Geschrieben am 14. Dezember 2011 von für Beuse-Classics, Litmag

CULTurMAG-Classics: Die Beuse-Kolumnen

Karaoke

– Stefan Beuse berichtet von den Erhabenheiten und Fallstricken der Welt. Diesmal: Sie haben nur eine Stimme.

Nur noch sieben Sekunden bis zur Strophe. Noch sechs. Fünf. Vier.

Bei einer normalen Dichterlesung sitzt der Dichter vor einem Glas Wasser und einer Handvoll Senioren und beantwortet anschließend Fragen. Junger Mann, wo nehmen Sie nur diese Ideen her? Haben Sie das alles wirklich erlebt? Solche Fragen.

Interessanter sind Lesungen in Schulen. Dort wird man gefragt: „Kann es sein, dass Sie schreiben, um zu verstehen, warum Sie schreiben?“ – „Eine sehr intelligente Frage, junger Mann“, schmeichelt man da zurück, es geht ein bisschen hin und her, und am Ende ist aus der Lesung vielleicht ein Schreibkurs geworden.

Der Schreibkurs, den ich gerade gebe, findet an einer Schule in einem so genannten Problemstadtteil inmitten eines so genannten sozialen Brennpunkts statt. Meine Schreibschüler kommen aus Afghanistan, Pakistan und der Türkei. Einer kommt aus Deutschland.

Die Texte meiner Schreibschüler bilden so genannte Lebenswirklichkeit ab. Die Texte der Jungs handeln davon, dass einer erst gemobbt wird, dann aber Karate kann und alle plattmacht. Die Texte der Mädchen handeln davon, dass eine sich verliebt und die Eltern oder Allah sagen, das geht aber nicht. Keiner meiner Schreibschüler trinkt Alkohol.

Am Abend vor einer der letzten Unterrichtseinheiten traf ich mich mit einem befreundeten Schriftsteller, der eigentlich aus einem anderen Land kommt, aber für ein paar Tage in der Stadt war, und einer befreundeten Lektorin. Wir gingen erst essen, dann trinken, dann in eine Karaokebar. Der Schriftsteller ist reich und berühmt, die Lektorin jung und schön, die Karaokebar war laut und voll. Alles war, wie es sein sollte.

Irgendwann waren auch wir laut und voll. Der Schriftsteller grölte „Smoke on the Water“ ins Mikrofon und bestellte noch eine Runde. Die Lektorin und ich sangen „Creep“ im Duett, und ein Backgroundchor aus gefühlt 500 betrunkenen Briten und 1000 der englischen Sprache ohnmächtigen Asiaten sang mit uns. Es wurde Abend und es wurde Nacht; ich sang „Angels“, ich sang „Strawberry Fields“, ich sang „Daydream Believer“. Ich trank alles, was man mir hinstellte.

Gegen halb fünf warf der reiche und berühmte Autor ein paar Münzen in einen Alkoholtestautomaten, weil er wissen wollte, wie weit jeder von uns vom Pupillenstillstand entfernt war. Als er es wusste, sang er „Highway to Hell“ und kam sich dabei nichtmal theatralisch vor.

In der U-Bahn, die mich am nächsten Tag in den Problemstadtteil brachte, lag mein Restalkoholpegel bei 2,1 Promille. Ich hatte 90 Minuten geschlafen und keine Stimme mehr. Ich hatte ein Problem.

Guten Morgen, Herr Beuse, sagte mein Schreibkurs. Ich lächelte.

Mein Schreibkurs plapperte ein wenig. Junge Leute plappern gern ein wenig vor dem Unterricht, daran hat sich nichts geändert. Aber irgendwann wurden sie unsicher. Etwas war anders als sonst. Einer nach dem anderen verstummte; sie sahen mich an und warteten. Es war plötzlich sehr, sehr still. Ich hatte meinen Schreibkurs noch nie so artig erlebt.

