Geschrieben am 16. Mai 2012 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Ein Besuch beim Milena Verlag

Heftig abgestaubt

– Ein Porträt des Milena Verlags aus Wien von Senta Wagner.

Erst neulich sei einer mit Fußfessel hereinspaziert gekommen und wollte ein Buch kaufen. Was von außen vielleicht wie eine Buchhandlung aussieht wegen der ausgestellten Bücher und Plakate in den kleinen Fenstern, stellt sich von innen heraus als die Heimat des Wiener Milena Verlags. Dieser befindet sich ebenerdig in einem großen Wohngebäude – in Ruf- und Sichtweite des größten österreichischen Gefangenenhauses. Wir sind hier bitte mitten in einem Wohnbezirk, in einer Wohnstraße, im 8. Gemeindebezirk (hinterrücks vom Rathaus gelegen) und nicht irgendwo auf der grünen Wiese. Ich fühle mich ein bisschen verdächtig und unwohl, dabei sei es nirgends sicherer als hier in dieser Gegend.

Milena Jesenská

Drin in ihren Räumen treffe ich die Milenas: die Verlegerin Vanessa Wieser und Evelyn Steinthaler, ihre Mitarbeiterin für Presse und Veranstaltungen. Es geht um mich herum ein bisschen verwinkelt zu, drei, vier Arbeitsplätze, viele verpackte Bücher in deckenhohen Regalen. Der Verlag als sein eigenes Lager, zwei weitere sind ausgelagert. Es gibt Tee am Tisch zum Gespräch, ich beziehe den lila Rundsessel, gegenüber leuchtet eine lilafarben gestrichene Wand, Licht kommt aus einer pinkfarbenen kleinen Stehleuchte. Alles so schön bunt hier? Frauenpower? Ihre Milena sei die Jesenská, die tschechische Schriftstellerin und Journalistin, die eng mit Kafka befreundet war, sagen mir die beiden. Da hängt sie, ich sehe ein Foto von ihr. Ihre Aura beflügelt die Buchmacherinnen, die ihr Erfolg in der Branche sichtlich stolz macht. Tatsächlich feiert der Verlag in diesem Jahr das fünfjährige Jubiläum seines Bestehens, dabei ist er ein in Verlagslebensjahren gemessen recht alter Verlag, der nach einer erstaunlichen Häutung inzwischen einen festen Platz in der deutschsprachigen Verlagslandschaft eingenommen hat, allen ökonomischen Krisen zum Trotz.

Evelyn Steinthaler und Vanessa Wieser

Am Anfang war

Zu der Zeit der Entstehung des Verlags 1980 in Wien steckten die heutigen Milenas noch halb in den Kinderschuhen und waren ebenso weit vom Verlagsgeschäft und der Großstadt entfernt. Hinter Milena steckte damals ein reiner Frauenverlag, der sich aus einem Zusammenschluss autonomer Autorinnen gebildet hatte, der Wiener Frauenverlag – im Jahr 1997 umbenannt in Milena Verlag. Damals war der Buchmarkt noch schlanker, Nischenverlage konnten sich gut etablieren und mit spezifischen, vor allem feministischen Themen ein Publikum finden. Später nicht mehr, die Buchverkäufe gingen schlechter, mit der strikten programmatischen Ausrichtung tat man sich keinen Gefallen. Ein Mann, ein männlicher Autor müsse ins Programm, war Vanessa Wieser überzeugt, die seit 1997 beim Milena Verlag beschäftigt war. Überhaupt würde sie, wäre sie die Chefin, alles anders machen. Mit dem Feminismus, den Theorien, der Literatur sei sie durch, sagt sie heute, jetzt sei sie offen für die ganze Welt(-literatur). Tatsächlich übernimmt sie 2007 die Verlagsleitung von Barbara Neuwirth und veröffentlicht im Frühjahr 2009 „Sunnyboy“ von Jan Kossdorff, was ein regelrechter Ausschlag in die andere Richtung war, geht es in dem Roman doch um einen „Trip in männliche Gefühlswelten“.

