Geschrieben am 5. Dezember 2015 von für Comic, Litmag

Augenzeugenbericht: Impossible Comic-Lesung

http://media.cargocollective.com/1/19/613010/headerimg/Header_Logo.gif

11887940_1110733308941655_4534557882295908465_nImpossible Comic-Lesung: Walt Disney trifft Carmilla unter Palmen in den Weiten des Universums.

Im Rahmen einer Vorveranstaltung des Comicfestivals Hamburg lasen vergangenen Sommer vier junge Comiczeichner in einem Plattenladen im Schanzenviertel aus ihren Comics. Anlass, sich das Format näher anzuschauen – „Comic-Lesung“: qu’est-ce que c’est? von Brigitte Helbling

„WEißT DU, MEIN JUNGE, DIE ASTRONOMIE KANN AUCH AUCH SPANNEND SEIN.“ (Vismann: Nomaden)

nomad_pg05_800
Der erste war Jan Vismann. Zeichner aus Hamburg, Mitarbeiter bei Luks, eine Comiczeitschrift aus dem Hamburger HAW-Studenten-Zeichnerbecken, die sich vor kurzem mit Crowdfunding bereits ihre zweite (von bisher vier) Ausgabe finanziert hat (4526 Euro). Vismanns erster Comic „Nomaden“ war gerade erschienen, beim Leipziger Jaja-Verlag. Die Geschichte spielt in der Zukunft, oder, wie es auf Vismanns Website heißt: „the life after an impact.“ Sie ist die klassische Was-wäre-wenn-Story aus einer Sci-Fi-Distopie, so tight erzählt, dass eine simple Lesung die Eleganz der Geschichte abbilden kann. Die Panels aus dem Buch tauchten einzeln oder als Halbseiten auf, in Mini-Gruppen, Streifen auf der Beamerleinwand. Den Figuren gab Vissmann unterschiedliche Stimmen, im Fall eines Roboters kam ein Mehrwert dazu, nichts in der Sprechblasenschrift wies auf diesen abgehackten Vortrag hin. Und was wächst in „the life after an impact“? Blätter die aussehen wie Patronenhülsen, oder wie Schreibfedern, oder wie saure Lutscher…
vismann vignette„Comic-Lesung“, qu’est-ce que c’est?

Die Antwort ist, wie die Comics selbst, im Fluss. Das macht die Technologie, die erweiterten Möglichkeiten der Bildpräsentation, das macht die zunehmende Lust der Comicschaffenden, ihr Arbeiten in einem (selbstbestimmten) Rahmen zu präsentieren – in vielen Fällen kann man sagen: zu inszenieren – anstatt lediglich auf einer Bühne zu sitzen, mit netten Menschen über das Werk zu reden und hinterher Bücher zu signieren.

Wir aber sind im Hamburger Schlachthausareal. Es ist Ende Juli, Ende der Sommerpause, Auftakt zu nächsten Comic-Events in Hamburg, die Stadt der Comics, was die Stadt in ihrem Stadtmarketing aufnehmen könnte, aber nicht tut. Immerhin unterstützt die Hamburger Kulturbehörde das Comicfestival mit einem niederen vierstelligen Betrag. Ansonsten gilt, ob in- oder außerhalb des Festivals: Veranstaltungen rund um Comics laufen über Selbstausbeutung und Begeisterung für die Sache und dem beständigen Experimentieren mit den vielen Arten, in denen sich graphische Literatur in kleinen Galerien und leerstehenden Ladenlokalen, Comicläden und Plattenläden präsentieren lässt.

„Hanseplatte“ heißt der Ort, in dem wir sitzen, tagsüber ein Laden für Vinyl, CD und andere feine Sachen, heute Abend eng bestuhlt und rappelvoll. Vier Comiczeichner sind zur Lesung angereist, aus Hamburg, Berlin, Leipzig, Münster; drei davon haben ausschließlich Arbeiten im Gespäck, die sich in verschiedenen Stadien des Noch-nicht-fertig bewegen.

