Geschrieben am 19. Februar 2006 von für Litmag

Erinnerung an B. Allason und eine große Turiner Kultur

Ziviler Liberalismus

Mit den Olympischen Winterspielen hat diese Erinnerung nichts zu tun, mit der jüngeren Geistesgeschichte von Turin aber sehr viel. Barbara Allason ist heute ein vergessene Frau und von der Kultur, die sie repräsentierte, berichten nur noch einige Bücher.

Man stößt auf den Namen Barbara Allason heute eher beiläufig. In Fußnoten oder in Nebensätzen. Zum Beispiel in einem längst vergriffenen Buch des Regensburger Romanisten Johannes Hösle über den Schriftsteller Cesare Pavese. An einer Stelle kann man da lesen, dass es in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Turin eine Reihe antifaschistischer Zirkel gegeben habe. Namen werden genannt: Augusto Monti, der von Cesare Pavese verehrte Studienrat und Schriftsteller. Franco Antonicelli, Verleger und Privatlehrer im Hause Agnelli. Vittorio Foa, der gebildete Gewerkschafter, Historiker und enge Freund von Primo Levi. Hösle führt auch den Namen von Barbara Allason an, enthält sich aber jeder weiteren Ausführung über sie. Auch Norberto Bobbio erwähnt ihren Namen in seiner ansonsten von ‚grandi maestri ed intelletuali‘ nur so überquellenden Erinnerung an die urbane Kultur Turins in der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts „‚Trent‘ anni di storia della cultura a Torino“ (Einaudi, 2002) lediglich in einer Fußnote. Man wird neugierig. Frauen waren in akademischen Kreisen jener Jahre in Turin eher eine Ausnahme. Auch der intellektuelle Antifaschismus war deutlich männlich dominiert. Man stritt für Zivilität, Urbanität, Gleichberechtigung, aber Frauen schienen aus diesen Debattierzirkeln ausgeschlossen zu sein. Immerhin wurden sie, zum Beispiel Barbara Allason, von Chronisten jener Jahre in Fußnoten zur Kenntnis genommen. Wer war also diese Frau, deren Namen eher eine angloamerikanische denn italienische Herkunft vermuten lässt?

Aus der beiläufigen Erwähnung des Pavese-Buches und der Bobbio-Erinnerungen hat man nur einige sehr vage Anhaltspunkte, um seine Suche nach der Identität dieser Frau zu beginnen: Barbara Allason war eine offensichtlich antifaschistisch gesonnene Frau, die sich in den dreißiger Jahren im Umkreis regimekritischer turiner Intellektueller bewegte. Nur mit diesem spärlichen Vorwissen und großer Neugierde im Gepäck beginnt man die Recherche. Registriert schnell, dass jene Barbara Allason eine heute in Italien vergessene Frau ist. Viel wisse er auch nicht über die mit der deutschsprachigen Kultur so eng verbundene turiner Schriftstellerin und Übersetzerin Allason zu sagen, wird einem vom Germanisten Claudio Magris beschieden. Er glaube aber, dass sie große Verdienste für den deutsch-italienischen Kulturaustausch habe. Von Nello Ajello, dem für ‚La Repubblica‘ schreibenden Chronisten des intellektuellen Lebens in Italien, erfährt man immerhin, dass diese Frau zu Unrecht vergessen sei. Eine Nachforschung würde sich lohnen. In den einschlägigen Biographie-Lexikas findet man nur wenige Daten präsentiert. Aber immerhin kann man von dort nach weiteren Mosaiksteinchen suchen. Ganz uninteressant und unaktuell scheint es nicht zu sein, sich weiter auf das Leben und das Werk der Allason einzulassen. Für die Vermittlung deutschsprachiger Literatur und Kultur in Italien spielte sie zu ihren Lebzeiten offensichtlich eine bemerkenswerte Rolle. Und wenn man ihrem Leben nachspürt, ist man schnell inmitten eines dichten Netzes von Intellektuellen und Politikern, die als die Schlüsselfiguren der liberal-urbanen Tradition Italiens angesehen werden. Eine Kultur, die Italien in den Nachkriegsjahrzehnten stark geprägt hat und über die heute fast ausschließlich nur noch in der Vergangenheitsform geschrieben wird.

