Citizen K. mit seinen Überraschungen & Entdeckungen
– Gestern Abend ging das 62. Filmfestival Mannheim-Heidelberg zu Ende, auf dem seit 31.Oktober rund 50 Filme zu entdecken waren. Ein Bericht von Wolfram Schütte.
Wer durch die (Einkaufs-) Zentren Mannheims & Heidelbergs zusammen mit Tausenden von Kunden streift, sieht sich von den “Liebesblicken” des vielseitigen Warenangebots geradezu umzingelt. Um gegen diese Aufmerksamkeits-Konkurrenz auch noch wahrgenommen zu werden & im Kampf um die Zeitökonomie der meist jugendlichen Käuferschichten bestehen zu können, muss man sich etwas Besonderes einfallen lassen.
Erst recht, wenn man ein Filmfestival, das eine lange Geschichte & große Vergangenheit hat, die aber für die Heutigen nichts mehr wert sind, dort gegen den Mainstream aller Unterhaltungs- & “Shopping”-Möglichkeiten positionieren will. Das kann der “Citizen K” (wie Kötz) wie kein Zweiter.
Der immer umtriebige Festivalleiter Dr. Michael Kötz ist nicht nur ein Filmenthusiast wie sein Hofer Filmtage-Kollege Heinz Badewitz. Kötz ist zudem noch ein ebenso einfallsreicher wie charmanter Marketingmeister, der Politiker & Sponsoren mit Lust & Laune ebenso um seine Finger wickelt wie sein Publikum, das er mit schmeichelhaften Worten vor den Filmen zu seiner zahlreichen Anwesenheit begrüßt & beglückwünscht.
Zuvor hatte er mit seinem Team das Programm nach Themenschwerpunkten portioniert & in einem opulenten Programmheft ausführlich & animierend vorgestellt. Diese kostenlosen Handreichungen zum Programm haben für die freundlichst umgarnten Besucher den Vorteil, dass ihm Orientierungsschneisen in das umfangreiche elftägige Programmangebot von “Wettbewerb”, “Internationalen Entdeckungen” & “Sondervorführungen” angeboten werden. Außerdem legen die Themen ihm nahe, je nach seinen Wünschen andere oder ähnliche Filme zu terminieren, also nachhaltiger das Festival zu nutzen. Indem er das diesjährige unter das Motto “Jeder eine Geschichte” stellte & den Slogan nicht nur auf die Filme, sondern auch auf den einzelnen Besucher bezogen wissen wollte, hat Kötz sein Festival des internationalen Autorenfilms doppelt kodiert: die Einzigartigkeit der Filme wie die der Kinogänger wurde damit pointiert. Um zusätzlich an ein Mainstream fixiertes jugendliches Studentenpublikum heranzukommen, hatte Kötz den jüngsten Film der Coen-Brüder (“Inside Llewyn Davis”) als Preview seines Mannheimer Festivalauftakts genutzt & bei dieser Gelegenheit das studentische Publikum direkt zum häufigeren Besuch seines Festivals angesprochen. Er lässt nichts unversucht, um potentielle Kinogänger anzulocken.
Denn nur, alternativ zum Alltag, “alternative Filme” zu spielen – & das auch noch an ungewohnten Plätzen im Mannheimer Stadthaus & in einem Zelt oben beim Heidelberger Schloss –, das reicht nicht aus, um das prospektive Publikum in Bewegung & Erwartung zu versetzen, damit es sich für Filme & Orte entscheidet, die mit den Bequemlichkeiten seines Alltags nichts mehr zu tun haben. Es wird ja auch vom Publikum verlangt, sich für das Risiko, das im Unbekannten liegt, zu entscheiden & dann auch noch geduldig in einer langen Schlange zu stehen, bevor man sich selbst auf ein ungewöhnliches Filmabenteuer einlassen kann. Es bedeutet auch, nicht wie üblich in den Cine-Maxen der beiden Metropolen des dicht versiedelten Rhein-Neckarraums, mit Popcorn wohl versehen, sich in einem bequemen Sessel zu fläzen & vom Dolby-Stereoton der modernen Kinounterhaltung umschmeicheln zu lassen. Denn das Filmfestival zeigt die Filme jeweils in der Originalfassung & unterhalb der Leinwand läuft ein deutscher Synchrontext des Gesprochenen.
Hoch reflektiertes Gruppendrama
Man muss also, abweichend von der eingeübten deutschen Norm, alle die fremdländischen Filme jeweils nicht nur sehen & hören, sondern auch sich erlesen. Das kann gelegentlich lästig sein, wenn der Dialog (wie in manchen Komödien oder dramatischen Diskussionsfilmen) im Zentrum des Films steht. Das war bei dem iranischen “Bruch der Regeln” von Behnam Behzadi der Fall. Der erstaunliche Film beschreibt das moralische Dilemma einer studentischen Theatergruppe, die eine Einladung ins Ausland bekommen hat. Jedoch weigert sich der Vater der Hauptdarstellerin – ein hoher Beamter –, seiner Tochter die Reise zu erlauben, auf der einer der Studenten, wie er einem Freund erklärt, in die Emigration fliehen will. Als sich aber die Hauptdarstellerin von ihrem Vater absetzt, untertaucht & damit als Frau & Studentin gegen die väterliche Autorität rebelliert, stürzt der Vater die Gruppe in einen schwierigen Prozess der Selbstfindung, als er die reisefreudigen Schauspieler um Mithilfe bei der Suche seiner verschwundenen Tochter bittet & in Aussicht stellt, die Tochter ausreisen zu lassen, wenn sie nur von ihren Kommilitonen gefunden & ihm zugeführt würde.