„ÄNGSTLICHE UND WEINERLICHE KÜNSTLER SIND MEIST KOOPERATIV UND ANSPRUCHSLOS.“ (Haifisch: von Spatz)

16859564637_d872a1eab2_b
Die zweite war Anna Haifisch, Comic-Künstlerin aus Leipzig, Mitbegründerin des „The Millionaires Club“, ein Comic- und Graphikfestival mit Hauptbrunftzeit während der Leipziger Buchmesse, Mit-Verlegerin der „Tiny Masters“, selbstkopierte, selbstgeheftete Miniatur-Comics aus dem Freundes- und Bekanntenkreis, die im Abo-System vertrieben werden. Das Setting ihres ersten größeren Werks „Von Spatz“ (das dann im Oktober bei Rotopol-Press erschien) ist eine Nervenheilanstalt für ausgebrannte Künstler in der amerikanischen Wüste. (Das ist Leipzig, der Blick konsequent auf die Große Weite Welt gerichtet.) Die Künstler, die sich identifizieren lassen, sind Walt Disney, Tomi Ungerer und Saul Steinberg, die popkulturellen Referenzen fliegen kreuz und quer durch die Szenen, aber low-key, wissen braucht man wenig, um dieses merkwürdige Buch zu genießen. Im November hat Haifisch den e.o.plauen Förderpreis erhalten. Zur Lesung nach Hamburg hatte sie Tracks mitgebracht, die unter den Bildern durchliefen, ein Sound-Teppich zu den Panels, die sich mit fortschreitendem Vortrag allmählich zu einem Seitenlayout zusammenfügten. Die Sprechblasen wurden vorgelesen, als seien sie entfernte, unerwartet unterhaltsame Bekannte. Seine großen Momente erlebt „von Spatz“ immer wieder wortlos, mit Künstlern, die auf ihren Betten liegen, oder traurige Pinguine füttern. Dem Trübsinn entgegen wirkt dann die Farbgebung, sämtliche Farben des Regenbogens, Gelb und Rot und Blau und Lila und Orange, und alle entspringen sie einem Topf voll Gold, alchemistisch hervorgegangen aus dem artistic struggle der Künstlerin selbst, oder irgendetwas in der Art.

the-artist11-vice-anna-haifisch
Dass man mit Präsentationsgeschick einen Comic in Bewegung bringen kann, liegt auf der Hand, das macht schon die Nähe des Comics zum Film, oder vielleicht auch die Sehnsucht des Comics nach dem Film.

Überraschender ist die Musik, sind die Sounds, wenn sie denn kommen, und an diesem Abend im Plattenladen kommen sie entschieden. Soundwelten werden in allen vier Präsentationen eingebracht, als sei es ganz natürlich, dass aus Panels Geräusche und Tracks hervorgehen, und natürlich ist es das auch. Vor einer Weile schrieb ich mit einem befreundeten Popredakteur ein Vorwort über Comics und Musik; wir schrieben aus unserer Sicht, der Sicht von Rezipienten, die beim Comiclesen Dinge hören. Klänge. Rhythmen. Beats. Sind das Geigen? Ein ganzes Neue-Musik-Orchester! (Ein einzelner Vogel im Morgengrauen.) Dass es Comic-Machern umgekehrt ein Anliegen sein könnte, ihre Bilderwelten „hörbar“ zu machen, war an diesem Abend offenkundig und ging über Text und Sprache weit hinaus.

(Ich hör was was du nicht hörst.)

Assoziationsglied, historisch. Kaum wurden bewegte Bilder massentauglich in die Kultur eingeschleust, saß ein Mensch am Klavier und spielte dazu… Da ist es wieder, das Kino. Liegt es vielleicht auch am Nachhall der kollektiven Erinnerung an das Kino-Abenteuer der Stummfilmzeit, wenn stotternd aufeinander folgende Bildelemente (das stottert dann im Leserkopf) unablässig Musik zu produzieren scheinen?

