Geschrieben am 16. März 2011 von für DeutschCult, Kolumnen und Themen, Litmag

Eric T. Hansens DeutschCult

Chronik einer deutschen Teilhirnschmelze

Freitag: Das viertstärkste Erdbeben der dokumentierten Geschichte und der damit zusammenhängende Tsunami zerstören große Teile von Japan und reißen möglicherweise über zehntausend Menschen in den Tod.

Freitag: Umweltminister Röttgen (CDU) versucht, mit heiteren Worten die Deutschen vom tragischen Leiden der Japaner abzulenken, indem er verkündet, worum es hier wirklich geht: Die AKWs in Deutschland seien sicher. Allein im März finden Landtags- und andere -wahlen in Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, später auch in Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Berlin statt. Der Wahlkampf ist eröffnet. Überall in Deutschland neigen Politiker den Kopf und danken still und heimlich den Japanern: Euer Opfer soll nicht umsonst gewesen sein.

Gott sei Dank hat Röttgen auf die Tragödie in dem weit entfernten Land aufmerksam gemacht, jetzt können sich auch die Protestpartien SPD und die Grünen informieren und reagieren. Sigmar Gabriel fordert einen sofortigen Stopp der Laufzeitverlängerungen für AKWs und Claudia Roth und Cem Özdemir verkünden, dass diese Tragödie ein weiterer Beweis dafür sei, dass Umweltminister Röttgen doof ist.

Freitag: Spiegel Online gibt das Titelblatt der montäglichen Printausgabe bekannt, auf dem die Schlagzeile prangt: „Das Ende des Atomzeitalters“. Von allen seriösen internationalen Zeitschriften hat Der Spiegel nach wie vor die beste und schnellste Kristallkugel.

Samstag: Meine Freundin rennt ins Bad:
Sie: „Hast du gehört? Es gibt schon drei Kernschmelzen in Japan.“
Ich: „Mein Gott! Vor einigen Minuten war es nur der Verdacht auf zwei Teilschmelzen.“
Sie: „Es steht aber so auf Spiegel Online.“
Ich: „Spiegel Online? Moment mal. Steht es so in den letzten Absätzen des Artikels oder nur in der Schlagzeile?“
Einigen Minuten später kommt sie wieder.
Sie: „Dass es definitiv drei Kernschmelzen gibt, steht nur in der Schlagzeile! Gott sei Dank, es ist erst mal nur ein Gerücht.“

Sonntag: In der Tagesschau gibt die adrette Dame besorgt zu, der GAU sei noch nicht ganz Super, könne es aber noch werden. Sie erklärt auch genau, wie das wohl in den nächsten Tagen funktionieren könnte. Der Bericht ist so aufrüttelnd, dass die darauffolgenden Bilder von Zerstörung und Tod in Japan wie eine Erleichterung wirken.

Sonntagabend: Bundeskanzlerin Merkel sieht ein, dass die Wahl verloren ist. Tote Japaner geben für die SPD einfach mehr her. Sie ruft ein dreimonatiges Moratorium auf das Thema aus. Sushi-Restaurants dürfen aber weiterhin in Betrieb bleiben.

Montag: Die deutsche Fukushima-Krise schlägt internationale Kreise. Selbst die Vereinigten Staaten werden in Mitleidenschaft gezogen. Kurz vor Mitternacht klingelt das Telefon.
Meine Freundin: „Geh nicht ran.“
Ich geh ran. Eine alte Freundin, die ihre geistige Nähe zum italienischen Sozialismus durch den Konsum von Wein aus Sizilien am Abend unter Beweis gestellt hat, schimpft auf die Scheißamerikaner.
Ich: „Wir sind aber nicht schuld!“
Sie: „Euch ist es aber egal, wenn es mit der Atomenergie weitergeht! Eine Amerikanerin hat im Fernsehen gesagt, dass die Diskussion um die Abschaltung der AKWs dort nicht so wichtig ist wie bei uns.“
Ich muss mein Land verteidigen: „Die Diskussion um die Sicherheit von AKWs ist auch bei uns wieder losgegangen, aber keiner merkt es, weil die nervigen Japaner mit ihren vielen Toten die Schlagzeilen für sich beanspruchen.“
Sie: „Ihr kapiert es nie!“

Montagabend: Im Freundeskreis und an den Stammtischen gehen die Worte vom „Schlimmsten GAU aller Zeiten“ herum.
Ich: „Schlimmer als Tschernobyl?“
Sie: „Äh … wie viele Menschen sind denn in Tschernobyl gestorben?“
Ich: „Laut Greenpeace mindestens 20.000 – direkt und an den Folgen. In Bhopal 1984 waren es auch mindestens 20.000. In Japan sind bis jetzt keine Opfer an radioaktiver Strahlung gestorben, sondern nur an den Folgen des viertstärksten Erdbebens aller Zeiten.“
Sie: „Aber wenn der Wind dreht und die Wolke über Tokio schwebt, dann geht’s los, mein Lieber!“

Dienstag: Ganz Deutschland blickt gespannt nach Japan und hofft auf die Kernschmelze.

Eric T. Hansen

Der Amerikaner, Hawaiianer und Wahlberliner Eric T. Hansen lebt seit 25 Jahren in Deutschland und schreibt Bücher über die seltsamen Menschen, die er dort vorfindet, zuletzt „Nörgeln! Des Deutschen größte Lust“. Mehr Info auf der Homepage von Eric T. Hansen. Foto: Ralf Ilgenfritz