Geschrieben am 22. August 2012 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Ein Besuch im Museum der Literatur

Abkühlung im unterirdischen Papierwald

– Ein Augustbesuch im Literaturmuseum der Moderne in Marbach. Von Senta Wagner.

Im Jahr 2006 hat die Literatur ihr Museum bekommen. Dazu wurden die Archivkästen des Deutschen Literaturarchivs Marbach (DLA) geöffnet und schlagartig wurde aus mancher Archivalie ein Museumsstück. Vermutlich haben diese in ihrem Archivschlummer nicht unbedingt darauf gewartet, für eine breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu werden, so wie es mit den Werken anderer Künste geschieht. Ein Gemälde hängt im Museum. Aber es ist ein besonderes Glück, dass sie nun gezeigt werden.

Die Schillerhöhe in Marbach hat sich ihrerseits in einen Park architektonischer Stilmixe gewandelt: zu dem Schiller-Nationalmuseum von 1903 und dem tristen Bau des DLA aus den 70er-Jahren hat sich 2005 der prächtige Museumsbau von David Chipperfield Architects gesellt – das Literaturmuseum der Moderne (LiMo). Das Zusammenspiel der drei ist einvernehmlich, gesammelt und geforscht wird im Archiv, ausgestellt in den Museen.

Von der Literatur allerdings, um die es ja im weitesten Sinne geht, ist über den Neckarauen weit und breit nichts zu sehen, eher zu spüren. Der sich einstellende Gedanke an die schiere Menge von Papier und sonstigem lebensbegleitendem Krimskrams, auf dem die Besucher wahrscheinlich herumspazieren, ist schwindelerregend. Gerundet beherbergt das DLA derzeit 1200 Nach- und vorlässe in deutscher Sprache von Schriftstellern und Gelehrten vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart: SchiHöMöMa (Schiller, Hölderin, Mörike, Mann). Gezählte Einzelblatt Handschriften, Briefe, Manuskripte usw. sind dies 20 Millionen, Bücher etwa 750.000.  In diesem Jahr hat zum Beispiel Tankred Dorst weite Teile seines Archivs dem DLA übergeben, wieder ein paar Blatt mehr im Fundus.

Materialproben

Schwankend umarmen die Besucher daraufhin eine der weißen Säulen, die das LiMo auf luftige Weise einzäunen und ihm sein tempelartiges Aussehen verleihen – eine erste sinnliche Berührung mit dem Material. Horizontal ist der auf seinem Felsplateau thronende Bau von großzügigen „abgestuften Terrassenräumen“ umgeben. Im Inneren des LiMo ist es kühl und still, Sichtbeton, Glas, Filz und dunkles Holz schlucken die Außenwelt, die draußen in der Sonne liegt. Der Weg zur Literatur der Moderne führt über eine Treppe in die Tiefe, wo es noch stiller und kaum mehr tageslichthell ist. Die Literatur braucht zu ihrer Erhaltung ein perfektes Raumklima, sonst fühlt sie sich nicht wohl in ihrem Körper.

Die Besucher streifen den Landsberger Poesieautomaten von Hans Magnus Enzensberger: Auf Knopfdruck werden unter lautem Klickern „Wortelemente nach dem Zufallsprinzip kombiniert“. Da dürfte bis in die Ewigkeit kein Text dem anderen gleichen, ein hübsches Spiel, vielleicht ein poetisch-ästhetischer Vorbote auf das Kommende. In den Räumen fluxus, stilus und nexus befindet sich die Dauerausstellung des Museums, das seit seinen Anfängen von Dr. Heike Gfrereis geleitet wird.

Enzensbergers Poesieautomat

nexus, funkelnd

Für nexus, das Herzstück des Literaturmuseums, wurden alle Ahs und Ohs aufgehoben. Vor den Besuchern steht ein einziges sich spiegelndes und funkelndes Raumbild still, der eigene Atem stockt in der Atemluft dessen, was hier auf so sensationelle Weise präsentiert wird. Es ist eine Verbeugung vor den Kostbarkeiten der Marbacher Sammlung, die in einem reinen „Gestus des Zeigens“ mündet. Endlos lang ziehen sich durch den Raum gläserne, kunstlichtbeleuchtete Auslagen in fünf nach oben wachsenden Schichten: Platz derzeit für 1300 Exponate beginnend mit dem Jahr 1890 bis aktuell 2010, Fortsetzung folgt.

