Geschrieben am 27. April 2011 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Aus neuen Zeitschriften (I): Poet 9, BELLA triste, SpritZ und Kultur & Gespenster

Interessante Literaturzeitschriften gibt es viele und in ihnen verstecken sich so manche Perlen. „Am Erker“-Redakteur Andreas Heckmann sorgt dafür, dass wir den Überblick behalten; er wird von nun an regelmäßig über interessante neue Hefte berichten. Los geht es erst einmal mit einer Rückschau auf die „Herbstproduktion“ 2010, mit Ausgaben von Poet, BELLA triste, SpritZ und Kultur & Gespenster.

Poet 9

Thomas Böhme zaubert in „Poet 9“ aus dem samtig schillernden Hut kultureller Assoziationshöfe atmosphärische Gedichte und weiß sich dabei der (Schauer-)Romantik und dem Fin de Siècle verpflichtet. „Wir Zöglinge tragen unsere Herzen auf schneeigen Stirnen“, beginnt „Die Abtei“ und zieht den Leser in einen Wirbel aus Robert Walser, Präraffaeliten und Fantasy-Versatzstücken. Im hohen Ton geht’s ironisch fort bis zu komischen Pointen wie „O, daß die Nächte nun wieder kürzer werden/ wie die Kerzen vor dem gestrengen Altar!“ Flackerbilder aus Illuminaten-Filmen und Schmerzlust-Fantasien aus angestaubten S/M-Inventaren werden hier lässig arrangiert und rufen als Mehrwert – getreu dem Hofmannsthal-Vers „Und dennoch sagt der viel, der ‚Abend‘ sagt“ – doch unvermutet kristallklare Erinnerungen an Kindheitserfahrungen zwischen Großmutters Rockschoß und hallender Domes-Kälte herauf. Oder – „Der gepuderte König winkt aus seinen Kissen“ – an längst vergessene Kinderspiele, bei denen Schlaftiere im Bett einen jeden zu vertreten wussten.

Und Elias Wagner begeistert mit einem Auszug aus seinem Roman „Von Menschen, Fischen und Insekten“, der ganz offenkundig eine Familiengeschichte behandelt, dem realistischen Erzählen dabei aber Valet sagt: „Meinem Vater wuchsen an all den Stellen seines Körpers Haare, an denen normale Menschen keine Haare besitzen. Sogar am Rücken hatte er einen niedlichen Pelz, der in diesem Sommer einen leichten Graustich bekam. Denselben Pelz findet man übrigens auch bei gewissen Raupen, wie zum Beispiel auf dem segmentierten Rücken der Schlehen-Bürstenspinner-Raupe (Orgyia antiqua), die ich im Buch meines Großvaters namens Wunderbare Insekten eines Tages ausfindig machte. Wie schon gesagt: Papa musste damals einen Köder gehabt haben, der schöner war als ein senkrecht aufgefädelter Sternenhimmel in einer Wassernacht.“

Leider steht solchen Herrlichkeiten manch fatale Entdeckung in der Rechtschreibung gegenüber, von „rhytmisierte Zeit“ über „Withman“ bis „Verfehmter“, um nur beim „h“ zu bleiben.

Und so mitreißend die Autorengespräche in der letzten Ausgabe auch waren, so zwiespältig ist der Eindruck diesmal, nicht weil es um „Literatur und Politik“ geht, sondern wegen des disparaten Tons der Gespräche. Das Interview mit Reinhard Jirgl etwa ist geradezu quälend: „Das Verschriftlichen von Wirklichkeitsverhältnissen bedeutet beim Leser das Dechiffrieren der Zeichenfolgen gemäß dem Lesemodus, wodurch der sinnliche Gehalt der Textinformationen sich in serieller Weise erschließt“, formuliert Jirgl beispielsweise. So ein Satz fällt nie und nimmer im Gespräch, sondern in schriftlich geführten Interviews, in die der Autor mit lähmendem Fleiß seine Poetologie packt.

