Vorzugsweise gehämmert
Einige sind immer drin. Andere, die drin waren, sind jetzt draußen. Wieder andere, die noch nie drin waren, sind drin und freuen sich. Die Rede ist von den Lyrikern und ihrem inoffiziellen Sammelplatz, dem Jahrbuch der Lyrik. Von Gisela Trahms
Seit 1979 wird es von Christoph Buchwald ediert. Nach dem umfangreichen Jubiläumsband im letzten Jahr eröffnet die Ausgabe 2008 nun das zweite Vierteljahrhundert – nach einem Jahr Pause also Gelegenheit, einen erfrischten Blick auf das Lyrik-Panorama zu werfen. Wie immer steht dem Herausgeber ein jährlich wechselnder Mitherausgeber zur Seite, diesmal Ulf Stolterfoht, der gerade den Peter-Huchel-Preis erhielt. Frischblutzufuhr und variable Präferenzen sind also garantiert. Auch dürfte diese Tandem-Konstruktion für die wirklich spannenden Momente des ganzen Unternehmens sorgen: Wer darf hier lenken? Und wohin? Schließlich bürgen beide mit ihrem guten Namen für die Auswahl, und „Qualität“ ist gerade bei Lyrik ein Begriff mit unscharfen Rändern. Das Urteil „grauenvoll“ kommt einem da ziemlich schnell über die Lippen, während der Nachbar vielleicht ein Preislied anstimmt. Und bei aller Höflichkeit und Hochachtung, mit der Buchwald und Stolterfoht sich in ihren Nachworten voreinander verneigen, lässt sich doch auch das Zähneknirschen erahnen, mit dem der eine oder der andere der Aufnahme des einen oder anderen Gedichts schließlich zugestimmt hat. Stolterfoht ist ein Mann von entschiedenen Ansichten, der aus kräftigen Wörtern würzige Rätseltexte konstruiert. Zwar kann man nur erraten, welche Gedichte er durchgeboxt hat, aber in dieses „Jahrbuch“ hätten seine eigenen gut gepasst.
Handfester Zorn, artistisch gekühlt
Die Zahl der Autoren ist gegenüber den vorigen Bänden gestiegen, ebenso der Anteil der pastiorianisch beseelten. „nebelschwaben überm dinkelacker“ heißt beispielsweise ein Gedicht von Lars-Arvid Brischke, ein anderes von Konstantin Ames trägt den Titel „eune zitung, links, mitte rechts unten: luxusgütern nach nordkorea“. Trotz erheiternder Überschriften durchweht beide ein handfester Zorn auf die Verhältnisse, der auf vertrackte Weise artistisch gekühlt ist, und diese Kombination macht sich in vielen Texten bemerkbar. Schon das erste Gedicht, der „opener“, der als eine Art Orgelton im Hinterkopf bleibt, beginnt so: „Wir standen fern der Kapitalströme / die Frisuren waren dahin …“ (Björn Kuhligk). Es bleibt nicht bei den Frisuren, naturgemäß. Definiert wird Ohnmacht – woher sollte auch Hoffnung leuchten? –, aber das bedeutet nicht: widerspruchslos. Der lyrische Punch wird keine Revolution in Gang setzen, aber gepuncht muss werden.
Verglichen mit dieser wachen Härte klingen andere Gedichte betulich. Allerdings und glücklicherweise ist Härte nicht der einzig angestimmte Ton. Zartheit behauptet sich ebenso eindrucksvoll, zu sehen an Nora Bossongs „Rolandslied“, in dem eine Vater-Tochter-Beziehung ertastet wird. Oder Schlichtheit, wie immer meisterhaft vorgeführt von Johannes Kühn. Die Lyrik hat viele Provinzen, Subtilität und Geheimnis sind zwei ihrer traditionsreichsten. Stolterfoht preist das „Un-Geläufige“, das sich gegen das übliche Funktionieren und Verstehen von Sprache sperrt. Gerade in solcher Verweigerung besteht seiner Meinung nach die Chance auf Erkenntniszuwachs. Daher gilt der Punch auch und vor allem dem Cerebrum, des Autors wie des Lesers: Wirf die gewohnten Wortketten ab, frische deine Wahrnehmung auf!
Ein kiloschwerer Hauch
Leicht gesagt, schwer getan. Und nicht alle Texte lohnen ja die Mühe. Was Ann Cotten hier beiträgt, wird viele Leser bloß in den Tiefschlaf treiben. Wie anmutig bewegen sich dagegen die Motive durch Carl-Christian Elzes Sonett mit dem lapidaren Titel „es ist“. Ein wunderbares Ensemble bilden die drei aufeinander folgenden Gedichte von Lutz Seiler, die von Ortschaften und Ortsbezeichnungen handeln, vom Wohnen und Sprechen: „du mußt / für jedes wort die schwere / unterfangen, alles / was darunter ist, zu gast im ohr, an / deinem tisch.“ Der Einzelne und die Wörter, in denen er haust und in denen sich nach und nach die Erfahrungen eines ganzen Lebens konzentrieren, ein kiloschwerer Hauch – so präzise, so vieldeutig spricht davon nur Lyrik und nur die meisterliche. Wer aber mal seine Zähne beim Ausbeißen testen und erfahren will, wie ein Gedicht nach dem Leser schnappt und dann bockt, sollte sich die drei Texte von Marcel Beyer vornehmen, wahres Futter für ein ganzes Jahr. Man liest, man starrt, man fragt sich und puzzelt und wirft das Buch gegen die Wand. Trotzdem: Schiere Magie, betörend.
Zur Erholung kann man zwischendurch in den Angaben zur Person schmökern. Man erfährt, dass die Altersspanne der hier vertretenen Poeten von zwanzig plus bis achtzig plus reicht. Die meisten sind in den sechziger Jahren geboren, kurz vor dem Pillenknick, der uns vielleicht um manch schönes Gedicht brachte. Die Männer siegen mit Zweidrittelmehrheit, was einige Leser überraschen mag. Und ob männlich oder weiblich, sie rotten sich in Berlin zusammen – fast ein Drittel der Beteiligten wohnt da. Abgeschlagen folgen Köln und Leipzig. Ja, und München? Frankfurt? Hamburg? Bochum? Da schweigen wir lieber. Gewisse Pflaster treiben eben nur mit Mühe ein paar Blüten. Glücklicherweise gibt es noch Königs Wusterhausen, Guntersblum und Meppen. Das lyrische Wurzelwerk der Provinz. War immer da, ist heute da, beglückt uns mit Früchten eigenwilligster Art und hält das Land zusammen.
Gisela Trahms
Christoph Buchwald / Ulf Stolterfoht (Hrsg.): Jahrbuch der Lyrik 2008. S. Fischer. 224 Seiten. 18 Euro.