Geschrieben am 2. November 2011 von für Beuse-Classics, Kolumnen und Themen, Litmag

CULTurMAG-Classics: Die Beuse-Kolumnen

Bernd Clüver macht Karriere

– Stefan Beuse berichtet von den Erhabenheiten und Fallstricken der Welt. Diesmal: Die Literaturshow im Luxushotel.

Abgehalfterte Showstars erkennt man gemeinhin daran, dass sie zur Eröffnung des neuen Möbelmarkts ins Gewerbegebiet Kattenvenne-Südwest geladen werden und dort vor 26 halbinteressierten Bratwurstessern Hossa machen müssen. Einige Ex-Sternchen jedoch haben aus der Not eine Tugend gemacht und die preisgünstige Resteverwertung ihres einstigen Glanzes vielleicht unbewusst zu einer eigenständigen Kunstform entwickelt. Wer erinnert sich heute noch daran, dass zum Beispiel Jürgen Drews oder Roberto Blanco damals als ernstzunehmende Künstler galten und bei Dieter Thomas Heck im Zettt!!!-Deeeeee!!!-Effff!!! so erfolgreich waren, dass sie („dreimal auf eins bedeutet: bitte nicht wiederwählen“) ohne jedes ironische Anführungszeichen, abseits vom Malle-Trash auf dem Sperrmüll der traurigen D-Prominenz gut gefunden werden durften?

Der geistige Nährboden dieser Ära, die verschwiemelte Altherrenschwitzigkeit von „Hitparade„, „Was bin ich?“ und „Der große Preis“, die Borniertheit eines Lebens zwischen Buttercremetorte, Likörchen und Schwarzwälder Kirsch wurde längst mit ihren Galionsfiguren Fritze Flink, Hänschen Rosenthal und Konrad Töns beschriftet und archiviert: als Zeit der „großen Abendunterhaltung“. Obwohl ihre Versatzstücke im Rahmen von Revivals, Motto-Partys und Das-waren-noch-Zeiten-Shows mittlerweile Kultstatus genießen, befindet sich, wer heute noch ernsthaft zu einer Abendgala eingeladen wird, vermutlich auf einem Kreuzfahrtschiff – zusammen mit anderen Senioren, deren Helden ewig Peter Frankenfeld, Fritz Walter und Uschi Glas heißen werden.

Entsprechend gewarnt war ich also, als man mich einlud, als Gast bei einem Charity-Talk in einem Luxushotel am Ostseestrand aufzutreten, denn das konnte nur dreierlei bedeuten: Ich hatte meinen Zenit längst überschritten, ich würde einen Zenit nie erreichen – oder den Veranstaltern war zugetragen worden, dass ich meine Restwürde an dem Tag verloren hatte, als ich in Europas größter Shopping-Passage für viel Geld einigen versprengten, zwischen Zara, H&M und Latte Macchiato oszillierenden Damen ein wenig Poesie hinterher rufen sollte.

Bei einer Charity-Gala jedoch gibt es kein Geld, der Eintritt wird Bedürftigen gespendet, und für den guten Zweck, dachte ich, kann man ja wohl mal. Ein Tag am Meer würde mir guttun, den Blick in unverbauter Ferne sich verlieren zu lassen, ach.

Weniger gut tat es mir, schon im Vorgarten des Hotels in eine Tagung der Generali-Gruppe zu geraten. Die Generali-Gruppe – hätten Sie’s gewusst? – ist die Management-Holding eines der größten und erfolgreichsten Erstversicherungsverbände in Deutschland. Stellen Sie sich also Armeen Polohemd tragender Emporkömmlinge vor, mit Namensschildchen an ihren Freizeitsakkos und zupackender Die-Zukunft-gehört-uns-Widerlichkeit, wie sie als lebende Kickerfiguren an aufblasbaren Stangen hängen und mit der quiekenden Hermès-Tuch-Weiblichkeit der Verwaltungsfachangestellten „Spaß haben“; Spaß im Sinne von Proseccoschwips an untergehender Sonne und dem tückischen Gefühl, das Leben könnte immer so weitergehen.

Wenn Sie diesem Treiben fünf Minuten lang zugesehen haben, sind Sie durch die Vorhölle gegangen. Dann kann Ihnen keiner mehr was. Dachte ich jedenfalls – und betrat das Hotel, das vor allem eines war: weiß.

Das Restaurant, in dem das Abendessen mit den Moderatoren stattfinden sollte, erinnerte mich an meine Vorstellung von den letzten Minuten auf der Titanic: In der Mitte saß ein Mann, der wie eine alkoholkranke Version eines in die Jahre gekommenen Richard Clayderman aussah, in einem sehr weißen Anzug an einem sehr weißen Flügel und klimperte ein wenig.

„Entschuldigung, wir sinken, darf ich mich setzen?“, fragte ich das Moderatorenduo natürlich nicht, setzte mich aber trotzdem. Das Moderatorenduo hieß Katja und André. Katja war jung und unfassbar schön. André sah aus, wie man sich einen Conferencier eben vorstellt und hatte eine Stimme, die sich vermutlich automatisch auf dieses Timbre einschleift, wenn man jahrelang mindestens dreimal die Woche Bingo-Abende moderiert. Es waren gute Leute; sie liebten, was sie taten, ich mochte sie sofort.