Geboren wurde Barbara Allason am 12. Oktober 1877 in Pecetto Torinese, einem kleinen Dorf in den Bergen unmittelbar am südlichen Stadtrand vor Turin. Sie wuchs in einem zweisprachigen Elternhaus auf, da ihre Mutter Pauline aus Österreich stammte und ihr die Kenntnis der deutschen Sprache schon in den frühen Kinderjahren vermittelte. Der Vater Ugo war General im Heer der Savoyer. Die weiteren biographischen Grunddaten sind nicht sonderlich aufregend. Barbara Allason wurde piemontesisch streng erzogen und tief von einer geschlossen katholischen Welt geprägt. An einem entscheidenden Datum ihres weiteren Lebens hat sie sich jedoch auf die Seite der laizistischen Aufklärung und gegen die vatikanische Diplomatie entscheiden. Wir werden sehen.In Turin absolvierte sie das „Liceo Cavour“. Ihr Studium der deutschen Philologie begann sie an der Universität Neapel, wo sie auch die Bekanntschaft mit dem Philosophen Benedetto Croce machte, der ihre katholische Formierung zur Welt, zum Liberalismus, später zum Antifaschismus öffnete. Schon früh, ab 1900, begann Barbara Allason mit dem Schreiben für verschiedene Zeitschriften, denen sie zum Teil ein halbes Jahrhundert lang verbunden blieb. Sie schrieb erste Essays über Detlev von Liliencron, über Stefan George, Theodor Fontane, Hugo von Hofmannsthal, Marie von Ebner-Eschenbach. An der Universität Turin schloss sie ihr Studium bei dem damals sehr renommierten Germanisten Arturo Farinelli mit einer Promotion über Caroline Schlegel ab. In den zwanziger Jahren war Barbara Allason überaus produktiv und schrieb eine Reihe belletristischer Arbeiten („Quando non si sogna piu“, „La luce che torna“ ecc.), die aber die Zeit nicht überdauerten. Vor allem aber konzentrierte sie sich in dieser Zeit mit großer Leidenschaft und einem ungemeinen Fleiß auf die deutschsprachige Literaturgeschichte. Es erschienen Studien über Caroline Schlegel, Bettina Brentano, die Nibelungensage. Sie übersetzte den „Torquato Tasso“ von Goethe, „Sterben“ von Schnitzler, „Klingsors letzter Sommer“ von Hermann Hesse. Die Liste ihrer Übersetzungen ist lang und die Namen der Autoren haben fast alle einen überragenden Klang in der deutschen Literaturgeschichte: Lessing, Schiller, Fichte, Jakob Wassermann, Friedrich Hebbel, Friedrich Nietzsche, E.T.A.Hoffmann. Warum nur sind heute jene Intellektuellen, die jahrzehntelang zwischen der deutschsprachigen und der italienischen Kultur als Übersetzer fungierten, so sehr vergessen, von den wenigen Frauen ganz zu schweigen?

Sie verließ die Universität und bekam am „Liceo Cavour“ eine Stelle als Lehrerin für die Deutsche Sprache. 1928 habilitierte sie sich und erhielt an der Universität Turin eine Stelle als Privatdozentin. In diesem Jahr unternahm sie auch eine längere Auslandsreise nach Paris und Berlin. In Paris besuchte sie das Grab des geliebten Freundes und intellektuellen Lehrers Piero Gobetti. In Berlin wurde sie in der Person des Althistorikers und Mussolini-Verehrers Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff mit einer elitär-konservativen Kultur konfrontiert, die in vollständiger Distanz zu ihrem verehrten Lehrern Benedetto Croce stand. Gerade erst ein Jahr hatte sie ihre Arbeit an der Universität Turin aufgenommen als ihr die Stelle bereits wieder wegen ihrer antifaschistischen Sympathien entzogen wurde. Insbesondere ihre Unterstützung für Benedetto Croce nahm man ihr übel. Croce hatte die Lateranverträge zwischen dem faschistischen Staat und dem Vatikan offen abgelehnt.

