Keine andere Kunstform kann das
Der 3 D-Film „The Walk“ hat die vielleicht schönste Kunstaktion des 20. Jahrhunderts wieder ins Bewusstsein gerufen, den illegalen Hochseillauf von Philippe Petit zwischen den Türmen des World Trade Centers am Morgen des 7. August 1974. Am 12. Juni 1994, abends um 17.15 Uhr, lief Petit 300 Meter, und die stark ansteigend, zwischen der Frankfurter Paulskirche und dem Dom. 300.00 Zuschauer folgten ihm atemlos, danach war die Stadt voller Freude und Gleichheit, weil alle gemeinsam etwas gesehen und erlebt hatten, was Paul Auster in seinem hier wiederentdeckten Essay beschreibt. Der 1994 von Alf Mayer ausgegrabene und übersetzte, damals in der FAZ erschienene Text stammt aus dem Jahr 1982. Paul Auster war noch relativ unbekannt, es brauchte einen Vorspann im Feuilleton. Hier ist er:
„Auster gehört zu jenen amerikanischen Schriftstellern der jüngeren Generation, deren leichtfüßige Erzählkunst auch im deutschsprachigen Raum mittlerweile hoch geschätzt wird. Auster, der den Einfluss von Kafka und anderen europäischen Dichtern nicht verleugnet und von der amerikanischen Literaturkritik den Beinamen „der Grübler von Brooklyn“ erhalten hat, erkennt in Petit einen Seelenverwandten. Auch Auster betreibt in seinen Romanen eine spielerisch anmutende Kunst als einziges Mittel gegen die Absurdität der Existenz. In der „New York Trilogie“ oder seinem bislang besten Buch „Mond über Manhattan“ entwirft Auster Lebensläufe, in den sich vermeintliche Zufälle als Elemente schicksalhafter Verkettungen erweisen.“
Und hier ist Paul Auster:
Das erste Mal sah ich Philippe Petit 1971. Ich war in Paris, spazierte den Boulevard Montparnasse entlang, als ich auf einen großen Kreis von Menschen stieß, die still auf dem Gehweg standen. Es schien klar, dass innerhalb dieses Kreises etwas passierte, und ich wollte wissen, was es war. Ich zwängte mich durch, spitzte die Zehen und sah einen eher kleinen jungen Mann. Alles, was er trug, war schwarz: seine Schuhe, seine Hosen, sein Hemd, sogar sein zerbeulter, seidener Hut. Die Haare, die unter seinem Hut hervorlugten, waren von hellem Rotblond, das Gesicht darunter so bleich, so ohne jede Farbe, dass ich zuerst dachte, er sei weiß geschminkt.
Der junge Mann jonglierte, fuhr auf einem Einrad, zeigte kleine Zaubertricks. Er jonglierte mit Gummibällen, Holzkeulen und brennenden Fackeln, wechselte vom Boden auf das Einrad und von einem zum anderen ohne Unterbrechung. Zu meiner Überraschung tat er das alles schweigend. Auf dem Gehweg war ein Kreidekreis gezogen. Gesten von schauspielerischem Nachdruck hielten jeden vom Eindringen ab. Seine Darbietung war von solcher Wildheit und Intelligenz, dass ein Wegschauen unmöglich war.
Anders als die Straßenkünstler spielte er nicht für die Menge. Es war eher so, als ob er das Publikum beim Verfertigen seiner Gedanken zuschauen, als ob er uns an einer tiefen, unbeschreibbaren Obsession teilhaben ließ. Und doch war nichts offenkundig Persönliches an dem, was er tat. Alles enthüllte sich sozusagen metaphorisch, auf einen Schlag, alleine durch das Medium der Darbietung. Sein Jonglieren war präzise und selbstbezogen wie eine Unterhaltung, die er mit sich selber führte. Er zelebrierte komplizierte Kombinationen, ausgeklügelte mathematische Formeln, Arabesken von übersinnlicher Schönheit, während er gleichzeitig seine Gesten so einfach wie nur möglich hielt. Bei allem strahlte er einen hypnotischen Charme aus, oszillierend irgendwo zwischen Dämon und Clown. Niemand sprach ein Wort. Es war, als ob sein Schweigen Kommando für andere sei, ebenfalls zu schweigen. Die Menge schaute zu, und nachdem die Darbietung zu Ende war, legte jeder Einzelne Geld in den Hut. Ich begriff, dass ich noch nie zuvor so etwas gesehen hatte.
