Die zwölfte Stunde der Nacht
Mit Claudio Magris‘ Veröffentlichungen (zuletzt Ein Nilpferd in Lund) kann man sich auf Reisen quer durch die europäische Kultur begeben. Ein Glückwunsch zum 70. von Carl Wilhelm Macke.
Irgendwann in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts: Zugfahrt von Nord nach Süd, von Hamburg nach München. Meine große Italien-Begeisterung war bereits entzündet. Von der Mutter, die immer mit leuchtenden Augen von ihrem Jahr am Lago di Bracciano nördlich von Rom erzählte. Dann kamen die Filme mit Don Camillo und Peppone, später, in den „roten Jahren“ der Studentenbewegung, viel Klassenkampf, Lotta Continua, Bella Ciao und Dolce Vita. Für mich existierte nur „Italia Rossa“, das rote Italien. Es gab Zeiten, da kannte ich das gesamte Zentralkomitee der kommunistischen Partei Italiens mit Namen und Funktion auswendig. Goethes Italienische Reise galt mir wenig, die Lektüre der Texte von Antonio Gramsci (soweit sie damals bereits übersetzt waren) sehr viel.
In der „Süddeutschen Zeitung“ erschien an dem Tag jener historischen Zugfahrt ein Artikel über deutsche Literatur und ihre Rezeption in Italien. Auch den las ich sofort in einem Atemzug. Den Autor schien ich auch schon zu kennen. Ein bekannter Leitartikler aus einer linken Tageszeitung. Der aber hieß Magri und nicht Magris, wie ich bei der nochmaligen Lektüre des Artikels irritiert bemerkte. Ein einziger Buchstabe hatte mich stutzig gemacht und mich herausgelockt aus meiner linken Italien-Sehnsucht. Es gibt also noch andere, nicht kommunistische Journalisten und Intellektuelle in Italien.
Seit dieser irritierenden Lektüre während einer Zugfahrt in den Süden achtete ich immer genauer auf Veröffentlichungen eines Autors mit dem Namen Claudio Magris. Nicht vom klugen Gramsci führte er mich weg, aber er geleitete mich heraus aus dem Käfig kommunistischer Blindheiten, in dem ich mich befand. Nach und nach las ich alles, was Magris schrieb und in deutschen Zeitungen veröffentlicht wurde: über den Habsburger Mythos in der österreichischen Literatur, über das alte und neue Mitteleuropa, über die Literatur der Stadt Triest und dann natürlich sein großes Buch über die Reise entlang der Donau. Während „Italia Rossa“ immer mehr verblasste und die dunklen, korrupten Seiten Italiens unter den diversen Berlusconi-Regierungen immer sichtbarer (und abstoßender) erschienen, wurden mir das Italien, auch das Europa des Claudio Magris immer vertrauter und sympathischer.
Für Formen jenseits von Zynismus und Resignation
Mit seinen Veröffentlichungen (u. a. Utopie und Entzauberung, Die Welt en gros und en detail, zuletzt Ein Nilpferd in Lund) kann man sich auf Reisen quer durch die europäische Kultur begeben. Man kann verschollene oder neuere Literatur Mitteleuropas neu- oder wiederentdecken: Italo Svevo, Joseph Roth, Franz Kafka, Robert Musil, Robert Walser, Isaak Singer. Magris ist ein Intellektueller, der Manes Sperber, einen der unbestechlichsten Zeugen wider die Verbrechen des Kommunismus’, zu seinen engsten Freunden zählte, aber der sich weigert, an den Siegesfeuern für gewonnene Schlachten gegen den Kommunismus teilzunehmen. In seinem letzten großen Roman Blindlings gibt er denjenigen eine Stimme, die ihre Hoffnungen auf die Revolution gesetzt haben, dann aber an dem Verrat ihrer Ideale und Utopien zerbrochen sind. „Auch die Revolution bricht oft mit großer Flaggengala auf, mit vielen roten Fahnen im Wind, und am Ende merkt man, daß es sich um Gehängte handelt.“
Begleitend zu seinen umfangreichen literarischen Arbeiten schreibt Magris seit Jahrzehnten schon mit großer Kontinuität für die Mailänder Tageszeitung „Corriere della Sera“ seine Kommentare zu Phänomen der Zeit jenseits oder unterhalb aktueller politischer Ereignisse. Dass ein so sehr in der alteuropäischen Tradition stehender Intellektueller wie Claudio Magris in Distanz steht zu einem lediglich im Kapitalismus heimischen Silvio Berlusconi, versteht sich von selbst. Zusammen mit Umberto Eco und anderen Freunden gehört Magris auch zu den Gründern von „Libertà e Giustizia“, jenem Verbund von links-liberalen Intellektuellen, die in Erinnerung an die besten republikanisch-demokratischen Traditionen Italiens heute versuchen, sich gegen die Welle von Stupidität und kommerzieller Aggressivität zu wehren, die mit dem „Berlusconismus“ das ganze Land zu überschwemmen droht. Solange sich noch einer wie Claudio Magris in die politischen Debatten Italiens einmischt – und das macht er Gott sei Dank sehr häufig –, sollten wir dieses Land nicht ganz vergessen. Allzu viel ist in den letzten Jahrzehnten an unseren gesellschaftlichen Utopien entzaubert worden. Dass es außer Zynismus und Resignation noch andere Formen gibt, damit umzugehen, kann man von Magris lernen.
„Aber noch streitet die zwölfte Stunde der Nacht: die Nachtraubvögel ziehen; die Gespenster poltern; die Toten gaukeln; die Lebendigen träumen.“
Ein Satz von Jean Paul. Magris zitiert ihn gerne.
Herzlichen Glückwunsch!
Carl Wilhelm Macke