Das Kulturkraftwerk Cesare Zavattini
Nein, Cesare Zavattini muß man nicht kennen. Auch in Italien dürfte der Bekanntheitsgrad dieses Namens mit dem Abstand zu seinem Todesjahr immer mehr verblichen sein. Wer – ausser Cineasten mit besonderer Vorliebe für die Geschichte des italienischen Filmes, erinnert sich denn heute noch an die Zeit des ‚Neo-Realismo’, an Regisseure wie Rosselini, de Sica, de Santis, an Schauspieler wie die wunderbaren Anna Magnani und Vittorio Gassmann oder eben an den Drehbuchautor Cesare Zavattini.
Deren Zeit ist vorbei und nur bei gelegentlichen Retrospektiven aber auch die werden seltener) kann man noch die einmal auch in Deutschland sehr bekannten Filme wie „Umberto D”, „Bitterer Reis” oder „Die Fahrraddiebe” sehen. An Cesare Zavattini soll hier aber noch einmal erinnert werden, weil er vielleicht so etwas wie ein „Kulturevent-Manager” gewesen ist, bevor es dieses Wort überhaupt gab. Er selber würde es wahrscheinlich auch als beleidigend ansehen, ihn als ‚Manager von Kultur-Events’ zu bezeichnen, aber dass kulturelle Ereignisse das Salz für ein lebendiges öffentliches Gemeinwesen sind, hätte auch er dick unterstrichen.
STÄNDIG UNTERWEGS
Ohne jeden öffentlichen Auftrag, ohne jedes privates Sponsoring trieb ihn nur eine Idee um: Italien, vor allem auch das provinzielle Italien, nach dem Krieg und der faschistischen Stagnationszeit wieder zur Welt hin zu öffnen. Und Zavattini war, allerdings in diesem Genre weniger berühmt, ein respektabler Prosaautor. Zeitlebens malte er auch, doch wurde dieser Aspekt seines Gesamtwerks erst in seinen späten Lebensjahren auch von kompetenteren Kritikern zur Kenntnis genommen. Noch während des Faschismus entwickelte sich bei ihm die Idee, man müsse die im Wortsinn „kleine Kunst” stärker fördern. So entstand langsam eine der verrücktesten Bildersammlungen der Welt: Kein Bild durfte grösser als 8 x 10 cm sein. Dass sich ein Leben, wie es sein Zeitgenosse Pier Paolo Pasolini in den „Freibeuterschriften” beklagte, nur noch über Konsumgüter verwirklichen könnte, war Zavattini vollkommen unvorstellbar. Man musste Räume schaffen, in denen mit den Mitteln der Kunst andere Wirklichkeiten vorstellbar und Utopien wenigstens formuliert werden konnten.
DAS CAFÉ ALS SCHULE DES LEBENS
Cesare Zavattini, von seinen Freunden und selbst in der italienischen Öffentlichkeit seiner Zeit immer nur „Za” genannt, wurde am 20. September 1902 in Luzzara am Po geboren. Hier gab es zur Zeit seiner Kindheit, wie er sich einmal erinnerte, „nicht einen Schatten von Kultur”. Vom amerikanischen Photographen Paul Strand gibt es einen Band mit Photographien des Ortes Luzzara in den frühen fünfziger Jahren – zu dem Zavattini den Begleittext geschrieben hat -, der die Weltabgeschiedenheit dieser Po-Dörfer sehr gut einfängt. Genau an der Stelle, wo Jahrzehnte später Gardin das Bild vom radelnden Zavattini aufnahm, besassen die Eltern ein Café. Das Kind Cesare verbrachte dort Tage um Tage und lernte so schon sehr früh, in den Gesten und der Mimik der Gäste zu lesen. Dass seine späteren Drehbücher so genau die Alltagsgewohnheiten der Italiener jener Jahre erfassten, hat Zavattini dieser frühen Schule des Cafés seiner Eltern zu verdanken. Er verliess Luzzara bereits mit sechs Jahren. Seine Schulzeit verbrachte er im lombardischen Bergamo. Wann immer es ihm möglich war, besuchte er dort auch die Kinos der Stadt. So wurde er schon früh ein leidenschaftlicher, ja süchtiger Kinogänger. Kurze Zeit lebte er dann in Rom, begann sich auch für das Theater zu interessieren. Am Ende des Kriegs kehrten die Eltern wieder nach Luzzara zurück. Nicht zuletzt auf ihren Druck hin immatrikulierte sich der Sohn an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Parma. Abgeschlossen hat er dieses Studium jedoch nie. Die Liebe zu den Frauen, zum Theater und vor allem zum Kino hielten den vor Kreativität und Ideen schier explodierenden Za von einem „ordentlichen” Studium ab. Filme, Bücher, Gespräche, Reisen – das liebte er und nicht das Büffeln von Paragraphen oder das systematische Studium der Philosophie. Zu seinen Freunden in jenen Jahren gehörten Giovanni Guareschi, der Autor von „Don Camillo und Peppone”, und Attilio Bertolucci, der Vater des Filmregisseurs Bernardo Bertolucci und in späteren Jahren einer der angesehensten italienischen Lyriker. Durch diese Freundschaften und durch das unentwegte Palavern in den Cafés von Parma war Za von da an rettungslos der Welt des Theaters, des Kinos, der Zeitungen, der Bücher verfallen. Erste Zeitungsglossen erschienen in der „Gazzetta di Parma”, in denen bereits jener spätere, für Zavattini so typische ironische, auch verspielte Tonfall mit vielen schrägen Ideen spürbar war. (Unter dem Titel „Dite la vostra. Scritti giovanili 1920-1931” sind sie bei Guanda Editore, Milano 2002, erschienen.)
