Warum ich gern in Deutschland lebe
– Lieber Leser, tun Sie mir mal einen Gefallen? Sollten wir uns jemals begegnen und Sie fragen mich, wo ich herkomme, und ich sage, aus Hawaii natürlich, woher sonst, stellen Sie mir nicht diese eine Frage, die Ihnen auf der Zunge brennt: „Wie kann einer aus Hawaii nach Deutschland kommen?“
Als ich damals diese Entscheidung traf, dachte ich nie, ich würde mich in Deutschland dafür rechtfertigen müssen. Naiv wie ich war, stellte ich mir vor, die Deutschen hätten ein gesundes Selbstbewusstsein und würden es für selbstverständlich halten, dass jeder aus Hawaii nur so danach lechzt, in Deutschland leben zu dürfen. Doch seit fast 30 Jahren bekomme ich nun diese Frage zu hören und seit fast 30 Jahren suche ich eine geeignete Antwort. Statt einer Antwort stelle ich Ihnen hier zwei Tage aus meinem Leben vor:
3. August 1979, Kailua, Hawaii
Noch einen Tag in der High School für Doofe. Meine Englischlehrerin bringt uns die „Erzählperspektiven“ bei: Die erste Person ist die „Ich“-Perspektive, die dritte Person ist „er, sie, es“ und die zweite Person ist dann, wenn die Erzählung in der ersten Person erzählt wird, aber der Erzähler ist nicht die Hauptfigur.
Ich informiere sie, dass die zweite Person „du“ ist: Der Autor spricht den Leser direkt an, lieber Leser. Sie besteht auf ihrer Version. Ich frage, wo sie eigentlich ihre Lehrerausbildung gemacht hat. Wir streiten uns die ganze Stunde. Die anderen in der Klasse machen sich einen schönen Tag.
Zu Hause. Der Strand ist einen Häuserblock entfernt. Dort geht mein Bruder surfen. Er ist gut gebaut, die Mädchen in ihren Bikinis schauen ihm nach. Seine Freunde sind alle zwielichtige Typen, die nichts als Spaß, Surfen, Bier, Hasch und Mädchen im Kopf haben. In Kürze wird er von der Schule fliegen. Wie ich ihn beneide.
Einmal hat er versucht, ein guter Bruder zu sein und mir das Wellenreiten beizubringen. Nicht eine Sekunde konnte ich mich auf dem Brett halten. Ich war wie ein vierbeiniger unterernährter Tintenfisch, der panisch versucht, sich ans Brett zu klammern. Ich gehe nicht mehr zum Strand. Strand ist doof.
Abend. Starsky & Hutch im Fernsehen. Doof. So eine doofe Fernsehserie hat es wohl noch nie gegeben. Die ganze Welt verdummt. Immer, wenn Starsky oder Hutch irgendwas sagen, äffe ich sie nach, bis meine Geschwister mich anschreien. Zu Recht, muss ich heute sagen.
Egal, denn bald bricht sowieso der allabendliche Streit zwischen meinem ältesten Bruder, dem Hippie, und meinem Vater aus. Der Streit wird laut, wie jeden Abend, und kein Mensch will meine Pläne hören, den allerersten intellektuellen Comic, der die Grenze zwischen U- und E-Kultur überschreitet, zu verfassen. Keiner! Ich finde sie alle doof.
Später am Abend liege ich im Bett und versuche, irgendwas zu lesen. Geht nicht. Das Radio läuft zu laut im anderen Zimmer. Ein Baseballspiel, laut aufgedreht. Wenn es nicht Baseball ist, ist es Football, und wenn die Footballsaison vorbei ist, dann ist es Basketball. Jeden Abend, den ganzen Abend lang. Wie doof können die Leute denn sein, lauter erwachsene Menschen, die ständig einem Ball hinterherrennen, es ist nicht auszuhalten. Ich entkomme dem Lärm, indem ich mich draußen auf den Rasen lege und die Sterne beobachte. Kakerlaken krabbeln friedlich über meine Füße.
