Geschrieben am 30. Oktober 2013 von für Litmag, LitMag-Lyrik

CULTurMAG-Weltlyrik: Ludwig Steinherr

Ludwig Steinherr_FlüstergalerieProphezeiung

Bald werden dir drei Brillen
nicht mehr genügen –
Du wirst weitere brauchen;
Eine gegen das Schneegleißen der Stille
und eine gegen den bösen Blick der Bahnhofsuhren Eine mit der du die Gedanken der Bäume lesen kannst und eine um auf den nächtlichen Straßen die verliebten Hadesschatten in Paaren wandeln zu sehn Eine die Dämonen in Luft auflöst und eine die deine Freunde wieder ohne weiße Perücken und ohne falsche Bärte zeigt Eine mit aufgemalten Augen damit keiner ahnt ob du wachst oder schläfst und eine mit der du jede Schneeflocke nackt siehst.

 

Eine der wesentlichen Funktionen der Dichtung ist es, so schreibt Mario Praz in seinem Buch „Zeit der Dichtung“, „uns die andere Seite der Dinge, das Wunderbare des Alltäglichen zu zeigen: nicht die Unwirtlichkeit, sondern die wunderbare Wirklichkeit der Welt.“ Ob der in München lebende Ludwig Steinherr seine Gedichte in dieser Definition von Dichtung aufgehoben sieht, weiß ich nicht. Seine inzwischen in einer Vielzahl von Bänden vorliegenden Gedichte lesend, kommt mir aber stets dieser Satz von Praz in den Sinn. Immer wieder nimmt er scheinbar ganz banale Situationen, Begegnungen mit ihm wichtigen Menschen, Zufallsfunde an den Rändern der Alltäglichkeit zum Anlass, um uns mit nur wenigen Worten, aber mit einem großen Fundus an geistesgeschichtlichem Wissen auf die ‚wunderbare Wirklichkeit der Welt‘ zu stoßen. Steinherr ist promovierter Philosoph, aber er schließt sich nicht ein hinter den von außen nicht mehr einsehbaren Mauern der akademischen Denkdispute, sondern er öffnet mit Worten die Fenster zu einer Welt, die ohne die Poesie unendlich viel ärmer, kälter, unwirtlicher wäre als sie es ohnehin schon ist. Immer neue Gedichte bringt er mit von seinen Reisen hinaus aus dem Münchner Refugium nach Italien, Frankreich, England, die USA.

Und er ist ein ungemein kluger und bedächtiger Interpret von Kunstwerken, die wir vielleicht auch schon mal gesehen haben, aber nicht so wie sie Steinherr interpretiert. „Schreib ein Gedicht über Vermeer/ in dem es Nacht ist/ und menschenleer und wüst/ aus dem die Ruhe der Dinge ausgewandert ist/ und in dem überall Splitter herumliegen/ von einer zerschlagenen Scheibe/“ (aus „Schreib ein Gedicht über Vermeer“). Wen wundert es, dass die Gedichte von Ludwig Steinherr noch immer nicht das Echo bei uns gefunden haben, das sie längst verdienen. Es ist nicht die Zeit des Innehaltens, des Abwägens eines Satzes von Marc Aurel, einer Meditation über ein Bild von Caravaggio oder über Wunder inmitten, nicht außerhalb dieser Welt. Unendlich vieles gäbe es, ein großes Lamento über die Entzauberung der Dinge und den Verlust großer Werte anzustimmen. Steinherr aber klagt nicht. Er sucht mit seiner Lyrik die Wunder hinter der Wirklichkeit der Welt zu finden, um ihnen wieder eine Heimat in unserer erkalteten Vernunft zu geben.

Jedes Gedicht von Ludwig Steinherr löst ein Echo aus, das man noch lange nach seiner Lektüre vernehmen kann. Die „Zeit der Dichtung“ ist eine andere Zeit als sie uns die Sekundenzeiger einer Bahnhofsuhr oder das Kalenderblatt anzeigen.

Carl Wilhelm Macke

Ludwig Steinherr: Flüstergalerie. Edition Lyrik 2000. 140 Seiten. 19,90 Euro.