DIE VERRÜCKTEN DER PO-EBENE
Zavattini gilt als einer der „Väter” jener Reihe von Literaten, die auch als die „Matti Padani” gelten, die Verrückten der Po-Ebene (Ermanno Cavazzoni, Carlo Lucarelli, auch Gianni Celati und Luigi Malerba werden dazu gezählt). Die Soldatenzeit verbrachte er in Florenz, wo er bei den regelmässigen Besuchen im legendären Café Delle Giubbe Rosse so berühmte Schriftsteller wie Elio Vittorini, Vasco Pratolini, vor allem aber Eugenio Montale kennen lernte. Zu dieser Zeit explodierte Zavattini geradezu vor Aktivität. Er schrieb für verschiedene Journale, organisierte Schriftstellertreffen, gründete neue Kulturzeitschriften, hielt erste öffentliche Vorträge. Ob und wann er sich in der Kaserne aufhielt, ist nicht bekannt. Selten wurde wohl eine Militärdienstzeit mehr zweckentfremdet als bei Cesare Zavattini.Die schwere Erkrankung des Vaters zwang ihn Anfang der dreissiger Jahre wieder zurück nach Luzzara. Er musste sich um das elterliche Café kümmern, aber er liess sich offensichtlich nicht die Zeit und die Lust zum Schreiben nehmen. Sein erstes Prosawerk, „Parliamo tanto di me”, schrieb er während der Wachen am Sterbebett seines Vaters. In der Folge nach Mailand übergesiedelt, begann Zavattini mit dem Schreiben von Drehbüchern für Filme, von denen die wenigsten Titel heute noch bekannt sind. Am bedeutsamsten wurde nach dem Krieg die Zusammenarbeit mit Vittorio De Sica, die zu Klassikern des Neorealismo und der Filmgeschichte geführt hat wie „Ladri di biciclette” (1947) oder, ein Jahr später, „Umberto D.” Erstaunlich ist, mit welchen Freiheiten Zavattini auch in den faschistischen Jahren sowohl an Drehbüchern wie an kleineren Prosawerken weiterarbeiten konnte. Und wenn ihm die Zensur zu viel Ärger bereitete, zog er sich zurück und malte. Allerdings wäre es übertrieben, Za zum aktiven Widerstand zu zählen. Er arrangierte sich einfach, wie viele andere italienische Künstler auch, mit dem System. Seine ehrenwerten Aktivitäten zur Erinnerung an die „Resistenza” in den Jahren nach dem Krieg hatten in seiner eigenen Biographie jedenfalls nur schwache Wurzeln.