Im Gegensatz zu vielen, mit dem Faschismus wenigstens eine zeitlang sympathisierenden liberalen Intellektuellen (zum Beispiel auch Norberto Bobbio), arrangierte sich die Allason zu keinem Zeitpunkt mit dem Regime. Sie hat keine jener peinlichen und beschämenden Ergebenheitsadressen an das faschistische Regime anlässlich der Entfernung jüdischer Professoren von den Universitäten unterschrieben, die heute nach und nach publik werden. Ihre Ablehnung ist klar und gut begründet: „Der Faschismus wollte keine Gerechtigkeit, sondern die Gewalt, nicht die Wahrheit, sondern die Lüge und bloße Rhetorik. Er repräsentierte keine Kultur, sondern betrieb ausschließlich Propaganda.“

Ihre privaten wie politischen Freunde waren in diesen Jahren vor allem die legendären ‚Gründungsfiguren‘ des liberalen Antifaschismus in Italien Piero Gobetti, Nello Rosselli und Leone Ginzburg, der spätere erste Mann von Natalia Ginzburg. 1934 wurde sie wegen ihrer Freundschaft zu ihnen und ihrer Zusammenarbeit mit der in Paris gegründeten antifaschistischen Gruppierung „Giustizia e libertà“ verhaftet und zu einigen Monaten Gefängnishaft verurteilt. Entlassen wurde sie mit der Auflage, sich jeglicher gegen das Regime gerichteten Untergrundarbeit zu enthalten. Sie versprach, sich an diese Auflage zu halten, gleichwohl brach sie zu keinem Zeitpunkt die Kontakte zu ihren antifaschistischen Freunden ab. Trotz verschiedentlicher weiterer Schikanen wurde Barbara Allason aber während der faschistischen Jahre nicht die Möglichkeit genommen, als Journalistin und Übersetzerin zu arbeiten. Die Maschen der Zensur waren im italienischen Faschismus wesentlich durchlässiger als in Nazi-Deutschland. So schreibt sie ab 1930 für verschiedene italienische Tageszeitungen u.a. für „Il Mondo“, „Il Giornale“, „La Gazetta del popolo“. Auf Vermittlung des Literaturkritikers Giacomo Debenedetti öffneten sich ihr die Türen der renommierten römischen Kulturzeitschrift „Meridiano“. Zwar blieb ihr der Zugang zur Universität verwehrt, aber ihre publizistische Arbeit konnte sie ungehindert fortsetzen, auch in alles andere als faschismusfreundlichen Magazinen.

Sie verließ Turin in diesen Jahren, um zuerst in Rom, später in Padua prekäre Beschäftigungen in konfessionellen Privatschulen zu übernehmen. Zurückgekehrt ins heimatliche Turin begann‘ sie in den Jahren nach Kriegsende wieder mit ihren pausenlosen Springen zwischen dem Schreiben, vornehmlich Übersetzungen deutscher Klassiker und dem kulturpolitischen Engagement in der demokratischen Tradition von ‚Giustizia e libertà‘. 1950 erschien ein erster Band mit biografischen Erinnerungen an ihre piemontesische Kindheit „Vechie ville, vecchi cuori“. Wie fast alles von Barbara Allason ist auch dieses Buch heute nur noch mit großem Rechercheaufwand zu finden. 1961 wurde auf das massgebliche Betreiben von Barbara Allason das „Centro Studi Piero Gobetti“ gegründet, das in den Folgejahren zu einem Zentrum der Dokumentation des intellektuellen Antifaschismus in Turin wurde. Ebenfalls 1961 wurde ein neuer Erinnerungsband von ihr veröffentlicht, mit dem sie sich zumindest in der demokratischen Nachkriegskultur Italiens ein kleines, bleibendes Denkmal setzte: ‚Memorie di una antifascista‘. Hier lernen wir eine sehr gebildete Frau katholischer Herkunft und gleichzeitig – was selten ist – liberaler politischer Gesinnung in der Tradition des italienischen Risorgimento kennen. Hier spürt man noch etwas von jenem „alten Piemont“, wie es jüngst wieder in vielen Nachrufen auf Gianni Agnelli mehrfach beschworen wurde.

