einer Hasenjagd mit einem entfernt wohnenden Freund heimlich zur Flucht nach Istanbul aufzubrechen. Er lässt sich durch die verschneite Landschaft zur Bahnstation bringen, besinnt sich dann aber doch im Warteraum & kehrt wieder zurück in sein Hotel, wo ihn seine Frau erwartet: so dass offen bleibt, wie die drei Personen ihre Konflikte über den Winter hin in der Einöde lösen werden.
Nuri Bilge Ceylans „Winterschlaf“ ist ein Meisterwerk der vielfachen ästhetischen, evokativen, kritischen Balance. So grandios der Film als existenzieller Dialog-Kampf & als psychologisches Kammerspiel einen über weit mehr als drei Stunden in seinen Bann zieht, so erreicht er doch erst seine volle geistige & ästhetische Dichte & zeitdiagnostische Tiefe, wenn man die große Metapher, die er gleichzeitig in seiner zweiten Lesart auch ist, im Resonanzraum von Nuri Bilge Ceylans polyphoner Kunst stetig „mithört“. Wohin wird sich die Türkei gesellschaftspolitisch entwickeln & was haben die Säkularen aus ihrer derzeitigen Situation gelernt? Die einzige politische Hoffnung des Regisseurs ruht auf dem kleinen Jungen, der den Stein geworfen hat & sich hoffentlich nicht disziplinieren lässt.
Wolfram Schütte
Winterschlaf (Türkei, 2014). 196 Minuten. Regisseur: Nuri Bilge Ceylan. Drehbuch: Ebru Ceylan, Nuri Bilge Ceylan. Kamera: Gökhan Tiryaki. Darsteller: Haluk Bilginer, Melisa Sözen, Demet Akbag, Ayberk Pekcan u.a.
Fotos: Homepage von Trigon, Quelle.