Es ist dunkel und so still, dass ich die Wellen höre. Nach einer Weile kommt meine Katze zu mir und legt sich auf meine Brust. Ich kraule sie und ich erzähle ihr von meinen Plänen, nach Europa zu fliehen, wo es Kultur und Intelligenz gibt, um der ganzen geballten Doofheit hier zu entkommen. Sie schnurrt. Es ist das intelligenteste Gespräch, das ich seit langem habe.
3. August 2012, Berlin
Am Nachmittag nehme ich als Journalist an einer langweilen Presseveranstaltung teil. Danach, bei den Häppchen, lande ich an einem Stehtisch mit einer Handvoll junger Damen, allesamt hübsch, kurzhaarig und bunt angezogen: junge Grüne. Bei der nächsten Gelegenheit lasse ich wie nebenbei einfließen, dass ich die Grünen für ihre genialen, ur-amerikanischen Selbstvermarktungsmethoden bewundere, aber die grüne Ur-Angst vor dem Regieren nie verstehen werde.
Das kommt nicht gut an, und eine geschlagene Stunde lang muss ich ein weit hergeholtes Argument nach dem anderen aus dem Ärmel schütteln, warum die Grünen, als sie mit Schröder die Bundesregierung stellten, versagt haben, während sie ein weit hergeholtes Argument nach dem anderen erfinden, warum ich das alles falsch verstanden habe. Die Hauptgrüne rückt immer näher und in mir erwächst die Befürchtung, dass sie gleich springen wird, bis auf einmal eine Obergrüne von irgendwoher ruft, „Wir müssen“, und auf einmal sind alle weg, puh.
Spätnachmittag. Ich setze mich in mein Stammcafé zu einem wohlverdienten Bier in der Sonne. Ein langer, schlanker Mann mit einem schelmischen Grinsen im Gesicht setzt sich an den Nebentisch und sagt: „Ich habe Ihr erstes Buch geliebt, aber ich stimme mit fast gar nichts überein, was Sie sonst so schreiben.“
Allerdings nimmt er es mir nicht übel, dass alles, was ich schreibe, falsch ist. Puh. Im Gegenteil, er scheint meine absolute Falschheit irgendwie sympathisch zu finden. Er ist in meinem Alter. Es gab wohl eine Zeit, in den 70ern und 80ern, in der er wie ich solche Dinge vermutlich sehr ernst nahm – all das Gequassel über Politik und so. Heute aber sind wir älter und wissen, dass das alles letztendlich Quatsch ist.
Er schwärmt von alten Zeiten und erzählt Geschichten, die mich ein wenig neidisch machen: von seinen Reisen nach Georgien, Amerika, Russland, Indien. Er erzählt von einem lustigen Japaner, den er mal in Damaskus kennengelernt hatte, der ihm beim Abschied laut genug zurief, dass es jeder hören konnte: „Beim nächsten Mal ohne Italien!“ Das fand er witzig, ich auch. Amerikaner, Japaner und viel gereiste Deutsche haben wohl denselben Humor.
Er heisst Hermann Jan Ooster und ist auch Autor, Dichter sogar. In den 70ern und 80ern (mein Gott, diese Deutschen mit ihrem „ehrlicher Handwerker“-Fimmel!) war jeder Malermeister ein linker Ur-Philosoph. Die Tage erscheint sein neues Buch: „Die Welt ist ein Museum absichtsloser Katastrophen“. Die Titel seiner anderen Bücher finde ich auch gut: „Civilizero“, „Encyclopedia Bauphilosophica“, „Am Pol der Unzulänglichkeit“ und „Erotisches Kommando“.
„’Erotisches Kommando‘ ist toll“, sage ich. „Darf ich das klauen? Das ist perfekt für mein intellektuelles Comicprojekt, das …“
„Nein“, sagt er.
