Geschrieben am 29. Juni 2011 von für Beuse-Classics, Kolumnen und Themen, Litmag

CULTurMAG-Classics: Die Beuse-Kolumnen

Der Cine-Komplex

– Stefan Beuse berichtet von den Erhabenheiten und Fallstricken der Welt. Diesmal: Im Kino mit Benjamin.

Mein Freund Benjamin und ich, wir gehen gern zusammen ins Kino. Das allein wäre für Leute, die uns kennen, schon Anlass genug für einen Tick-Trick-und-Track-artigen „oho“, „soso“, „hört-hört“ – Ausruf. Normalerweise nämlich hat jeder für sich schon genug damit zu tun, die Knie-von-hinten-in-den-Sitz-Drücker zu ertragen, das Gequatsche, Geknistere, Gefresse und Geraschel während des Films, das Auf- und Vor-einem-Rumstehen während des Abspanns. Da brauchen wir nicht noch jemanden, der „oh nein, voll peinlich“ flüstert, weil er zum ersten Mal hört, wie Sarah Connor „Bild rockt“ sagt.

Da das Venn-Diagramm unserer psychopathologischen Störungen aber eine erstaunlich große schraffierenswerte Fläche „A geschnitten mit B“ ergibt, klappt das ganz gut, mit Benjamin und mir und dem Kino. Es klappt sogar so gut, dass wir uns fast jedes Wochenende zwei Filme hintereinander ansehen. „Late Night Double Feature Picture Show“ habe ich das mal genannt, aber Benjamin findet, das klingt schwul.

„Aber das ist doch aus dem Rocky-Horror-Picture-Show-Lied!“, habe ich gerufen und mir ein „ist doch voll witzig“ verkniffen, aber Benjamin hat nur Lee-van-Cleef-mäßig den Mund verzogen und „na, deswegen ja“ gesagt.

Das Besondere jedenfalls ist, dass wir nie zusammen in Programmkinos gehen. Wir haben noch keinen Film gesehen, der auf Festivals in Cannes, Montréal oder Berlin mit Bären, Palmen oder Césars ausgezeichnet worden wäre, im Gegenteil: Eine Einladung zum Sundance Film Festival, eine Koproduktion mit canal+ oder „irgendeine OmU-Scheiße“, wie Benjamin das nennt, ist unsere Sache nicht.

Natürlich geht jeder von uns heimlich weiterhin in Sneak-Previews, kroatische OmeUs und so Zeug, aber zusammen sehen wir eben nur Filme, die „sicherlich voll in die Fresse“ sind, wie Marius Müller-Westernhagen das in der Bild-Werbung schön auf den Punkt bringt. Am liebsten gehen wir ins Cinemaxx 1, wo früher jede Abendvorstellung mit einer monumentalen Lasershow eröffnet wurde. Dort ist man absolut sicher vor dem subversiven Gedankengut unverstandener Künstler. Das Cinemaxx ist die letzte Bastion gegen die Flut differenzierter Betrachtungen und leiser Zwischentöne. Im Cinemaxx gibt es nur gut oder böse, und es gibt Dinge, für die es sich zu kämpfen lohnt. Das gefällt uns.

Benjamin findet das Cinemaxx „ehrlich“ und andere Kinos „verlogen“. Ein harsches Urteil, gewiss. Zumal es auch für das Publikum gilt. In gewisser Weise ist das Programmkinopublikum ja durchaus mit der Kundschaft eines Biosupermarkts vergleichbar. Jeder, der schon mal erlebt hat, wie sich ein Cineastenpärchen in Funktionsjacken (sie: Jack Wolfskin, er: Fjäll Räven) in der Schlange vor einem küsst (er: ein in die Jahre gekommener Rainer-Langhans-Typ, der in Studentenkneipen Suppe im Brotteig bestellt und den Dirk von Lowtzow meinte, als er den Tocotronic-Klassiker „Ich verachte euch wegen eurer Kleinkunst zutiefst“ schrieb; sie: Studentin der Soziologie, die „später was mit Kindern machen“ oder „mit Aussiedlern arbeiten“ möchte), weiß, was ich meine. Die beiden küssen sich auf so total liebe und ausgestellt sensible Art, dass man automatisch an schnäbelnde Wellensittiche denken und sich beherrschen muss, die Schnäbler nicht mit den Köpfen gegeneinanderzuschlagen – was eindeutig die Cinemaxx-Art wäre, das Problem zu lösen.

Das männliche Cinemaxx-Publikum sieht aus wie Bastian Schweinsteiger, Bushido oder Wayne Rooney. Das weibliche Cinemaxx-Publikum sieht aus wie Rihanna, Beyoncé oder Kerry Hilson. Die Filme im Cinemaxx heißen „Ein Chef zum Verlieben“ oder „King Kong und Godzilla kämpfen gemeinsam gegen die Terrorspinnen“. Man hat sofort ein ziemlich klares Bild von dem, was später auf der Leinwand zu sehen sein wird. Das Publikum schätzt und honoriert das mit Kommentaren, die zu dem Film passen, also hohoho, wenn der Bösewicht in eine Häckselmaschine gerät und süüüß, wenn Edward Cullen blasse Mädchen ansieht.