Während Jirgl in Theorie macht, schwillt der Dialog mit Iris Hanika mitunter zum Schwafelstrom: „Ich dachte nicht: ‚Dieses Land braucht dieses Buch‘, sondern: ‚Ich muss das schreiben, damit ich es loshabe‘. Und ich kann mir vorstellen, dass es auch interessant ist für andere, die in diesem Land leben. Aber ich weiß nicht, was das Buch bewirken könnte, und ich habe auch keine Absicht, irgend etwas damit zu bewirken – außer, den aktuellen Zustand zu beschreiben. Das ist dann meine Aufgabe als Chronistin.“ Hier hätte es viel zu straffen gegeben.

Erneut hoch zu loben ist Jan Kuhlbrodt, dessen Interview mit Norbert Lange frisch daherkommt, analytische Schärfe mit persönlichen Einlassungen verbindet und einen dialogischen, den Leser ins Gespräch einbindenden Eindruck macht. Dabei lässt Kuhlbrodt mit feinem Ohr Versprecher wie „abbruchfällig“ und „auf den ersten Moment“ stehen und korrigiert nur grammatische Spurwechsel, die in mündlicher Rede ständig unterlaufen, bei der Verschriftlichung aber tödlich sind. Chapeau!

poet 9. Literaturmagazin. Herausgeber: Andreas Heidtmann. Erscheint halbjährlich im Poetenladen 2011. 9,80 Euro. Ein Inhaltsverzeichnis samt Leseproben finden Sie hier.

BELLA  triste

Die Redaktion der BELLA triste ist eine Fahrstuhlmannschaft, die mitunter unvergessliche Hefte produziert, um dann eine Ausgabe auf den Markt zu werfen, die zum Vergessen ist. Nummer 27 ist wieder ein Highlight: Clemens J. Setz entwirft in „Der Prolog des Fotografen David Perlmann“ eine multiple Bestrafungsfantasie, in der ein Zehnjähriger vor den Augen der Eltern und der Schwester vom Vater seiner achtjährigen Spielkameradin gedemütigt wird, wobei altmeisterliche Sprachgewalt und gemessene, ja kalte Ich-Perspektive des Gemaßregelten im Erzähler ein Monster vermuten lassen, auf dessen Entwicklung man gespannt sein darf. Einen ganz anderen Ton schlägt Christoph Peters in „Die Katze winkt dem Zöllner“ an, einem Werkstattessay über Schreibhindernisse, die zu Glücksfunden führen können, über das Stromern auf der Suche nach literarischen Ideen und über die Erkenntnis, dass man fast überall fündig werden kann, freilich nicht jederzeit – sehr nonchalant, ganz wunderbar. Auch das Gespräch mit Kathrin Röggla sei erwähnt, in dem es zumal um ihr neues Buch „Die Alarmbereiten“ geht, eine „stufenweise Untersuchung medialer Katastrophenerzählungen“.

BELLA triste. Zeitschrift für deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Erscheint dreimal jährlich mit Prosa, Lyrik, Essays und Reflexionen. Eine Inhaltsangabe und Leseproben von BELLA triste 27 finden Sie hier.

SpritZ

SpritZ 195 dokumentiert die auf dem Übersetzertag 2010 gehaltenen Vorträge „Über unseren Umgang mit den Klassikern“, bei dem Susanne Lange und Rosemarie Tietze über ihre Neuübersetzung des „Don Quijote“ bzw. der „Anna Karenina“ berichteten und Andrea Ott „Lehrreiches und Ergötzliches rund um die Neuübersetzung des Romans ‚Northanger Abbey‘“ referierte, ein Vortrag, der einem unkanonisierten, empfindsame Schauerromane parodierenden Text der kanonisierten Jane Austen galt und wohl auch darum erfrischend unterhaltsam ausgefallen ist. Dass Werner von Koppenfels in seinem Vortrag „Zur Kritik von Klassiker-Neuübersetzungen“ mit guten Gründen vor einem Boom solcher Übertragungen warnt, sei freilich vermerkt. „Anscheinend sind die vielen, zum Teil recht guten Klassiker-Übersetzungen aus DDR-Zeiten irgendwo auf einem anderen Stern archiviert“, schreibt er und stellt fest: „Manchmal kann die schonende Bearbeitung einer vorliegenden Version die Neuübertragung ersetzen. Für den, der sie unternimmt, ist das freilich eine delikate und wenig ruhmreiche Arbeit“, und zudem wollen „die Verlage naturgemäß mit dem Versprechen runderneuerter Klassiker beim Publikum punkten. Die frühere Fassung ist damit in der Regel aus dem Verkehr gezogen und dem Vergessen überantwortet, das Feuilleton bespricht diensteifrig das Neueste, als wäre es das Erste, der Leser erhält für mehr Geld schlechtere Ware“.