Eine Stunde vor Beginn der Show sagten sie, es sei nun an der Zeit, sich umzuziehen. Ich war etwas überrascht; ich fand die beiden schon jetzt ziemlich overdressed. Aber gut, ich stellte mich so lange ans Fenster und sah den Generali-Leuten beim Sackhüpfen zu.

Als das Licht im Saal aus- und auf der Bühne anging, war die Verwandlung von Katja und André perfekt – was nur am Rande mit den Sachen zu tun hatte, die sie nun trugen.

„Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Ausgabe von Showtalk!“, rief André, als hätte er gerade mit Sauce Hollandaise gegurgelt – begleitet von zwei Gesten, die ich zum letzten Mal zur Zeit der großen Fernsehunterhaltung gesehen hatte: Der sich vom Herzen aus öffnende rechte Arm, der die ganze Welt umarmen will – und diese Essstäbchen-Art, das Mikrofon zu halten, mit drei Fingern, so Bata-Illic- und Costa-Cordalis-mäßig.

„Katja“, fuhr André fort, die Augen kurz gen Himmel verdreht, als dankte er einem gerechten Gott für ihre Anmut und hätte gleichzeitig Mühe, seine Wollust in Zaum zu halten: „Du siehst a-tem-beraubend aus“.

Katja machte einen Knicks, der irgendwo zwischen Schulmädchen und Prinzessin lag: „Nun, das Kompliment kann ich wohl zurückgeben, lieber André“, gab sie das Kompliment wohl zurück, es ging noch ein wenig hin und her und dann sagten sie ihren ersten Talkgast an, eine Autorin. Mit verteilten Rollen lasen sie den Wikipedia-Artikel über sie von kleinen Kärtchen ab und inszenierten auch die Publikationsliste in Form einer dialogischen Performance: „Also, mir hat von Beatrix Langdecker ja die Schildkrötenflüsterin besonders gefallen, und dir, Katja?“ – „Ja, André, auch ich habe die Schildkrötenflüsterin sehr gern gelesen, doch was mich wirklich fasziniert hat, war ihr Ratgeber Versprich es mir – Das Glück liegt an der Hintertür.“ – „Da sagst du was, Katja, der liegt ja schon seit Wochen bei mir auf dem Nachttisch!“

Angst einflößend daran war weniger die Schamlosigkeit, mit der die Bühne zu einem Podium für Dauer-Verlogenheit wurde, sondern die Konsequenz, mit der zwei zutiefst angenehme Menschen im Licht der Bühne zu Moderations-Robotern mutierten, die geradewegs aus dem Keller für sattes Wirtschaftswunder-Entertainment entkommen schienen. Obwohl natürlich alle im Saal wussten, dass diese Gala von Wahrhaftigkeit so weit entfernt war wie Italien vom Gewinn der Fußballweltmeisterschaft, hatte das Publikum mit Katja und André eine stillschweigende und unheimliche Übereinkunft getroffen. Ich begann zu verstehen, wie Privatfernsehen funktioniert.

Als ich dran war, sagte Katja: „Also, was mich ja besonders interessiert, die meisten Schriftsteller schreiben ja am Computer. Von dir weiß ich aber, dass du am liebsten im Auto schreibst, das finde ich total spannend, wie kommt man dazu?“

Ich zögerte eine halbe Sekunde. Ich habe gar kein Auto. Und wenn ich eins hätte, käme ich bestimmt nie auf die Idee, darin zu schreiben. Wahrscheinlich, dachte ich, hat Katja ein bisschen krakelig geschrieben auf ihren Moderatoren-Kärtchen. Wahrscheinlich wollte sie „Autor“ schreiben und hat in der Eile das „r“ vergessen. Aber ich wollte sie nicht bloßstellen.

„Oh“, tat ich überrascht und stammelte eine Erklärung, in der die Wendungen „Reise zu sich selbst“ und „Menschen erfahren“ vorkamen; ich verlief mich in einem Lügengebäude, aus dem ich nie wieder herausfinden würde, und als die Show vorbei war, ging ich nach draußen zu den Jungs und Mädchen der Generali-Gruppe, ich atmete die klare Luft und warf einen Blick zum Mond. Dann klipste ich mir ein herrenloses Namensschild ans Revers, stellte mich vor die Karaokeleinwand und sang „The great Pretender“.

Eine halbe Stunde später kam ein betrunkener Mann auf mich zu, schlug mir auf die Schulter und sprach mit Blick auf mein Revers: „Männer wie Sie, Herr Clüver, können wir in der Führungsetage unseres Unternehmens gut gebrauchen.“

Verwirrt hob ich das Namensschild dicht vor meine Augen. Da stand tatsächlich: Bernd Clüver. Es musste sich um einen Scherz handeln. Oder um einen dummen Zufall.

Nun, sagte ich, man könne ja zumindest ein Gläschen miteinander trinken, nicht wahr, das habe schließlich noch keinem geschadet.

„Das ist mein Mann“, jovialte der Mann aus der Generali-Führungsriege und nahm zwei Gläser Champagner von einem Tablett. Ich überlegte, wann der richtige Zeitpunkt wäre, ihm zu sagen, dass ich Arbeitsverträge nur im Auto unterzeichnete.

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