Geschrieben am 23. März 2011 von für Beuse-Classics, Kolumnen und Themen, Litmag

CULTurMAG-Classics: Die Beuse-Kolumnen

Stefan Beuse berichtet von den Erhabenheiten und Fallstricken der Welt. Heute: Facebooks schleichendes Gift oder der Auserwählte mit dem Wasserglas.

Wie ich einmal die Matrix reloadete

– Jaja, die Pubertät. Schwieriges Alter. Immer schon gewesen, klar. War die hormonelle Verirrung früher aber in Form von Pferdedecken, Leonardo-Gläsern und Bon-Jovi-Postern konkret sicht- und damit einschätzbar, verlagert sich das Ganze heute zusehends auf Ebenen, die dem elterlichen Zugriff komplett verwehrt bleiben. Die Pubertät findet nicht mehr im Jugendzimmer, sondern passwortgeschützt in virtuellen Räumen statt.

Um den Gegner dennoch im Auge zu behalten, bediene ich mich von Zeit zu Zeit plumper Überrumpelungstaktik: Ich betrete unaufgefordert den Regierungsbezirk meiner Tochter, obwohl entsprechende Warnhinweise, Drohungen und abschreckende Piktogramme an der Türe daran gemahnen, vorher anzuklopfen. Der Anblick, der sich bietet, besteht aus drei wiederkehrenden Komponenten:

1. dem halb fassungslosen, halb wütenden Gesicht meiner Tochter, das auch ohne Worte „Hallo???!! Sonst alles klar???!!!“ sagt,

2. einer Unordnung, die eine komplette Scene-of-Crime-Versiegelung rechtfertigen würde und

3. einem von Glitzerherzen, Kuschelbären, Peace-Zeichen und Emoticons vollen Laptop-Bildschirm, der blinkt und leuchtet, als hätte sie gerade Freispiele gewonnen. Sie spielt aber gar nichts, sie chattet nur mit ihren Freundinnen.

Nun muss ich zugeben, dass ich oft länger brauche, wenn es um die Errungenschaften der Neuzeit geht. Ich hatte Probleme, mich von meiner Schreibmaschine zu trennen, weil ich den Geruch des Farbbandes liebte. Den Anschlag der Typen. Die Rotation der Walze, das Klingeln am Ende einer jeden Zeile. Während alle digital fotografierten, tätschelte ich meine alte Spiegelreflexkamera; ich wollte Tonbänder statt Kassetten, MCs statt CDs, DVD statt Blu-Ray. Doch irgendwann sehe ich es immer ein. Auch Web 2.0 sehe ich ein. Weil die Idee ja eine gute ist: die Welt zum Dorf zu machen, Grenzen und Schranken zu überwinden, auf dass alle enger zusammenrücken, sich vernetzen im Zeichen der Menschlichkeit.

Wie in alter Zeit mit seinem Stamm um ein Feuer zu sitzen und Geschichten zu erzählen, die trösten, helfen, unterhalten können, ist eine prima Sache. Dafür kann man ruhig mal „mitteilen, was man gerade macht“, sich von Menschen virtuell anstupsen lassen, die einem maximal über Ecken vom Namen her bekannt sind, und großzügig darüber hinweg sehen, dass das Netzwerk Leute bloßstellt, die nicht tun, was das Netzwerk von ihnen erwartet – nämlich, sich zu vernetzen: „Franz Muster hat nur 7 Freunde! Hilf ihm, neue Freunde zu finden!“ Das hätte früher mal der Lehrer vor der ganzen Klasse sagen sollen. Da wär aber was los gewesen!

Oder dieses subtile Getuschele auf dem Schulhof. Nur, weil man nicht Farmville spielt. Oder Anita, the online psychic, ein Glas Weizenbier oder Doktor Bohne zu seiner Zukunft befragt.