Sicher – diese ketzerischen Ansichten gelten für die Neu-Übersetzungen von Lange, Tietze und Ott (und vieler anderer) nicht. Wie wäre es aber beispielsweise, den polnischen Klassiker „Die Puppe“ (Lalka) von Bolesław Prus, der 1954 in der Übersetzung von Kurt Harrer im Aufbau Verlag erschien, endlich in einer gesamtdeutschen Ausgabe neu zugänglich zu machen, auch wenn es sich dabei nur um eine Überarbeitung der alten Übersetzung handeln sollte? Dass dieser wichtigste Roman des polnischen Realismus seit Jahrzehnten auf Deutsch nicht zu bekommen ist, spiegelt den Zustand der deutsch-polnischen Beziehungen ähnlich unbarmherzig wie die Bahnverbindung von Dresden nach Breslau (dreimal täglich, 7:32, 13:31, 17:31).

Spritz 195. Spritz – „Sprache im technischen Zeitalter“ erscheint viermal jährlich. Ein Inhaltsverzeichnis und Leseproben finden Sie hier.

Kultur & Gespenster

In der elften Ausgabe von Kultur & Gespenster geht es um Drogen. Dem Heftschwerpunkt vorangestellt ist die unbedingt lesenswerte Abschiedsvorlesung „Gymnasiale Kulturhistorie als Weg in die Soziologie“ des in diesem Jahr 75jährig verstorbenen Katastrophenforschers Lars Clausen, die 2003 erstmals im Mitglieder-Rundbrief der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft erschien. Clausens Anliegen ist es, den Kieler Erstsemestern vor seiner Emeritierung vor dem Hintergrund seiner soziologischen Laufbahn und doch konkret und nahezu leiblich nachvollziehbar zu machen, wie es sich anfühlte, 1948-54 in Hamburg Teenager zu sein, und welche Erfahrungen wie und vor welchem Hintergrund für ihn (und seine Kohorte) bedeutsam waren, ihn geprägt haben. „Knickende Gewissheiten“ ist ein Kapitel überschrieben, untergliedert in „Gar kein Führer mehr“, „Weder Deutschland noch Reich“, „Ohne Preußen“, „Hanseatische Alternative“.

Die Autorin Karla Schneider schrieb mir neulich über ihr neues Kinderbuch-Projekt: „Mein Anliegen ist in etwa, den Kindern der ferngeheizten Wohnungen und der Autos mit Klimaanlage von der eisschranklosen Hitze der Sommer damals zu erzählen. Und von den Wintern mit 17 Grad Kälte in so gut wie ungeheizten Wohnungen. Den Kindern der Supermärkte von der Rationierung praktisch aller Dinge des Lebens zu erzählen. Und wie wenig ‚behütet‘, verglichen mit heute, man damals als Kind lebte. Dass stundenlanges unbeaufsichtigtes Streunen normal war, ebenso die Ansicht, Kinder unterschiedlichen Alters könnten sehr wohl auf sich selbst aufpassen. Dass Finden tausendmal erhebender war als Geschenktkriegen. Auf welcher anderen Basis die Genussfähigkeit stand. Dass man, wenn man sein Herz an jemanden hängte, man total ungeleitet (d.h. ohne Fernsehszenen als Vorbild) liebte, phantasievoll und eigentlich ganz ohne Erwartung von Gegenleistung. (Ich meine natürlich vor der Pubertät!)“ – so muss man sich auch Clausens Vorlesung vorstellen, freilich ins  Intellektuelle gewendet und für ein junges akademisches Publikum.

Andreas Heckmann

Kultur & Gespenster 11. Kultur & Gespenster erscheint zweimal jährlich im Textem Verlag. Das Inhaltsverzeichnis finden Sie hier, das gesamte Heft als PDF hier.

Diese Zeitschriftenschau ist zuerst in unserem Partnermedium „Am Erker“ erschienen.