Normalerweise ist mein Schreibkurs ein disziplinloser Haufen ohne Respekt. Mach das Adjektiv weg, sage ich, das ist hässlich und dumm. Pfft, sagt mein Schreibkurs, ich bin der Künstler, du kannst mir gar nichts. Das hätten wir uns damals bei Böll, Kempowski oder Grass nie getraut. Aber die wären natürlich auch nicht in unsere Schule gekommen, um uns beizubringen, wie man schreibt. Es waren andere Zeiten damals. Man kannte den alten Fritz noch.

Meine Zöglinge erbettelten nun unverhohlen das Wort des Meisters. Der Meister raschelte ein wenig mit seinen Zetteln. „Heute üben wir mal Vorlesen“, wollte er sagen, konnte es aber nicht.

„Sind Sie böse auf uns?“, fragte es aus der letzten Reihe. – Ja, warum eigentlich nicht? Theatralisch hob ich den Stoß bedruckten Papiers vor mir vom Tisch und deutete darauf wie Moses auf die Tafeln des Gesetzes. „Häääährrrhooohhh!“, tönte es furchterregend aus meiner Kehle. Die Gemeinschaft fuhr zusammen.

„Wir … werden uns noch mehr Mühe geben“, beteuerte eine schüchterne Stimme von Backbord. Der Meister wiegte den Kopf. „Wir schreiben nie wieder: Das Blut sprudelte aus seinen Eingeweiden wie ein Springbrunnen“, versprach Muhammad. „Und auch nicht: Sie war verliebt in ihn“, ergänzte Esme. „Genau“, fiel Kim ein, die ich nur so nenne, weil ihr wirklicher Name mir etwa so leicht über die Lippen geht wie der dieses Aschevulkans: „Wir schreiben jetzt immer, dass sie nicht schlafen kann und so, damit der Leser von selbst merkt, dass sie verliebt ist!“

Ich neigte mein Haupt auf eine Weise, die Marlon Brando beim Casting zu „Der Pate“ auf die Plätze verwiesen hätte.

In den folgenden zwei Stunden fügte ich meiner Körpersprache immer neue Nuancen hinzu, und gegen Ende zerfuchtelte ich, beflügelt von noch immer gut und gerne 1,3 Promille, die Luft vor meinen jugendlichen Zuhörern wie ein Karajan auf Speed.

Wahrscheinlich hatte mein nächtlicher Versuch, „Paradise City“ entfesselter zu singen als Axl Rose selbst, meinen Stimmbändern den Rest gegeben. Doch gegen Ende der Unterrichtseinheit nutzte ich deren allmählich sich regenerierende Rudimente auf maximal effektive Weise: Ich winkte die Kursteilnehmer mit einer leichten Bewegung der Rechten heran und hauchte mit Don-Corleone-Reibeisen: „Ihr habt etwas gelernt heute.“ Man hätte die Kugel aus einer Tintenpatrone fallen hören können. „Eure eigene Stimme“, krächzte ich kryptisch. „So lange ihr nicht in die Stille gegangen seid, um dort das Gold eures wahren Selbst zu finden, ist die Stimme der anderen für euch ohne Wert.“

Da hatte ich wohl gerade nochmal die Kurve gekriegt. Nach meiner kleinen Ansprache nämlich blickte ich in zwei Dutzend beseelt glänzende Murmelaugen. „Captain, mein Captain!“, rief es tränenerstickt, vereinzelt zunächst. Doch nach und nach addierten sich die Stimmen zu einem begeisterten Chor, der mich sanft über die Schwelle der Lehrstätte trug, hinein in das goldene Licht des Tages.

Beschwingt summte ich dem sozialen Brennpunkt „Daydream Believer“ vor. Dem sozialen Brennpunkt war das egal. Aber für den Fall, dass wieder jemand fragt: Jedes verdammte Wort von dem, was ich schreibe, ist wahr. Wer das nicht glaubt, soll meinen Schreibkurs fragen. Der kann ein Lied davon singen. Auch ohne Mikrofon.

Stefan Beuse

Zur Homepage von Stefan Beuse geht es hier.

Tags :