Geschrieben am 11. September 2008 von für Litmag, Lyrik

Björn Kuhligk / Jan Wagner (Hg.): Lyrik von Jetzt 2

Wer ist im Jetzt? Und welcher Text wird atmen?

Neue Stimmen, neue Verse: Nach fünf Jahren wird das Panorama der ersten Lyrik-Anthologie um fünfzig junge Autoren bereichert. Von Gisela Trahms

Großherzig gesprochen, ist ja immer Jetzt. Übergenau betrachtet, ist es schon entschwunden, ehe man das Wort zu Ende gesprochen hat. Dazwischen liegt das berühmte weite Feld, auf dem vieles gedeiht, auch Gedichte. Wie alle Artefakte möchten sie sich in Lebendiges verwandeln und vom historisch fixierten, punktuellen Jetzt hinüber wechseln in eines, das sie noch nach Jahren atmen lässt. Wie sie das schaffen? Durch Resonanz.

Vor fünf Jahren erschien Lyrik von Jetzt, von Gerhard Falkner eingeleitet und als „dokumentarische Anthologie“ bezeichnet, die die „Selbsterzeugung einer Generation“ protokolliere. Diese habe sich nicht durch gemeinsame Inhalte oder Ziele konstituiert, sondern durch eine bislang ungekannte „Verknüpfungsdichte“ aller an Lyrik Interessierten via Internet. Das hat sich seitdem noch intensiviert: Wie keine andere Gattung ist die Lyrik im Netz zuhause und hat dort, neben Festivals und Lesungen, ihre Öffentlichkeit. Zwar ist der gedruckte Gedichtband immer noch des Dichters Ritterschlag und sein Anker in der Realität, zwar bestimmen immer noch die großen Zeitungen den öffentlichen Diskurs, aber selbst wenn ein Gedichtband dort besprochen wird (selten genug), muss der Leser das Netz bemühen, um anhand der Textproben zu entscheiden, ob er das Buch bestellen will, denn die Buchhandlung hält es nicht vorrätig. Boom und Marginalisierung also, finanzieller Ruin und virtueller Ruhm in heftiger Umarmung.

Björn Kuhligk und Jan Wagner, damals 28 und 31 Jahre alt, präsentierten in ihrer ersten Sammlung 74 junge Autoren mit je vier Gedichten. Schon die Anzahl mobilisierte Abwehrreflexe, die sich wahrscheinlich mit Erscheinen des neuen, genauso organisierten Bandes, der 50 neue Stimmen vorstellt, noch verstärken werden. Wer braucht 496 Gedichte von 124 Lyrikern? So viele, denkt der Leser, können es ja unmöglich vom ephemeren Jetzt in das dauerhaftere schaffen. Hätten die Herausgeber nicht bitte die auswählen können, bei denen wir auf der sicheren Seite sind?

Die Kritik dachte und denkt wohl ähnlich. In Heft 171 von „Text + Kritik“ (2006) holte Michael Braun allerdings den ersten Lyrik von Jetzt-Band wieder aus der Ecke hervor, in die er ihn mit seinem Verriss in der „Basler Zeitung“ gepfeffert hatte, und konzedierte einigen Autoren jene Fähigkeiten, die er der „Generation“ absprach. Dennoch blieb er bei seinem Urteil, dass es sich bei der Mehrzahl der Gedichte um „hilflose Beziehungskisten-Poesie“ handle.

