Geschrieben am 18. Mai 2010 von für Litmag, Porträts / Interviews

Edoardo Sanguineti ist tot

´Wirrwarr`

Der italienische Schriftsteller Edoardo Sanguineti ist am Dienstag (18.5.) in seiner Heimatstadt Genua gestorben. Der Dichter, Kritiker und Übersetzer war Mitbegründer der „Gruppo 63“, einer 1963 in Palermo entstandenen Bewegung junger italienischer Schriftsteller, die in Anlehnung an die deutsche „Gruppe 47“ gegen die damalige Gesellschaft aufbegehrte.  Carl Wilhelm Macke zum Tode von Edoardo Sanguineti.

Man konnte sich schon mal die Zähne an seinen Gedichten ausbeißen. Da war nichts irgendwie schnell Konsumierbares, weit und breit kein Sonnenuntergang, kein Herz und Schmerz. Reime hasste er. In der Welt so wie sie nun mal ist, reimt sich ja auch nichts und lieblich, rosenumrankt ist schon mal gar nicht. Mit allem, was man als Schriftsteller nun mal besitzt, muss man sich gegen die ungerechte, oft völlig aus den Fugen geratene Welt auflehnen, dabei wohlwissend, dass man sie nicht ändern wird. Vielleicht ist aber wenigstens die Sprache, mit der wir sie zu fassen, zu beschreiben, zu erklären versuchen, noch veränderbar.

Die Gedichte des 1930 in Genua geborenen und dort am 18.5.2010 gestorbenen grandiosen Sprachartisten Edoardo Sanguineti zu verstehen, ist oft verdammt schwierig. Ihm kam es, wie er einmal in einem Gespräch gesagt hat darauf an, „die normale bürgerliche Sprachform zu destruieren, um damit die bürgerliche Ideologie zu demaskieren. Politisch der kommunistischen Linken nahestehend, hat er aber jede Form von sozialem Realismus, von einer populären Literatur der Arbeiterklasse oder des Volkes immer weit von sich gewiesen.

Revolutionär sein hieß für Sanguineti nicht die Fahne schwingen oder irgendwelche Paläste erobern, sondern die auch in den unterdrückten Gesellschaftsschichten vorherrschende Sprache als ‚Sprache der Herrschenden’ zu entlarven. Allerdings ließ sich so auch die große Zahl seiner Gedichte schlicht nicht in eine andere Sprache übersetzen. Im Deutschen liegen deshalb nur wenige Gedichte vor, die fast ausschließlich in Sammelbänden italienischer Lyrik des XX. Jahrhunderts erschienen sind. So radikal mit der uns vertrauten Sprache brechen kann aber auch nur jemand, der seine italienische ‚Muttersprache’, genauer seinen genueser Herkunftsdialekt, perfekt beherrschte.

Sein skurriler Anarchismus war Vorbild für viele der jüngeren italienischen Lyriker

Sanguineti war ein ganz großer Kenner des dantesken Sprachuniversums und kannte sich auch in der klassischen deutschsprachigen Literatur, vor allem aber im Werk Brechts exzellent gut aus. Die ästhetischen Texte im Umkreis der ‚Frankfurter Schule’ faszinierten ihn zeitlebens. Einem seiner Gedichtbände gab er einen deutschen Titel, dessen schwer fassbare Bedeutung das Besondere der Arbeiten von Sanguineti gut wiedergibt: „Wirrwarr“. Der öffentliche Austausch an gegenseitigen Polemiken zwischen ihm und Pasolini über die Aufgaben der Literatur gehört zu den Höhepunkten der italienischen Nachkriegskultur, von deren Niveau man heute nur noch träumen kann. In der „Gruppe ‚63“, die in ihrer Bedeutung für die zeitgenössische italienische Literaturgeschichte vielleicht der „Gruppe 47“ in Westdeutschland vergleichbar ist, war Sanguineti der große Gegenspieler aller Freunde des konventionellen klassischen Erzählstils.

Für viele der jüngeren und jüngsten italienischen Lyriker gehört Sanguineti hingegen zu den ganz großen Vorbildern und Lehrern. Mit seinem skurrilen Anarchismus war er in besonders in seiner Heimatstadt Genua bei vielen Jugendlichen immer sehr beliebt. Nichts an seinem Werk ist verstaubt und deshalb dürfte der verwirrende Klang seiner Gedichte auch noch viele Jahre nach seinem Tod neue Generationen von Schriftstellern zu eigenen Sprachexperimenten herausfordern. Und die Übersetzer werden auch weiterhin angesichts mancher Verse in seinen Gedichten in tiefe Verzweiflung verfallen …