Geschrieben am 18. Mai 2011 von für Beuse-Classics, Kolumnen und Themen, Litmag

CULTurMAG-Classics: Die Beuse-Kolumnen

Die geschenkte Zeit

– Stefan Beuse berichtet von den Erhabenheiten und Fallstricken der Welt. Diesmal: Mythische Orte – von Gewerbegebieten und Autobahnraststätten.

Ich habe ein neues Hobby. Ich nenne es: Aus der Zeit fallen. Der Effekt ist erstaunlich.

Aus der Zeit fallen kann man auf verschiedene Arten. Die einfachste Methode ist, viel zu früh zu einer Verabredung zu kommen. Probieren Sie das mal: Nicht auf den letzten Drücker loszuhetzen, sondern mindestens eine Viertelstunde zu früh am vereinbarten Treffpunkt zu sein. Ich verspreche Ihnen: Diese Viertelstunde wird Ihnen wie ein Geschenk vorkommen, ein Vakuum, in dem plötzlich alles möglich ist. Sie sind in einer schillernden Seifenblase, den normalen Abläufen enthoben und dadurch gewissermaßen im Wunderland: Ein Mensch, der eine Viertelstunde lang keinen Termin und nichts weiter zu tun hat als einfach – zu sein. Das halten Sie erst mal aus!

Schon auf dem Weg zum Treffpunkt werden Sie eine faszinierende und schier unglaubliche Beobachtung machen: Sämtliche Ampeln sind nicht – wie gewohnt – rot, um Ihr ohnehin kaum vorhandenes Zeitpolster noch weiter zusammenzudrücken, sondern springen wie von Zauberhand berührt auf grün.

Sie wissen ja: Zeit ist im Grunde nichts als die Bewegung von Gedanken, ein Konzept Ihres Geistes. Termindruck staucht die Zeit, während sie sich dem Flaneur öffnet. Wie ein warmes Messer durch Butter gleiten Sie durch den Verkehr, weil nichts Sie treibt. Sie schweben beseelt lächelnd, mit einem gütigen, ja, liebenden Blick für Ihre Mitmenschen ans Ziel.

Natürlich dürfen Sie am Treffpunkt nicht den Fehler machen, Zeitung zu lesen, an Ihrem Handy rumzuspielen oder sonst etwas zu tun, das Sie als wartenden und fest im Wertschöpfungsprozess der westlichen Gesellschaft verankerten Menschen kennzeichnet. Sie sind kein Wartender. Sie sind ein Günstling des Horus.

Schauen Sie sich nun all die Getriebenen und Verlorenen an. Sie sind schön, sie sind vollkommen. Nur haben sie das vergessen. Und die einfachste Möglichkeit, Menschen an das verlorene Paradies zu erinnern, ist immer noch: ein Lächeln. Sie werden sehen, es gibt nichts Verstörenderes, als einen vor sich hinlächelnden, in sich ruhenden Menschen inmitten eines Pulks zappelnder, rauchender, telefonierender Hysteriker. Nehmen Sie die irritierten Blicke als Belohnung. Wenn Sie das können, sind Sie bereit für die nächste Station auf unserer Reise: Gewerbeflächen.

Ich hatte letztens das Glück, in einem Hotel einquartiert zu sein, das mitten in einem Gewerbegebiet lag. Von meinem Zimmer aus konnte ich die langgestreckten Betonklötze von Möbelhäusern, Gartencentern und Märkten für Unterhaltungselektronik sehen, jeweils mit Outdoor-Erlebnisfläche und großem Parkplatz davor. Im Hintergrund rauschte die Autobahn.

Fußgänger sind in solchen Welten nicht vorgesehen. Gewerbegebiete sind für Autos, für Ranfahren, Beladen, Wegfahren. Als Spaziergänger muss man um sein Leben fürchten, bewegt man sich zwischen den Klötzen umher; die Rezeptoren der Autofahrer sind auf andere Autofahrer eingestellt, auf kantige, bullige Dinge von der Größe eines Kastenwagens.

Und doch ist es eine Wonne, vorzugsweise in der Abenddämmerung über die ölverschmierten Betonflächen der Gewerbegebiete zu schlendern, den Geruch von sonnenwarm staubigem Asphalt, verdorrtem Gras und Diesel in der Nase. Als urbaner Outlaw vor Möbel Kraft zu stehen und rauchend, mit einem Bier in der Hand, zuzusehen, wie die Sonne hinter dem „Bauhaus“-Logo verschwindet.

Der Ur-Ort aber, an dem Dreck, Romantik und Sehnsucht eine unverwechselbare poetische Allianz eingehen, der einzige Platz dieser Erde, an dem Schmierigkeit zur philosophischen Dimension wird, ist: die Autobahnraststätte.

An Autobahnraststätten sind alle Menschen gleich. Sie reduzieren Bayern und Preußen, Ost- und Westdeutsche, Türken und Griechen, Porsche- und Smart-Fahrer, Trucker und Tramper, Geschäftsleute und Arbeitslose auf ihre Grundbedürfnisse und Notdürfte. Deshalb sind Autobahnraststätten so was wie die letzte Bastion des Sozialismus. Hier hat niemand einen Beruf, niemand eine Funktion, niemand einem Bild zu entsprechen.

All jenen, die sich irgendwo zwischen Start und Ziel befinden, die kurz der ermüdenden Regelmäßigkeit entfliehen wollen, mit der ihr Auto die Stücke der unterbrochenen Mittellinie frisst, bietet der Rastplatz so etwas wie eine Instant-Heimat, eine Simulation von Zuhause, deren Reiz gerade in der zeitlichen Begrenzung liegt.

Wenn traurige Kittelfrauen im matten Neonlicht nach Benzoesäure duftenden Kartoffelsalat auf die noch spülmaschinenwarmen Teller geben und sagen, dass das mit der Wurst noch etwas dauert, haben wir kurz das Gefühl, angekommen zu sein. Egal, wo wir sind: Die Autobahnraststätte hält immer eine warme Mahlzeit für uns bereit.

An Autobahnraststätten können Männer noch Männer sein und sogar im Wohnzimmer rauchen. Sie müssen sich beim Pinkeln nicht auf die Klobrille setzen und brauchen keine blöden Fragen zu beantworten. Und das Wichtigste: Wenn sie gehen wollen, dann gehen sie. Nehmen ihren Mantel, ziehen ihren Hut ins Gesicht und steigen draußen auf ihr Pferd.

Autobahnraststätten sind das Bordell der Sehnsüchtigen und Getriebenen: ein Boxenstopp für Leib und Seele. Und dann schnell wieder weg. Unterwegs sein. An der Autobahnraststätte wird eine Philosophie zur ständig verfügbaren Simulation von Freiheit. Nirgendwo ankommen müssen. Das ist das Ziel.

Natürlich kann man das eklig finden. Man kann finden, dass es dort nach Frittierfett, Sagrotan und kaltem Qualm stinkt. Dass die Neonröhren widerlich, die Geräusche der Spielautomaten deprimierend sind.

Aber dann kann man auch gleich mit den Kollegen ins Wellness-Spa gehen und darüber jammern, wie stressig die nächste Woche wieder wird.

Stefan Beuse

Zur Homepage von Stefan Beuse geht’s hier. Foto: Diana Fabbricatore

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