„A CARRIAGE?“ – ROMPEL – HOO! (Wellmann/Kolodzie/Le Fanu: Carmilla)

tumblr_ntat30Ah3R1ut0jh7o1_1280
Der dritte war Thomas Wellmann, der einzige in der Viererkombo, der für seine grafische Novelle „Carmilla“ mit einem Autor, oder eigentlich zwei Autoren arbeitet. Ein Autor ist lange tot: Sheridan Le Fanu schrieb die Vampirgeschichte „Carmilla“ 1872, sie gilt als Inspiration für Bram Stokers „Dracula“. Der andere, Dominik Kolodzie, verfasst aktuell mit der Adaption des Stoffs auch sein erstes Comic-Skript. Wellmann hat bereits zwei Comics verlegt (bei Rotopol-Press); er hat im Animationsfilm gearbeitet und unterrichtet an der FH Düsseldorf. „Carmilla“ erscheint im kommenden Jahr bei Reprodukt, das Work ebenfalls noch in progress. Aber Wellmann weiß, wo es hinwill, das ist der Vorteil an externen Autoren (und Literaturadaptionen). Wellmanns beinah kindlichen Comicfiguren wirken nicht unpassend zu dem Grusel-Stoff einer weiblichen Vampirin, die ein junges Mädchen verführen will (eine doppelte Verneinung stellt natürlich immer ein Fragezeichen in den Raum. Die Figurenzeichnung ist im Kontext des historischen Grusels überraschend, meine ich damit, aber man ergibt sich seiner präzisen Charakterzeichnung schnell). Auch Wellmann setzte auf Sounds, in einer DIY-Art, Bierflaschen für Windgeräusche, raschelndes Papier, Schnalzen und Zischen, alles mit schöner Mikro-Disziplin vorgetragen. Die aufgebeamten Panels arbeiten mit Effekten – Lichter erscheinen im Wald, Figuren wabern hinter Bäumen, der Comic an der Grenze zur Animationskunst. Selbst ohne Trick-Elemente war „Carmilla“ von den vorgestellten Arbeiten diejenige, die am meisten Bewegung enthielt. Kutschen jagten durch die Nacht, Feuer flackerten, Figuren stürzten ins oder aus dem Szenenbild, und grundsätzlich ist die Natur bei Wellmann ohnehin eine lebhafte Sache, Pflanzen, Sträucher und Bäume sind brisenbewegt oder noch mehr, sturmgetrieben, in Erwartung des kommenden (Geister)Aufstands. Wellmanns tumblr zeigt Carmilla in einer englischen Fassung: für „Rumpel“ steht da „Rompel“, ein Soundwort, das das Holpern einer Kutsche über einen Feldweg markiert und jeden Angelsachsen verblüffen wird (hübsche Vorstellung).
tumblr_static_1dzenawoyfmsss8w484ck8o04Lesungs-Muffel werden bei Comic-Lesungen gut bedient.

Das liegt an der grundsätzlichen Unmöglichkeit des Vorhabens. Keine Präsentation kann das In- und Mit- und Über- und Untereinander von Zeichnung und Panels und Sprech- und Kastentexten einzufangen, die sich lesend doch (meist) zwanglos erschließt. Also wird ausgewichen, auf Kontext gesetzt, innerhalb des Werks, oder außerhalb (Mawils Schreibwerkstatt, Nicolas Mahlers Selbstinterview). Impossible „Comic“-Lesung. Ging es an dem Abend im Schlachthof nicht ohnehin um etwas anderes: Die Präsentation der Arbeit am Werk, am Ineinander von Text und Bild, live, vor unsern Augen?

Was selten gelingt (Anfang Oktober gesehen), ist das Endergebnis/die Seite/die Doppelseite als Ganzes zu zeigen; mehr noch, wenn ein comicferner Autor die Blasen liest: Eine Frage der Bildgröße, und vor allem, vor allem! des Timings.

