Geschrieben am 5. September 2015 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Einwurf: Jürgen Neubauer über Auswanderer vs. Migranten

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Von first-class Auswanderern und unterprivilegiert Migranten

Neulich habe ich eine Mail erhalten, in der mich eine Mitarbeiterin des TV-Producers Infonetwork fragte, ob ich nicht an einer Fernsehreihe über Auswanderer teilnehmen möchte. Die Dame schreibt: „Ich arbeite als Reporterin für verschiedene RTL-Formate und plane derzeit ein paar Beiträge in Mexiko. Nun bin ich auf der Suche nach deutschen Auswanderern, die Lust hätten, mit uns einen Beitrag zu produzieren: uns von ihrem Leben in Mexiko zu erzählen, Vorteile, Nachteile, wie sieht es sicherheitstechnisch aus?“ Was antwortet man auf so etwas?

Da für mich das deutsche Fernsehen terra incognita ist, habe ich gleich im Internet recherchiert und bin dort bei der Serie „Goodbye Deutschland“ gelandet, die auf VOX läuft. Infonetwork beschreibt das Programm so: „Die einen sehnen sich nach Sonne und Meer, andere sehen in Deutschland keine berufliche Perspektive mehr – ‘Goodbye Deutschland! Die Auswanderer’ begleitet Paare und Familien auf ihrem großen Schritt in ein fremdes Land, das viele nur aus unbeschwerten Urlaubstagen kennen. Die Euphorie ist jedes Mal groß, doch viele der Auswanderer stellen erst vor Ort fest, dass es überall bürokratische Hürden gibt und dass weder Jobs noch Wohnungen nur auf sie warten. Doch unterkriegen lassen kommt nicht in Frage!”

Dazu fällt mir spontan nur ein, dass ich nie auf den Gedanken gekommen wäre, mich als „Auswanderer“ zu bezeichnen. Der Begriff klingt völlig aus der Zeit gefallen und erinnert mich an das 19. Jahrhundert, an Dampfschiffe und Nimmerwiedersehen; Staten Island, wo die Menschenmassen ins Land geschoben werden „wie Äpfel in die Presse“; an die Buren, die sich im Nirgendwo gegen die neue Welt verbarrikadieren; oder Irene Disches Großeltern, die Ende der 1930er Jahre vor den Nazis fliehen, in New York stranden und den Rest ihres Lebens mit diesem neuen Land hadern. Auswandern hat für mich auch immer ein bisschen von Exil, von Nicht-anders-Können, und vor allem auch von Nicht-mehr-zurück-Können. Der Begriff wirkt auf mich so altbacken wie die Schwarz-Weiß-Fotos von den winkenden Passagieren im Zwischendeck. Ich kenne niemanden, der so lebt. Die meisten Westeuropäer, die ich in Mexiko kennengelernt habe, erinnern mich eher an die postmodernen Nomaden, von denen die Visionäre der identity politics und der New Economy der Nullerjahre schwadroniert haben. Für uns ist das Ganze eher ein Spiel, Herkunft und Ziel haben nicht mehr dieselbe Bedeutung. No soy de aquí ni soy de allá.

Der Begriff „Auswanderer“ klingt für mich aber nicht nur altbacken. Er klingt auch befremdlich, weil er die „Auswanderer“ so fein säuberlich von den „Migranten“ unterscheidet. Die Migranten, das sind aus westeuropäischer Sicht Menschen, die nachts die Zäune um die spanische Exklave Ceuta aufschneiden, mit überfüllten Booten im Mittelmeer kentern, in Kühlwaggons ersticken und die, wenn sie denn ankommen, entweder gleich wieder abgeschoben werden, oder mit Glück in der deutschen Provinz in einer verlausten Asylbewerberbaracke herumhocken und VOX schauen dürfen, während draußen unter den Augen der Polizei die Glatzen ihre Brandsätze schmeißen. Migranten, das sind die anderen, die rein wollen. Wer aus Deutschland weggeht, ist dagegen ein Auswanderer, ein romantischer Abenteurer, den man im Fernsehen ausstellen kann. Dabei sitzen wir als Auswanderer im selben Boot wie die Migranten — wenn auch First Class.

Was mich an einen Sketch aus der Wayne & Shuster-Show erinnert. Szene: Economy Class im Flugzeug. Die Passagiere stehen, es ertönt eine Durchsage: „Die Fluggäste der Economy Class jetzt bitte aussteigen“. Die Passagiere verlassen den Flieger artig im Gänsemarsch. Als der letzte ausgestiegen ist, ertönt eine neue Durchsage: „In der First Class jetzt bitte anschnallen und das Rauchen einstellen, wir bereiten die Landung vor.“ Das ist ungefähr das Verhältnis zwischen den Migranten der Ersten und der Dritten Welt.

Der Begriff „Migrant“ macht deutlicher, wie unglaublich privilegiert wir in der Ersten Klasse sind. Natürlich kann man sich stundenlang über die „bürokratischen Hürden“ im neuen Land ereifern (war es das, was die Dame von VOX hören wollte?) — aber was ist die mexikanische Einwanderungsbehörde schon gegen die Wüste von Sonora, die Klippen von Lampedusa oder die Brandsätze von Neonazis? Was ist die blinde Schikane einer bürokratischen Maschine schon gegen die bewusste Ablehnung oder den Hass der Europäer und US-Amerikaner gegenüber den Migranten? Und der ganz große Unterschied zwischen uns Migranten der Ersten Klasse und denen in der Economy Class ist, dass wir das Rückfahrt-Ticket immer schon in der Tasche haben. Wir werden nicht abgeschoben, aber wir müssen auch nicht bleiben. Dieses Privileg wird aber erst sichtbar, wenn man den angestaubten Begriff der „Auswanderer“ neben den der Migranten hält.

Damit hatte ich meine Antwort, und habe mit einem freundlichen Tut-mir-Leid-und-viel-Glück abgesagt. Und dann habe ich mir das Programm genauer angesehen. Claudia als Stofftierkönigin von Hollywood. Alicia, einst Alexander, träumt mit ihrer Freundin vom Neuanfang in Südfrankreich. Nachdem Sabine und Bernd auf Malle vier Jahre lang durch Höhen und Tiefen gingen, ist es nun aus — inklusive Abschiedsszene mit letzter Umarmung. Und dann dies hier: „Wollen Sie auswandern, leben Sie bereits im Ausland, oder verlassen Sie Deutschland für einige Zeit, um das Abenteuer Ihres Lebens zu erleben? … Wir möchten Ihnen bei Ihren aufregenden Erlebnissen über die Schulter schauen!“ Darunter das Bewerbungsformular. Ich glaube, da melde ich mich dann, wenn VOX eine Show mit Flüchtlingen in deutschen Aufnahmelagern macht.

Jürgen Neubauer

Jürgen Neubauer war Lektor beim Campus-Verlag und arbeitet heute als freier Übersetzer und Autor. Zusammen mit José de Villa schrieb er die Castro-Biografie „Máximo Líder“ (Berlin 2006). Zuletzt ist im Ch. Links Verlag „Mexiko: Ein Länderporträt“ (Berlin 2012) erschienen. Zur Homepage von Jürgen Neubauer.
Foto: Wikimedia Commen, Public Domain, Quelle.

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