Je mehr Applikationen und Gimmicks man ablehnt, je mehr potentielle Schleusen für Werbebotschaften und Spyware man also verschlossen lässt, desto lauter werden die Stimmen: „Ihr habt lange nicht mehr miteinander gesprochen! Sag Hallo! Schenk was! Wie sagt man, wenn man etwas bekommt?! Willst du der Tante wohl ein Küsschen geben??!“

Ist das noch der sympathische Animateur, der den Schüchternen und Verzagten Mut zuspricht? Oder schon der penetrante Typ an der Tür, der darauf angewiesen ist, Zielgruppendaten zu sammeln?

Was steckt dahinter, wenn man plötzlich mit derselben Fassungslosigkeit, der gleichen masochistischen Sucht, mit der man sonst durchs Vorabendprogramm zappt, Profilupdates und Statuszeilen vor sich ablaufen lässt?

„Franz Muster isst grad selbstgemachte Hackebällchen mit viel Ketchup drauf. Hmmmmm, lecker.“

Privatsendern wird gern Volksverblödung vorgeworfen. Was aber, wenn das Programm, das sich das Volk selbst macht, noch viel verblödeter ist? Man klickt sich durch die Gedankenwelten von Leuten, vor denen man auf der Straße schreiend weglaufen würde, nur um zu lesen, dass ihre Katzen Verdauungsprobleme haben. Man weiß, dass das nicht gut sein kann. Dass das alles eine gigantische Zeitfressmaschine ist, die einen unglücklich macht und von dem abhält, was man eigentlich tun sollte, nämlich einer erfüllenden Tätigkeit nachgehen.

Der nächste Schritt ist Selbsthass. Abstumpfung. Verrohung. Die gute alte Abwärtsspirale. Nur noch viel tückischer. Denn das Mitmachnetz verbindet die Dauerberieselung des Fernsehens auf verhängnisvolle Art mit dem Kitzel des Glücksspiels. Der „Daumen hoch“-Button ist der Applaus des Netzwerkers, der sich dabei ertappt, Profilupdates so zu generieren, dass sie möglichst viele „gefällt mir“s einfahren.

Und ein weiteres Gift mischt sich in das adrenalindurchwehte, leicht überspannte Grundbrummen des Newstickers: Die Versuchung, sich in einen Avatar zu flüchten, der nicht als Avatar wahrgenommen wird, weil er genauso heißt und genauso aussieht wie man selbst.

Doch das Community-Ich entfernt sich – schleichend zunächst – von seinem Urbild. Während der degenerierte Zellhaufen vor dem Bildschirm allmählich verfällt, prostet das ewig junge Profilbild braungebrannt vor karibischem Hintergrund der ganzen Welt zu. Das ist Dorian Gray 2.0. Nur umgekehrt.

Was ich damit sagen will: Meine Tochter existiert eigentlich nur noch im Netz. In der wirklichen Welt läuft sie grußlos an Leuten vorbei, deren Surrogates sie bei msn mit Glitzerherzen und „Hab dich totaaaaal lieb!!!!“-Botschaften zukleistert.

Das aber kann so nicht weitergehen. Als Vater habe ich dafür zu sorgen, dass meine Tochter kein emotionaler Krüppel wird, der mit anderen emotionalen Krüppeln eine seelenlose Zombiewelt bewohnt.

Ich muss die Matrix zerstören, bevor es zu spät ist, denke ich. Ich bin der Auserwählte.

Der Auserwählte brachte seiner Tochter ein Glas Wasser. Trinken ist wichtig, sagte der Auserwählte und kippte das Wasser in einem Moment der Unachtsamkeit über den Laptop. Auserwählte können sehr ungeschickt sein.

Seitdem ist meine Tochter wie ausgewechselt. Sie lacht viel, redet über ihre Sorgen und Nöte. Wir spielen Brettspiele. Kochen zusammen, setzen uns ans Feuer. Erzählen Geschichten, die trösten und helfen. Ein Großteil der Pubertät scheint im Laptop geblieben zu sein. Jedenfalls so lange, bis das Wasser aus der Festplatte verdunstet ist.

Stefan Beuse

Zur Homepage von Stefan Beuse geht’s hier. Foto: Diana Fabbricatore

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