Von Schrift und Liebe
– Satte 672 Seiten auf meinem Schreibtisch, 1,7 Kilo in your face. Zwischen weinroten Buchdeckeln mit goldenen Verzierungen: „Habibi“, das neuste Graphic Novel von Craig Thompson, das zeitgleich auf Englisch, Deutsch und Französisch erschienen ist (oder erscheinen sollte: die französische Ausgabe hat sich verzögert). Von diesem Werk reden spätestens seit der Buchmesse in Frankfurt viele, und keineswegs nur die Feuilletons.
Dieser Craig Thompson!
Schon sein letzter Graphic Novel „Blankets“ war ein Schwergewicht.
Auf immerhin 582 Seiten beschrieb die autobiographische Coming-Of-Age-Geschichte den jungen Craig, sein Hadern mit der ersten großen Liebe, sein Wunsch zu zeichnen, was den Erwartungen seines christlich-fundamentalistischen Umfelds widersprach. Der Comic-Roman war so meisterhaft und berührend erzählt, dass er etliche Preise erhielt und eine Fan-Gemeinde fand, die weit über die übliche Comic-Leserschaft hinausging.
Und nun also „Habibi“, arabisch für „mein Geliebter“. Die Handlung, das wird nach wenigen Seiten klar, spielt weit entfernt von „Blankets“ und der verschneiten Landschaft Wisconsins. Auf den Leser trifft hier der Orient: Eine gewaltige Bilderflut in eine Welt von Tausendundeiner Nacht, zwischen Vergangenheit und Moderne, Tradition und Verfall – und eine Geschichte über die Macht der Liebe.
Dodola ist neun Jahre alt, als sie mit einem wesentlich älteren Mann verheiratet wird, der davon lebt, Manuskripte zu kopieren. Von ihm lernt sie Lesen und Schreiben, er macht sie mit den Lehren des Koran und den Geschichten von Sheherazade vertraut. Als Diebe ihr Haus überfallen und ihren Mann töten, wird die inzwischen zwölfjährige Dodola auf einen Sklavenmarkt gebracht, wo sie dem drei Jahre alten Zam begegnet. Es gelingt ihr, mit ihm durch die Kanalisation zu flüchten und schließlich in einem gestrandeten Boot in der Wüste vor dem Sultanssitz Wanatolien Unterschlupf zu finden. Der dunkelhäutige Zam besitzt die besondere Gabe, Wasserquellen ausfindig zu machen. Diese Fähigkeit rettet den beiden das Leben. Um sich und den Gefährten mit Lebensmitteln zu versorgen, beginnt Dodola, ihren Körper den vorbeiziehenden Karawanen anzubieten und wird bald als „Geisterkurtisane der Wüste“ bekannt. Sie kümmert sich um Zam, als wäre er ihr Sohn. Als sich mit dem Älterwerden die Zuneigung zwischen den beiden verändert, werden sie getrennt. Dodola wird in den Harem des Sultans verschleppt. Auf seiner verzweifelten Suche nach ihr landet Zam in den Elendsvierteln von Wanatolien bei den Eunuchen.
Clash zwischen Tradition und Moderne
Es ist nicht wenig, was dem Leser mit „Habibi“ abverlangt wird. Da sind zum einen die in die Handlung eingeflochtenen Referenzen zum Koran, denen immer wieder Parallelen aus dem Alten Testament entgegengestellt werden. Der Versuch einer Versöhnung von Abend- und Morgenland manifestiert sich etwa in der Geschichte von Noah, bzw. arabisch: Nuh, die an mehreren Stellen zitiert wird und auf den gemeinsamen Ursprung aller Völker zielt. Wiederholt wird auch auf 1001 Nacht verwiesen, in der Regel mit einem nüchternen Beigeschmack. So gelingt es Dodola wie Scheherazade zwar, den Sultan länger als jede andere Kurtisane für sich zu interessieren. Im Unterschied zum Original jedoch geschieht dies auf rein sinnlicher Ebene, Dodolas Talent zum Geschichtenerzählen kommt nicht zum Einsatz. Nach siebzig Nächten hilft dann alles nichts mehr: der Sultan ist gelangweilt. An anderer Stelle führt eine heilige Schlange Zam in der Wüste zur nächsten Wasserquelle. Bei der „Quelle“ handelt es sich allerdings um den unter der Kontrolle des Sultans stehenden Stausee von Wanatolien. Als seine Wächter die beiden entdecken, wird die heilige Schlange mit einem Schwerthieb enthauptet.