Vanessa Wieser

Nach anfänglich schlaflosen Nächten, so die Verlegerin, gelingt es ihr, den Verlag schrittweise umzumodeln, zu entstauben. Überhaupt, Staub ist neben der Vokabel heftig ein ganz wichtiger Begriff im Marketing des Verlags. Wieser nimmt also eine mutige Imagekorrektur vor und verpasst dem Label mehreres: die neuen Räumlichkeiten beim Gefangenenhaus, das schrille Erscheinungsbild samt neuer Typo, die neuen Autorinnen und Autoren, den Erfolg. Die Rückanbindung an den alten Frauenverlag schimmert sachte weiterhin durch in dem gewünschten Gestus der Gesellschaftskritik, dem Auftrag der Milena-Bücher, nun aber mit anderen als nur feministischen Tönen. Es geht etwa um Kritik an Kapitalismus oder Rassismus.

Als wieder ruhig geschlafen wird, setzt der Verlag schnell auf Vielseitigkeit und Flexibilität im Programm, um ein möglichst breites Lesepublikum anzusprechen. Ich zähle ganze acht Reihen, dabei sei die Gewichtung nicht immer gleich, heißt es, das hänge auch von den existenzsichernden Förderungen ab.

In diesem Frühjahr liegt der Schwerpunkt eindeutig auf der Jungen Literatur. Nein, winken die Milenas ab, sie verzettelten sich nicht, man würde auf diese Weise sehr breit, vor allem im Buchhandel und bei verschiedenen Medien wahrgenommen. Geliebäugelt wird inzwischen sogar mit einem Verlagsstandort im flirrenden Berlin.

Die Reihen der Reihe nach

Verschiedene Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte. Diese hätten überhaupt zum ersten Programm von Wieser gehört. Die Themen und Memoiren, die sich hauptsächlich um die NS-Diktatur in Österreich, die Shoah und die Emigration drehen, seien ihr persönlich besonders wichtig, vielmehr gingen sie alle immer etwas an. Zu erwähnen ist in dieser Reihe die gelobte Biografie von Evelyn Steinthaler über den österreichischen Belcanto-Tenor und Weltstar Richard Tauber (summ summ: „Dein ist mein ganzes Herz“), die anlässlich seines 120. Geburtstags 2011 erschien. Um im Bild zu bleiben, Verkaufshits sind für solche kleinen Independent-Verlage enorm wichtig. Unter dem Slogan „Prosa gegen das Elend der Welt“ läuft die Reihe Revisited, moderne Klassiker, „literarische Kostbarkeiten“. Zu den wiederentdeckten und aufgelegten österreichischen Schriftstellern gehören etwa Hilde Spiel und Otto Basil mit seiner Satire auf das Dritte Reich „Wenn das der Führer wüsste“. Seit eineinhalb Jahren ein Longseller des Verlagshauses, freut sich Wieser. Jetzt ist der Roman als Taschenbuch erhältlich.

Mit der Horrorreihe exquisite corpse versuche man, die männlichen Lesenden zu gewinnen, und habe damit wohl den radikalsten Schnitt zum vorherigen feministischen Buchprogramm gezogen. Auch dies, Männer und Horror, scheint geglückt zu sein. In der Reihe sind die beiden einzigen Romane von Carl Weissner in deutscher Sprache erschienen. Der deutsche Übersetzer (u. a. von Charles Bukowski) und Undergroundliterat verstarb im Januar 2012 im Alter von 71 Jahren, und die Milenas trauern nicht nur um einen außerordentlichen Autor, sondern auch um einen Freund. Von Weissner wird bei Milena sicher noch zu lesen sein (CM-Rezensionen zu Weissner finden Sie hier und hier, einen Nachruf hier). Exquisite corpse wird im kommenden Herbst abgelöst durch die Reihe 27 beastie books. Ihrem Marketingspruch bleibt die Verlegerin treu: Heftig muss es zugehen. Wie genau, erfahre ich nicht. Die Bücher werden beworben mit: „Heftige Bücher für heftige Menschen“. Der erste Titel stammt von Dee Dee Ramone (Gründer und Ex-Bassist der Ramones), der am 5. Juni vor zehn Jahren starb. Ab diesem Datum ist „Chelsea Horror Hotel“ im Buchhandel zu kaufen – ein hübscher Einfall für eine Hommage. Insgesamt eine geringere Rolle spielen die Reihen Comic, Krimi, Wissenschaft und Sachbuch und kümmern sich zum Teil noch um übernommene Themen aus dem Frauenverlag.