DIE GROSSE ZEIT
Nach dem Krieg begann dann die künstlerische Produktion der Firma Zavattini so richtig auf Hochtouren zu laufen. Zahllose Zeitungsartikel erschienen, Kinderbücher wurden ediert, Zeitschriften gegründet und wieder eingestellt, kleine Ausstellungen mit eigenen und fremden Zeichnungen organisiert, Treffen von antifaschistischen Schriftstellern initiiert, Ideen von Künstlerstipendien lanciert. Es schien im Italien des Aufbruchs der Nachkriegsjahre keine Kulturinitiative zu geben, an der nicht irgendwie auch der von Leben und Phantasie nur so strotzende Za beteiligt war. Das Kulturkraftwerk Zavattini produzierte Ideen ohne Unterlass, schräge Projekte eingeschlossen. Hauptsache war, dass diese Ideen die Phantasie der Produzenten wie der Konsumenten der neuen Kultur anregten. In Zeitungen richtete er zum Beispiel feste Rubriken ein, in denen jeweils Schriftsteller von ihren fiktiven „Beschattungen” von Zeitgenossen erzählen sollten. Oder in einer anderen Rubrik war nur das Stellen von Fragen gestattet. Zavattini verstand unter Journalismus weniger die mühselige Recherche zu einer jeweils aktuellen Thematik; für ihn waren Zeitungen Laboratorien für Phantasien und neue Ideen. Bis heute liegt die Stärke des italienischen Journalismus weniger in der seriösen Recherche als in der ironischen, phantasievollen Glosse oder der intelligenten Polemik. Er liebte die öffentliche Polemik, so wie er auch immer wieder im Mittelpunkt intellektueller Scharmützel stand. Die Kommunisten, denen Zavattini politisch durchaus eng verbunden war, kritisierten etwa an „Umberto D.” dessen fatalistischen Grundton, den sie mit dem kämpferischen Vorwärtspathos der Partei so gar nicht zu vereinbaren wussten. Von solcher Polemik liess sich der Sohn eines „anarchistischen Konditormeisters aus der Po-Ebene”, wie Za von sich sagte, aber in keiner Weise beeinflussen. Im Gegenteil, sie stachelte seine Aktivitäten nur noch mehr an. Za hier, Za dort. In Paris, Mexiko, Havanna präsentierte er den modernen italienischen Film. In Rom schrieb er das Drehbuch für den Episodenfilm „Siamo donne”, in dem Anna Magnani und Ingrid Bergman die Hauptrollen spielten. In Wien leitete er eine internationale Tagung über den „Antifaschistischen Widerstand”. In Lugano hielt er einen Vortrag über das „Verhältnis von Kino und Fernsehen”. Seine Hoffnungen setzte er auf ein Fernsehen, das als „trojanisches Pferd» zur massenhaften Verbreitung der Filmkunst beitragen sollte. Zusammen mit Joris Ivens erhielt er in Helsinki 1955 den Lenin-Preis zuerkannt. Dann wieder tauchte er in Brüssel und Stockholm als Repräsentant des italienischen Nachkriegsfilms auf. Reisen führten ihn nach Spanien, in die USA, nach Ägypten, Palästina, auch nach Deutschland. In München, Berlin und Hamburg inszenierte er „Die Eingeschlossenen von Altona” von Sartre. Zavattini schrieb in jenen Jahren auch einen weiteren Erzählband mit dem für seinen Witz typischen Titel „Die Nacht, in der ich Mussolini eine Ohrfeige verpasste”. Zusammen mit Michelangelo Antonioni, Ettore Scola und Federico Fellini, später dann auch den Brüdern Taviani gründete er um 1968 herum Verbände von Filmregisseuren, um die Interessen des italienischen Films in der Öffentlichkeit und in der Politik stärker zu vertreten. Er lernte den damals noch jungen Roberto Benigni kennen und schrieb für ihn erste Texte. In Florenz wurden seine Bilder ausgestellt, und im heimatlichen Luzzara organisierte er ein „Festival des komischen Films”, zu dem er auch berühmte Schauspieler in die Po-Ebene lockte.
STÄNDIGER AUSTAUSCH
Zavattini war in einem ständigen Austausch zwischen der Kultur der grossen Städte und der Provinz. Er wollte nicht auf das eine zugunsten des anderen verzichten. Noch mit siebzig sagte er in einem Gespräch, dass er das Wort „Langeweile” überhaupt nicht kenne. An ein Ende seiner Aktivitäten und ans Sterben zu denken, fehle ihm einfach die Zeit. In seinen letzten Lebensjahren konzentrierte er sich immer mehr auf seine Malerei und besonders auf die Förderung der sogenannten naiven Kunst. Er stiftete Luzzara eine Bibliothek, die seinen Namen trägt, und vor allem ein kleines Museum an der Peripherie des Ortes, in dem vornehmlich zeitgenössische „Naive Kunst Italiens” ausgestellt wird. Nicht alle der ausgestellten Werke lohnen den Weg nach Luzzara. So wie ja auch aus der Unzahl der Drehbücher Zavattinis nur die wenigsten ihre Spuren in der Filmgeschichte hinterlassen haben, von seinen Prosaarbeiten ganz zu schweigen. Am 13. Oktober 1989 starb Cesare Zavattini in Rom. Beigesetzt wurde er auf dem heimatlichen Friedhof in Luzzara. Geht man heute an einem jener in das für die Po-Ebene so typische milde Alabasterlicht getauchten späten Nachmittage an sein Grab, kann man sich kaum vorstellen, dass er dort eine endgültige Ruhestätte gefunden haben soll. Für den nicht sonderlich kirchentreuen, aber gläubigen Katholiken Zavattini war die Idee von einem Leben jenseits des Todes eine ideale Vorstellung. Konnte er sich doch so einen Ort für neue Ideen und Projekte imaginieren, die zu realisieren ihm das irdische Leben nicht ausgereicht hat. Im Jenseits, wo immer es sich auch befinden mag, dürfte nach der Ankunft von Zavattini kulturell ‚die Post losgegangen sein…’
Carl Wilhelm Macke