Jan Wagner antwortete mit einem Beitrag, der sorgfältig und in zornloser Geduld die Vielzahl poetischer Sprechweisen, ihre Eigenheiten und Gefährdungen darstellt. Dabei gelingen ihm Formulierungen, die eine Tür aufstoßen wie jene über den Reim, den man „als Assoziationen und Abwege provozierenden, als kreativen Störfaktor im Schreibprozess“ handhaben sollte. Und er resümiert: „..so wenig wie Experimentalität und Narration Gegensätze sein müssen, verzichten Parlando und Formstrenge auf den kreativen Zusammenprall.“

Wer also meint, Kuhligk und Wagner hätten in ihrer neuen Anthologie quasi blind eingesammelt, was die Szene hergebe, sei auf Wagners scharfäugigen Essay verwiesen. Man darf sicher sein, dass die Herausgeber mit Bedacht gewählt haben und dass die Ergebnisse überzeugen. Aber was heißt eigentlich „überzeugen“ in diesem Zusammenhang? Und wer soll überzeugt werden?

Vorwärts leben, rückwärts verstehen

Nun, die Jetzigen natürlich. Die, für die nicht Hermann Hesses Nebelwandern der Maßstab ist und auch nicht die Trias Gernhardt, Wondratschek, Enzensberger. Die diese Anthologie so pragmatisch nehmen, wie sie auftritt: ihr Ziel, so Kuhligk und Wagner, sei es, das Panorama des ersten Bandes zu „ergänzen und erweitern“ und damit ein Bild der „disparaten Szene“ zu vermitteln. Deutlich ist damit gesagt, dass die Lyrik von Jetzt sich gegen Vereinheitlichung oder Tendenzen sperrt. Die Leser werden ermuntert, mit ihren individuellen Erwartungen und Sensorien an die Texte heranzugehen. Keine Richtschnur also? Kein Kamm, über den Texte oder Rezipienten geschoren werden? Glücklicherweise nicht.

Ebenso ist die Frage: Was hat sich verändert von Band eins zu Band zwei, wohin geht der Trend? ganz überflüssig. Wir sind hier nicht auf der IAA und halten auch nicht nach Boliden Ausschau. Dass sich immer etwas ändert in der Unterströmung von Jetzt zu Jetzt, ist eine Binsenweisheit, und der Änderung zu folgen ist, für sich genommen, kein Qualitätsmerkmal. Formale Perfektion kann eines sein, muss aber nicht, manchmal erstickt sie. Gedichte, wenn sie den Nerv treffen, und zwar nicht in simpler Abbildung, sondern dank einer hochkomplexen Struktur, die gleichwohl berührt, können tatsächlich eine Generation konstituieren. Ob dies der Fall sein wird bei den Jetzigen, muss sich erweisen. „Wir leben vorwärts und verstehen rückwärts“, sagt Kierkegaard.

Seinen Hallraum muss sich jedes Gedicht allein erzeugen. Für Lyrik von Jetzt 2 bedeutet das: Jedes einzelne gegen die anderen 199. Nicht um zum Schluss zu schreien: „And the winner is…“, sondern um diejenigen herauszufiltern, von denen man gern begleitet werden möchte. Die Anthologie erleichtert die Suche, sie ist professionell und benutzerfreundlich gemacht. Wie produktiv die Lektüre wird, liegt im Ermessen des Lesers, der nicht hindurchstürmen, sondern sich im wählerischen Weniglesen üben sollte.

Zum Schluss möchte ich ein paar Autoren nennen, die mich beeindruckt haben: Herbert Hindringer, Claudia Gabler, Mara Genschel, Benjamin Maack, Andre Rudolph, Timo Berger, Sabina Naef, Ruth Wiebusch, Norbert Lange… Eine ganze Menge. Ob ihre Texte es schaffen in das nächste Jetzt, kann keiner voraussagen. Das kulturelle Gedächtnis zeichnet sich durch Vergessen aus, durch Aussondern und Fallenlassen tausender Verse (aber auch Romane und Theaterstücke). Na und? Von der Flüchtigkeit und Partikularität der Lebensmomente wie der Gebilde, die sie festhalten wollen, hat noch keine Generation so viel gewusst wie diese.

Gisela Trahms

Björn Kuhligk/Jan Wagner (Hrsg.): Lyrik von Jetzt 2.
Berlin Verlag 2008. 287 Seiten. 19,90 Euro.