Und da ist schließlich Wanatolien selbst, eine Stadt, die mal aus den orientalischen Märchen des Mittelalters entsprungen scheint, sich mal als hochindustrialisiertes Metropolis präsentiert und zwischen Sultanssitz und „Marke“ pendelt. Alte und neue Zeit prallen hier aufeinander und zeigen ein Nebeneinander von Tradition, Modernisierung und Verfall. Die Gegensätzlichkeiten verdichten sich zur drohenden Apokalypse: Als sich Dodola und Zam endlich wieder finden, wird Wanatolien durch eine Flut zerstört, ein Moment, der nicht nur auf die Geschichten aus Bibel und Koran verweist, sondern mit Bildern von einem Müll-Meer aus einzelnen Turnschuhen, Coladosen und Fahrradreifen auch an jüngste Umweltkatastrophen denken lässt. Im letzten Moment wird das Paar von Noah, in „Habibi“ ein unbeschwerter Geisteskranker, der auf seinem Fischerboot im Müll nach Essbarem angelt, gerettet.
Der Umgang mit Heiligen Schriften
Im Kern bleibt „Habibi“, bei aller Sozialkritik, eine Liebesgeschichte. Sie beginnt mit den Worten:
„Von der göttlichen Feder fiel der erste Tropfen Tinte. Aus einem Tropfen ward ein Fluss.“
Wasser und Wort, Fluss und Schrift bilden die immer wiederkehrenden Elemente der Handlung. Verkörpert sind sie in den Hauptfiguren. Zam symbolisiert das Wasser: Wie Ismael, zu dessen Füßen ein heiliger Brunnen entsprang, ist es ihm möglich, eine Quelle in der Wüste zu finden. Dodola birgt in sich das Geheimnis der Schrift und des Wortes – ein Wissen mit göttlicher Verbindung:
„Als Gott die Buchstaben schuf, behielt Er ihre Geheimnisse für sich. Und als er Adam erschuf, teilte Er diese Geheimnisse mit ihm, vor den Engeln jedoch hielt er sie weiterhin verborgen.“
Das Geheimnis der arabischen Schrift – ihre Verbindung zum Göttlichen – zieht sich durch die gesamte Handlung. Ihre Verkörperung findet sie in der Formel Basmala – „Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes“ – , mit der fast jede Sure des Korans eröffnet wird. Die „Schönschrift“ dieser Formel zeigt Thompson gleich zu Beginn als möglicher Ausgangspunkt für Spielereien mit Schrift und Bild, Form und Inhalt, die Basmala als Vogel, Blatt, Birne und Tempel. Diese Vielfalt einer Schriftform ist das nachvollziehbare Objekt der Begierde für einen Comic-Zeichner, der kein Arabisch kann, die Buchstaben jedoch gelernt und die arabischen Ornamentalistik studiert hat. So ziehen sich in seinen überbordenden Schwarz-Weiß-Zeichnungen die variablen Formen der Basmala durch viele Bilder, finden Eingang in weitere orientalische Muster, verweben sich in die Mauern und Landschaft, die die beiden Helden umgeben.
Auch in „Blankets“ war das Konzept einer ‚Heiligen Schrift’ (die Bibel) eng mit dem Handeln der Hauptfigur verbunden. So suchte der junge Craig in der Geschichte zur Bestätigung seiner Bedürfnisse immer wieder nach passenden Stellen in der Bibel, auch seine Schuldgefühle resultieren aus solcher Lektüre. Gegen Ende führt diese Verfahren hier zu einer Abkehr von der Schrift:
„die Bibel, die Kirchen, die Glaubensdogmen … das alles schafft nur Grenzen zwischen Menschen und Kulturen. Es leugnet die Schönheit der menschlichen Existenz und ignoriert all diese Leerstellen, die jeder für sich selbst ausfüllen muss.“
So weit geht Thompson nicht mit einer ‚Heiligen Schrift’, die nicht die seine ist. Fragen nach der Dominanz des Wortes und der Religion (in diesem Fall der Islam) über das menschliche Handeln finden in der Geschichte um Dodola und Zam einen anderen Ausgang: an ihrem Ende steht die Liebe. „Habibi“, heisst es hier, „du bist viel mehr als eine Geschichte.“
Und das gilt auch für dieses Buch. Was Craig Thompson in sechs Jahren geschaffen hat, ist ein mit angeeigneten Arabesken und der eigenen Comicsprache durchzogener orientalischer Bilderrausch, ein Schwergewicht, in jedem Sinne, und ein Genuss – nicht nur für Comic-Leser.
Anna Helbling
Craig Thompson: Habibi. Aus dem Amerikanischen von Stefan Prehn. Handlettering von Michael Hau. Berlin: Reprodukt 2011. 672 Seiten. 39 Euro. Zum Blog von Craig Thompson, zur Homepage vom Reprodukt Verlag.