Was also tun. Die Zuschauer an der Hand nehmen, ihren Blick lenken, und, warum nicht, ihr Ohr schulen; für Sprechtexte und Sounds zwischen Panels, oft solche, auf die sie selbst nie gekommen wären.

Stille geht auch, auch Stille ist Klang (John Cage).

„SHIT IS REAL“ (Franz: Shit is real)

tumblr_na9aujaAhn1t0fm30o1_500
Die vierte war Aisha Franz aus Berlin, die bekannteste unter den anwesenden Künstlern (die internationale Indie-Comic-Szene hat – graphisch gesehen – einige Aisha-Franz Look-alikes hervorgebracht). In die Hanseplatte brachte sie ganz unterschiedliche Arbeiten mit, alt und neu, manches unerwartet bunt, anderes glamourös auf eine graphit-tonige-Art. Shabby Chic im Comic. Die Präsentation arbeitete sich in mindestens einem Fall mit Zooms in eine seitenfüllende Comicseite hinein: Das Panel als Puzzle in progress. Davor setzte Franz übereinander diverse Sonnenbrillen auf, passend zu den Mützen, die sie übereinander trug; Brillen und Mützen wurden im Laufe des Auftritts nacheinander abgelegt. Es war ein unerwartet theatraler Gestus innerhalb dieser Vierer-Lesung, die Vortragende willens (und fähig), Teil ihrer Show zu sein. Auch Franz arbeitete mit Tracks, mehr noch: Mit Songs, und der Franzsche Musikgeschmack ist exquisit, es kamen lauter Titel, die ich mir hätte merken wollen. Diese Songs erweiterten die Bildwelten weniger illustrativ als prinzipiell, als herrsche im kreativen Kopfhaushalt von Franz ein kontinuierlicher Austausch zwischen den Medien. Das in Arbeit befindliche Werk, „Shit is real“, wurde eher gestreift als vorgestellt – es sei, meinte Franz, noch einiges im Umbruch (und ja, es sind hohe Erwartungen da; Franz gehört zu den versiertesten Erzählerinnen im deutschsprachigen Raum.) Bis zur Drucklegung war ja auch noch Zeit, ein halbes Jahr mindestens: Erscheinungstermin bei Reprodukt ist im März 2016.

11899949_1110732608941725_1486117786905696482_n

EINE ART FAZIT

Schließ die Augen, und du trittst in einen experimentellen Klangraum, eine Spoken Word Performance. Öffne sie, und dir treten Bilder entgegen, (schlurfen, schreiten, schweben), angespült am Strand deiner Wahrnehmung, mit und ohne Brandungsgeräuschen. Den Comic lernt man in einer Lesung weniger kennen als seine Kunst, nicht die Erzählung, sondern die Erzähler, die Erzählerinnen, die sich selbst als Performer erfinden, jede auf ihre Art.
Ein weiter Raum für Überraschungen.

Wer könnte etwas dagegen haben?

(Weitere Gedanken dazu.)

Mir sagte einmal jemand, Menschen ab vierzig würden keine laute Musik mehr vertragen. Das Hirn von Jugendlichen dagegen brauche Musik, leise und vor allem laut, um glücklich zu werden.

Fakt. Die Musik um mich herum hat hörbar abgenommen.

Aber dann dachte ich an Pablo Casals, der angeblich jeden Tag eine Stunde Musik spielte, jeden Tag!, und in einem sehr hohen Alter starb.

Wenn Musik-Machen glücklich macht, macht es das Comic-Machen auch?

(Und was heißt das für die Stones?)

Fragt man einen Comic-Schaffenden, ob er oder sie Musik beim Arbeiten höre (und wenn ja, welche), wird die Antwort mal so, mal so ausfallen. Etwas anderes hören dagegen fast alle beim Zeichnen („in der Phase“, sagt Aisha Franz, „wo es mehr um Fleiß geht“):

Hörbücher.

(TBC)

Tags : , , , , , , , , ,