In Programmkinos heißen die Filme „Side Effects“ oder „Zwischen den Stühlen“. Dahinter kann sich eine zarte Coming-of-age-Geschichte, eine afghanische Familiensaga über drei Generationen oder ein Doku-Drama über eine lesbische Fabrikarbeiterin verbergen. Das Publikum wiegt nachher leicht den Kopf und sagt, dass der Kameramann unter Kieslowski konsequenter gearbeitet hat.

Ehrlich ist im Cinemaxx auch die Gastronomie. Da wird nicht groß seidenschalmäßig Weißweinschorle, Espresso oder Becks Gold bestellt. Sondern: Eimer Popcorn und 1,5 Liter Cola. Ich behaupte: Von dem Popcorn, das die Reinigungskräfte nach der 20-Uhr-Vorstellung im Cinemaxx 1 zusammenfegen, kann man den Hunger in der Dritten Welt, für, na, für mindestens einen Tag …

Jedenfalls bestellen Benjamin und ich immer das Pärchenmenü. Das ist ihm natürlich peinlich, weil das wieder schwul klingt, aber es ist eben auch billiger. Großes Bier, große Cola light, doppelt Nachos mit Käse und Salsa. Wenig Pepperoni. Wir sind ein ziemlich eingespieltes Team. Fast wie ein altes Ehepaar. Geht einer aufs Klo, bestellt der andere schon. Wir kennen unsere Laufwege. Und wir kennen: die besten Plätze, in jedem Cinemaxx-Saal. Resultat einer aufwändigen empirischen Studie.

Übrigens ist es keinesfalls so, dass Benjamin ein Freund seelenloser Haudrauf-Filme wäre. Im Gegenteil: Sieht er einen seelenlosen Haudrauf-Film oder einen Zombie-Film, in dem es nicht um intelligente Gesellschaftskritik, sondern nur darum geht, möglichst viele Köpfe ab- und Bäuche aufgerissen zu zeigen, verlässt er kommentarlos den Saal. Einen Geschmacks-Nazi hat ein gemeinsamer Bekannter ihn mal genannt. In der Tat sind seine Urteile ebenso entschieden wie unvorhersehbar. Spielberg- und Emmerich-Filme zum Bespiel bringen ihn vor Rührung oft zum Weinen, während er den neuen Scorsese oder Peter Jackson voller Groll „dahingepfuschten, ärgerlichen Dreck“ oder „unerträglich prätentiöse Scheiße“ nennen kann. Wenn ich glaube, er hat Recht, nicke ich. Wenn ich denke: „Das kann nicht sein, dass wir gerade denselben Film gesehen haben“, sage ich: „Lass uns rauf zur Bar gehen und einen Martini-Cocktail trinken.“

Der Gin in dem Martini-Cocktail lässt uns manchmal verrückte Dinge tun. Als wir einmal kichernd wie Schulmädchen mit vollkommen verkrampftem Zwerchfell den Bushido-Film gesehen haben, wurde es gefährlich. Vor, neben und hinter uns saßen Leute, mit denen man ohne Schlagring in der Tasche besser nicht über das unfreiwillig komische Potenzial dieses Films diskutiert. Beflügelt von den Schwingen des Hochmuts jedoch fing ich plötzlich an zu reden wie Bushido, was Benjamin aus dreierlei Gründen nicht guthieß: Er hatte Angst um sein junges Leben, er schämte sich für mich – und er hasst jede Form der Überhebung. Während ich mich tumb weiter in Bushidos Sprache suhlte wie die Sau im Dreck, wurde es um mich herum: sehr still. Was mich nach der Vorstellung rettete, war Benjamins diplomatische Leistung, sein inflationärer Gebrauch der Vokabeln „Alter“, „Digger“ und „coolbleiben“ und: die Popcorn-Zusammenfeger, die aussahen, als seien sie gleichzeitig Türsteher, Rausschmeißer, Bodyguards und diejenigen, die kurz nach Beginn des Films diskret am Rand stehen und mit Hilfe von Taschenlampen mahnen, man möge doch bitte die Füße vom Sitz nehmen.

Vor dem Kino wollten dann zwei unserer neuen Freunde aus dem Bushido-Film noch was trinken gehen mit uns. Sie bestellten Weißweinschorle und hielten einen Vortrag über das gestalterische Konzept des Films. Der Kameramann, sagten sie, habe unter Werner Herzog weit konsequenter gearbeitet.

„Keine Frage“, entgegnete Benjamin und nippte an seinem Bier. Dann beugte er sich zu mir. „Goldcard“, sagte er. „Wir brauchen eine Goldcard.“ Die beiden stupsten sich an und lachten. Wahrscheinlich fanden sie das schwul.

Stefan Beuse

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