Diese urbane, dezidiert antifaschistische und gleichzeitig sehr bürgerliche Kultur Turins in den dreißiger Jahren, der sie sich ganz besonders verbunden fühlte, ist heute längst Teil einer untergegangenen Epoche. Aber man liest die Erinnerungen der Barbara Allason auch nicht ganz ohne Wehmut, weil diese Welt ja auch einen ganz eigenen Reiz hatte, für den es in der Zeit danach kaum noch Vergleiche gegeben hat. Sie erinnert sich hier vornehmlich ihrer intellektuellen Freunde, für die sie in den Jahren des Faschismus immer eine Art Salon in Turin veranstaltete. Der Freunde, die, wie sie in der Widmung des Buches mit großer Demut schrieb, „um so viel bedeutender waren als ich und mit denen einen Teil meines Lebensweges zu teilen, ich die große Ehre hatte. Jetzt, am Abend meines Lebens, spreche ich wieder mit ihnen.“

Barbara Allason starb hochbetagt mit 91 Jahren am 20. August 1968 in Turin. Schon kurze Zeit nach ihrem Tod erinnerten sich nur noch wenige Menschen an diese gebildete, in strenger piemontesischer Tradition erzogene, im besten Sinne liberale Dame. Dass ihre Übersetzungen nicht unwesentlich zur Verbreitung der klassischen deutschsprachigen Literatur in Italien beigetragen haben, findet in einschlägigen philologischen Dokumenten allenfalls eine Erwähnung im Fußnotenapparat. Im Zusammenhang mit feministisch inspirierten ‚Ausgrabungen‘ von Texten vergessener oder verdrängter Wissenschaftlerinnen und Schriftstellerinnen beginnt sich in Italien heute jedoch langsam wieder ein Interesse für Vita und Werk von Barbara Allason zu zeigen. Wie man hört, ist jetzt in Turin auch ein kleines, Barbara Allason gewidmetes Archiv gegründet worden. Mit dieser neu erwachenden Erinnerung an die Werte und die Aktivitäten der turiner Intelligenz während der faschistischen und nachfaschistischen Jahrzehnte zeigt sich vielleicht auch ein größer werdendes Interesse für die Tradition eines ‚zivilen Liberalismus‘, der mehr ist als nur die Plünderung großer Ideen zum rücksichtslosen Ausleben privater Interessen. Mit den Worten der Allason: „Die Menschen, derer ich mich in meinen Memoiren erinnere, repräsentieren die Tradition einer Civiltà gegen die Barbarei, der Klugheit gegen den Wahnsinn“. Niemand würde das von einem zwielichtigen Unternehmer repräsentierte politische und kulturelle System des heutigen Italiens als ‚barbarisch und wahnsinnig‘ bezeichnen. Aber ob dieser Staat, der immerhin 1963 Barbara Allason für ihr Lebenswerk mit einem der höchsten Verdienstorden „Cavalliere dell’Ordine al merito della Repubblica Italiana“ auszeichnete, heute noch von Klugheit und Civiltà regiert wird, ist unter Italienern schon weniger unstrittig.

Carl Wilhelm Macke