„Ich sah die Stadt nicht mehr auf die gleiche Art…“
Das nächste Mal sah ich Philippe Petit einige Wochen später. Es war spät in der Nacht – vielleicht eins oder zwei am Morgen – und ich ging die Seine entlang, nicht weit von Notre-Dame. Auf der anderen Straßenseite sah ich plötzlich mehrere junge Leute durch die Dunkelheit flitzen. Sie trugen Seile, Kabel, Werkzeuge und schwere Taschen. Neugierig wie ich bin, hielt ich mit ihnen auf meiner Straßenseite Schritt und erkannte in einem von ihnen den Jongleur vom Boulevard Montparnasse. Mir war sofort klar, dass etwas im Gange war. Aber ich konnte mir nicht annähernd ausmalen, was das sein könnte.
Am nächsten Tag, auf der Titelseite der „International Herald Tribune“, erhielt ich meine Antwort. Ein junger Mann hatte ein Drahtseil zwischen den Türmen von Notre-Dame gespannt und darauf drei Stunden jongliert und getanzt, zum Staunen der Menschenmengen darunter. Niemand wusste, wie es ihm gelungen war, das Seil zu befestigen und dabei der Aufmerksamkeit der Behörden zu entgehen. Nach Rückkehr auf die Erde war er verhaftet worden, belangt wegen Ruhrstörung und allerlei anderer Verstöße. Aus dem Artikel erfuhr ich auch seinen Namen: Philippe Petit. Ich hatte nicht den leisesten Zweifel, dass er und der Jongleur identisch waren.
Die Notre-Dame-Eskapade machte einen tiefen Eindruck auf mich und beschäftigte mich weiter über die Jahre, die folgten. Immer wenn ich an Notre-Dame vorbeiging, sah ich vor mir das Foto, das damals die Zeitung gedruckt hatte: ein beinahe unsichtbares Drahtseil zwischen den enormen Türmen der Kathedrale, und dort, genau in der Mitte, wie von Zauber in der Luft gehalten, eine winzige menschliche Figur, ein Pünktchen von Leben gegen den Himmel. Die Kathedrale direkt vor meinen Augen, war es mir unmöglich, ihr nicht jenes Bild der Erinnerung hinzuzufügen, als ob sich dieses alte Pariser Monument, vor so langer Zeit zum Ruhme Gottes gebaut, in etwas anderes verwandelt hätte. Aber in was? Das auszudrücken war schwierig. In etwas Menschlicheres vielleicht. Als wenn die Steine nur die Spur eines Menschen trugen. Freilich, ein reales Zeichen gab es dort nicht. Das Zeichen hatte ich mit meinem Verstand gemacht, und es existierte nur im Gedächtnis. Die Beweislage aber war unwiderlegbar: meine Wahrnehmung von Paris hatte sich verändert. Ich sah die Stadt nicht mehr auf die gleiche Art.
„Wenn darin Schönheit liegt, dann wegen der Schönheit, die wir in uns fühlen …“
Natürlich ist es etwas Außerordentliches, hoch über der Erde auf einem Drahtseil zu laufen. Jemandem dabei zuzusehen, versetzt uns in spürbare Erregung. In der Tat gibt es sicherlich nur sehr wenige, die, den notwendigen Mut und die Fähigkeit vorausgesetzt, es nicht selbst gerne tun würden. Dennoch ist die Kunst des Hochseillaufens nie sehr ernst genommen worden. Weil der Hochseillauf gewöhnlich im Zirkus stattfindet, hat er automatisch marginalen Status. Schließlich ist der Zirkus etwas für Kinder, und was verstehen Kinder von der Kunst? Wir Erwachsenen haben wichtigere Dinge zu bedenken. Da gibt es die Kunst der Musik, die Kunst des Malens, die Kunst des Bildhauens, die Kunst der Poesie und der Prosa, die Kunst des Theaters, die Kunst des Tanzens. Aber die Kunst des Hochseillaufens? Schon der Begriff allein scheint lächerlich. Falls Leute sich überhaupt damit aufhalten, klassifizieren sie das Hochseil meist als eine unbedeutende Art der Leichtathletik.