Abend. Ich sitze in einem Biergarten mit einer nach Deutschland eingewanderten Polin und einem nach Deutschland eingewanderten Kanadier beim Bier. Als erstes danken wir in so sarkastisch-ironischen Tönen wie möglich den Göttern im Himmel für das gute Wetter und hoffen, dass der Sommer in Berlin dieses Jahr länger als zwei Stunden dauert, und warum habe ich bloß jemals Hawaii verlassen?
Doch schnell wendet sich das Gespräch wichtigeren Dingen zu: Deutschland schickt Nazi-Ruderin zur Olympiade! Und hast du die Fotos gesehen? Die Frau ist wie geschaffen, Nazi zu sein.
Wir fragen uns, wie groß der Skandal wird. Wenn in der EM oder WM irgendein Nazi auf der Tribüne den Hitlergruß macht, ist das ein Riesending. In diesem Fall tippen wir aber darauf, dass es eher klein bleibt. Eine Nazi-Ruderin ist zwar beschämend, steht aber nicht für Deutschland, sondern für eine Deutsche.
Als typischer Amerikaner finde ich die Olympiade besser als die großen Fußballmeisterschaften WM und EM. Warum? Weil auch wenn es ein paar Mannschaftsportarten gibt, geht es in der Olympiade vor allem um Individualleistung. Wer „der Beste“ ist, muss es aus eigener Kraft beweisen. Die meisten Amis, denke ich, sehen das auch so: Der „Beste“ wird verehrt, auch wenn er kein Ami ist. Ich weiß noch, wie die Amis in den 70ern in den rumänische Kunstturnerin Nadia Comaneci so verliebt waren, sie war in aller Munde.
Nein, nein, meint der Kanadier, der es als seine Nationalpflicht ansieht, niemals amerikanische Individualromantik durchgehen zu lassen.
Fußballmeisterschaften sind besser, weil die Mannschaften ihre jeweiligen Länder wirklich verkörpern. Wenn sie dann direkt aufeinanderprallen, ist es wie früher in den Weltkriegen. Mitten in der Euro-Krise gingen die Deutschen und die Griechen mit dem Fußball aufeinander los: Das war, als ob jedes Land Gladiatoren in den Ring schickte, um die Frage per Gottesurteil zu entscheiden.
Auch die jeweiligen Völker zu Hause inszenieren sich bei der Gelegenheit richtig wie die eigenen Klischees, als ob sie sagen wollen: „Wir sind richtige Deutsche, schau, wir handeln, wie man von uns erwartet.“ Irische Fans halten Transparente hoch: „Merkel thinks we’re working.“ Verkopfte Möchtegern-Intellektuelle in Deutschland diskutieren über die Nähe von Fußballpatriotismus zu Nationalismus und zu Nationalsozialismus.
„Olympiade ist wie Amerika“, sage ich: „Ein Casino, in dem jeder gewinnen oder verlieren kann. EM dagegen ist Weltkrieg für Weicheier.“ Das mag ich, das hört sich schön politisch inkorrekt an.
Wir wenden uns der Euro-Krise zu, und das Gespräch wird lauter. Meine polnische Freundin beginnt, auf die Amis zu schimpfen. Das Problem, meint sie, kommt ja aus Amerika. Ich liebe es, wenn sie das tut. Es ist immer eine gute Gelegenheit, meinen Lieblingspolenwitz los zu werden, der mit dem schwangeren Hund und dem leeren Abfalleimer. Sie kreischt.
Irgendwann muss ich gehen, damit ich morgen früh aufstehen und mindestens ein bisschen was fertig kriegen kann. Die Nacht ist warm, und auf dem Nachhauseweg frage ich mich, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich Wellenreiten gelernt hätte.
Eric T. Hansen
Der Amerikaner, Hawaiianer und Wahlberliner Eric T. Hansen lebt seit 25 Jahren in Deutschland und schreibt Bücher über die seltsamen Menschen, die er dort vorfindet, zuletzt „Nörgeln! Des Deutschen größte Lust“. Mehr Info auf der Homepage von Eric T. Hansen. (Foto: Ralf Ilgenfritz)