Achtung, Humor!

Mit der Jungen Literatur kommt der ganz große Humor ins Haus, mit ihr macht der Milena Verlag einen wirklich heftigen Spagat zwischen ihren Buchreihen. In der Sparte für junge Lesende solle es vor allem witzig, schräg, frisch und nicht angestaubt zugehen, der literarische Anspruch sei nicht so wichtig. Die Themen am besten brandheiß und hochaktuell. Hier wird ein typischer Milena-Sound kreiert. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass ein Teil der ebenfalls jungen Autorinnen und Autoren dieser Reihe Textkünstler sind, die aus dem Bereich des Poetry Slam kommen wie Mieze Medusa, Nadja Bucher, Markus Köhle. Sie alle debütierten bei Milena im Romanfach. Zu dieser Literaturriege gehören auch Bernhard Moshammer, Elisabeth R. Hager und El Awadalla.

Einschub zweier Buchempfehlungen: Nicht nur die bildende Kunst hat das Reinigungsgewerbe für sich entdeckt, sondern auch die Literatur. Die Wienerin Nadja Bucher hat mit „Rosa gegen den Dreck der Welt“ (2011) einen umwerfend komischen Putzfrauenroman geschrieben. Keine putzt wie Rosa, die Frau für die Rückstandslosigkeit beim Reinemachen wie beim „menschlichen Tun“. Ökobewusstsein hin oder her, an ihrer Kundin Eleonora Hatschek wie an ihren eigenen Wünschen beißt sie sich dennoch die nachhaltig gereinigten Zähne aus.

Die Tirolerin und in Berlin lebende Autorin Elisabeth R. Hager steuert mit ihrem Debütroman „Kometen“ zu dem Sound noch das Tempo bei. Was nach den Kapiteln Marzahn, Kreuzberg und Potsdamer Platz wie der zigste Berlinroman klingt, entpuppt sich als Alpenalptraum für die junge Protagonistin, fern jeder erlebten Kindheitsbergidylle. Ihre Flucht vor dem Freak Hans und ihrem Job treibt sie nach „Dahoam“, nach Tirol und die Suche nach ihrem wahren Vater weiter nach Italien – irgendwo dazwischen versucht sie sich selbst zu begreifen und ihre Zukunft auszuloten in einer Welt, die „flüssig geworden ist“.

Im Herzen behalten

Mit anderen Wiener Verlagen komme man sich überhaupt nicht ins Gehege, erkennbar schärft sich das unabhängige Profil von Milena. Das ist schwungvolle Verlagsarbeit, die ziemlich authentisch, charakterstark und sympathisch rüberkommt. Eine Herzensfrau ist aber auch Vanessa Wieser, einen Appell zum Auftakt der Lesung von Elisabeth R. Hager in Wien richtete sie mit folgenden Worten an die Zuhörer: „Behalten Sie uns in Ihren Herzen.“

Senta Wagner

Zur Verlagshomepage. Foto ganz oben: Milena Verlag. Weitere Fotos: Senta Wagner.
Nadja Bucher: Rosa gegen den Dreck der Welt. Wien: Milena Verlag 2011. 207 Seiten. 16,90 Euro.
Elisabeth R. Hager: Kometen. Wien: Milena Verlag 2012. 183 Seiten. 19,90 Euro.

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