Gefahr freilich gehört zum Hochseillaufen. Wenn jemand zwei Zentimeter über dem Boden auf einem Seil läuft, reagieren wir anders, als wenn er auf einem Drahtseil sechzig Meter über der Erde geht. Aber Gefahr ist nur der eine Teil. Anders als der Stuntman, dessen Darbietung jede haarsträubende Gefahr herausstreicht, strebt der gute Hochseilläufer danach, sein Publikum die Gefahr vergessen zu lassen, es wegzulocken von den Todesgedanken durch die Schönheit dessen, was er auf dem Drahtseil tut. Unter der größtmöglichen Beschränkung arbeitend, auf einer Bühne von nicht mehr als einem Zoll Breite, ist es sein Job, eine Sensation grenzenloser Freiheit zu erzeugen. Jongleur, Tänzer, Akrobat – er vollführt am Himmel, womit andere auf der Erde schon zufrieden wären. Die Sehnsucht ist weit gesteckt und zugleich ganz natürlich, ihre Anziehungskraft besteht letztlich aus ihrer völligen Zwecklosigkeit. Keine andere Kunstform, scheint mir, betont so deutlich den tiefen ästhetischen Impuls in uns allen. Immer, wenn wir einen Menschen auf einem Hochseil laufen sehen, ist ein Teil von uns dort oben mit ihm. Anders als Darbietungen anderer Künste ist das Erleben des Hochseillaufens unzweideutig, unmittelbar, einfach, braucht keine Erklärung. Die Kunst ist die Sache selbst, das Leben in der aller nacktesten Form. Wenn darin Schönheit liegt, dann wegen der Schönheit, die wir in uns fühlen.
Als ich Philippe 1980 endlich kennenlernte, wurde mir klar, dass all meine Annahmen über ihn richtig gewesen waren. Dies war kein Draufgänger oder Stuntman, sondern ein einzigartiger Künstler, der mit Witz und Intelligenz über seine Arbeit sprechen konnte. Wie er mir damals sagte, wolle er nicht, dass die Leute ihn für „irgendeinen dummen Akrobaten“ halten. (…)
Petit in New York
(Paul Auster beschreibt dann, wie er 1982, bei der Grundsteinlegung der Kathedrale „Saint John the Devine“ auf der Amsterdam Avenue in New York seinen Freund Philippe zum ersten live auf dem Hochseil erlebte.)
Zufällig befand ich mich Schulter an Schulter mit Cyrus Vance, 1977 – 1980 Außenminister der USA, auf den Stufen der Kathedrale. Ich in meiner abgeschabten Lederjacke und er in seinem tadellosen, blauen Anzug. Aber das war egal. Er war ebenso aufgeregt wie ich und die Kinder um uns herum. Dieser Moment war es, als ich damals plötzlich das Wichtigste am Hochseillaufen verstand: es führt uns zurück auf unsere Menschlichkeit. Ein Staatssekretär, ein Dichter, ein Kind: wir wurden voreinander gleich, und in jedem war ein Teil von anderem.
Philippe begrüßte die Menge mit einer anmutigen, bravourösen Geste, griff seinen Balancestab fest mit beiden Händen und begann seinen langsamen Aufstieg auf dem Drahtseil. Schritt für Schritt ging ich mit ihm dort oben, und allmählich wurde die Höhe bewohnbar, menschlich, mit Glück erfüllt. Er ließ sich auf ein Knie nieder und begrüßte erneut die Menge; er balancierte auf einem Fuß; er bewegte sich besonnen und majestätisch, strahlte Sicherheit aus. Dann – plötzlich – gelangte er an eine Stelle auf dem Seil, soweit entfernt von seinem Ausgangspunkt, dass meine Augen den Kontakt mit den umliegenden Bezugspunkten verloren: mit dem Hochhaus, der Straße, den anderen Leuten. Er war nun beinahe direkt über mir, und als ich mich zurückbog, um das Schauspiel in mir aufzunehmen, konnte ich nur noch das Drahtseil, Philippe und den Himmel sehen. Nichts sonst war da. Ein weißer Körper gegen einen nahezu weißen Himmel. Als wäre er frei. Die Reinheit dieses Bildes brannte sich in mein Herz, und es ist noch heute da, völlig gegenwärtig.
Von Anfang bis zum Ende, nicht ein einziges Mal, dachte ich, dass er fallen könnte. Risiko, Todesangst, Katastrophe: sie waren nicht Teil der Darbietung. Philippe hatte die volle Verantwortung für sein Leben übernommen, und ich spürte, dass nichts auf der Welt diese Entschlossenheit erschüttern könnte. Hochseillaufen ist keine Kunst des Todes, sondern eine Kunst des Lebens – Leben gelebt bis zur äußersten Grenze des Lebens. Das heißt, das Leben versteckt sich nicht vor dem Tod, sondern schaut ihm geradewegs ins Gesicht. Jedes Mal, wenn Philippe den Fuß auf das Hochseil setzt, hat er sein Leben in der Hand und lebt es in all seiner heiteren Unmittelbarkeit, in all seiner Freude.
Paul Auster
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Alf Mayer
Foto Auster: David Shankbone. Wikimedia Commons, Quelle.
Foto Petit: Chrisa Hickey. Wikimedia Commons, Quelle. Author