Der interaktive Museumsführer hat sich längst verortet und bietet verschiedene Führungen an (für Leser, Schaulustige, Eilige, Kinder); die Besucher sind von allem etwas und entscheiden sich für ein lustvolles kreuz und quer Wandeln zu den Objekten. Zwei Reihen sind den Manuskripten (Handschriften, Typoskripte) und Büchern gewidmet, zwei den Briefen und Lebensdokumenten. An einer Auslage angekommen, das Auge scharf gestellt auf ein Exponat, verlieren sich mit einem Mal die Spiegelungen, im Hintergrund glitzert es weiter. 1915, Kafka: die Handschrift des Romans der „Proceß“ mit einer bedeutungsvollen Streichung auf der ersten Seite. Daneben, darüber, darunter weitere oft schwer leserliche Handschriften. 1969, Jandl: Manuskript des Gedichts „horror“; abdriften zu den Taufhemdchen von Thomas Mann, Eintrittskarten, Postkarten, den seltsamen Manuskriptkästen von W. G. Sebald; auf die Zehenspitzen steigen und in die Hocke gehen, betrachten, erhaschen, den Reichtum der Relationen (nexus) wahrnehmen, die Intimität spüren, stutzen, unwissend sein, eintauchen, weitereilen, weg sein in anderen Zeiten und Leben.

Ernst Jandl, 1969

„Jedes Exponat in dieser Ausstellung behauptet hier einen Wert für sich, ist unmittelbar da, es belegt nichts, erzählt nichts, spricht nicht“, so Gfrereis. Im Begleitbuch des Museums wird die Archivalie von ihr als „Wunder“ geadelt, „schlichtweg darum, weil es sie gibt“. 1986, Bernhard: rasende Korrekturen in der Druckfahne von „Auslöschung“ . So ein Sudler! Die ausgestellten Bücher sind aufgeschlagen, geschlossen, drehen uns die Rückseite zu, liegen auf der Seite, werden gestützt: 1999, Bessing: eine überraschende Begegnung mit dem ephemeren Phänomen der Popliteratur.  Ein Archiv vergisst ja nichts, weder die Vergessenen noch die Bekannten. 2001: Mayröcker.

Thomas Bernhard, 1986

Am Ende einer Reihe angekommen geht der Weg über Türen in einen lichten Schlauch, der den Blick wieder freigibt ins grüne Neckartal – eine gelungene Korrespondenz von Innen und Außen. Es liegen dort Leseexemplare aus.

Neben der Dauerausstellung konzipiert das LiMo mehrmals im Jahr breit kommentierte Wechselausstellungen samt Begleitkatalogen. Diesen Sommer endet „1912. Ein Jahr im Archiv“ – eine raffiniert gestaltete und anregende Schau von Texten der Moderne.

Vielleicht umarmen die Besucher bei ihrem Weggang noch einmal eine Säule, der Schwindel dürfte noch anhalten.

Senta Wagner

Tipps für einen Museumsbesuch: Warme Kleidung und Füße mitbringen, viel Zeit und Geduld, am besten Hingabe.

Alle Fotos: Senta Wagner, Marbach 2012. Zur Homepage des Deutschen Literaturarchivs Marbach.
Quellen: marbacherkatalog 60: Denkbilder und Schaustücke. Das Literaturmuseum der Moderne, hg. vom Deutschen Literaturarchiv Marbach. Marbach, Deutsche Schillergesellschaft 2008.
Heike Gfrereis: Atmen mit dem Archiv. Die Ausstellungen im Literaturmuseum der Moderne. Symposium in Leipzig 2008 (online abrufbar).

Tags : , , , ,