Die jungen Leute gehen aber nach langen Diskussionen auf diesen erpresserischen Deal mit der Macht nicht ein & verzichten kollektiv auf die Einladung.
Erstaunlich an diesem hoch reflektierten Gruppendrama ist seine pure Existenz. Denn es ist eine fast demonstrative Allegorie auf die grüne Rebellion der studentischen Jugend gegen das Regime der Mullahs. So offen hat noch kein iranischer Film die opressive Situation der intellektuellen Mittelschichten in den Großstädten des Landes & deren moralische Solidarität uns vor Augen gestellt wie dieser vielfache “Bruch der Regeln”.
Lakonischer Reigen von Korruption, Armut, & Zynismus
Ebenso erstaunlich war der Erstlingsfilm “Molasses” von dem 1983 geborenen Carlos Lechuga aus Havanna. Denn er gruppiert ländliche Szenen um eine stillgelegte Zuckerrohrfabrik zu einem unverschleierten, lakonischen Reigen von Korruption, Prostitution, Armut, Ausbeutung & staatlichem Zynismus.
Ein bittereres Zustandsresümee des angeblich “sozialistischen”, realiter aber in jeder Hinsicht verkommenen Kubas ist kaum denkbar. Auch hier verwundert, dass es diesen Film überhaupt gibt & er im Ausland gezeigt werden durfte.
Ob solche repressive Toleranz einer zynischen Devise der jeweiligen Macht folgt, die von der ohnehin bekannten Misere im eigenen Land keinen zusätzlichen Imageschaden im Ausland mehr für sich erwartet? Wenn die Macht so sicher im Sattel sitzt, dass ihr Zensor Urlaub machen kann, bzw. sich auf seine Untätigkeit sogar etwas einzubilden scheint: dann ist es jedoch für alle Kritik zappenduster. Oder darf man in den Mannheimer Filmen aus dem Iran & Kuba jene sprichwörtlichen Schwalben sehen, die zwar noch keinen Sommer machen, ihn aber dennoch ankündigen? Die internationale Jury, an deren Spitze der große ungarische Regisseur Istvan Szabo stand, hat Carlo Lechuga für “Melasse” jedenfalls den “großen Preis von Mannheim” zuerkannt.
Paradoxien der Globalisierung
Der Niederländer Jaap van Heusden reflektiert in seiner fast wortlosen Parabel “Die neue Welt” das kollektive Drama der abgewehrten afrikanischen Emigranten, für die der Name “Lampedusa” im öffentlichen Bewusstsein sich eingebürgert hat. Der Regisseur vermittelt Schmerz & Menschlichkeit allein durch die glücklose Beziehungsgeschichte zwischen einem in Abschiebehaft befindlichen Afrikaner & einer verbitterten Putzfrau auf dem Amsterdamer Flughafen Schiphol.
Die Globalisierung hinterlässt ihre Paradoxien nicht nur in dem irischen Film “The Good Man”, der zwei Lebensgeschichten in Belfast & einem Township in Kapstadt miteinander engführt, ohne dass beide Personen ihre globalen Beziehungen je erfahren würden. Ihre Folgen sind auch buchstäblich in dem Road-Movie “Vor dem Schneefall“ zu verfolgen. Sie führen einen kurdischen Ehrenmörder aus dem Irak über Istanbul, Griechenland, Bulgarien & Berlin in die Schneelandschaft des nördlichen Norwegen.
Bis dorthin folgt ein Sechzehnjähriger der Spur seiner älteren Schwester, die mit ihrem dörflichen Geliebten einer von ihrer Familie gewünschten Zwangsheirat mit dem Sohn eines reichen Clanchefs entflohen war. Überall hat der Clan Unterstützer, die den Jungen weiterreichen & unterstützen. Auf der Flucht quer durch Europa verliebt sich der Sechzehnjährige in ein junges Mädchen, dessen Entdeckung er nur dadurch verhindern kann, dass er der Polizei die Namen der Schlepper verrät, die ihre Gruppe in Bulgarien über die Grenze schleusten. Das wird ihm von den Kriminellen nicht vergessen, die wie der kurdische Clan ihr eigenes Netzwerk der Information im klandestinen Europa haben. Zwar stellt der “Ehrenmörder” zuletzt in einer norwegischen Wintereinöde seine Schwester, bringt es aber nicht mehr übers Herz, sie zu erschießen. Dafür erreicht ihn aber die Rache des Schlepperclans & er wird auf der eisigen Landstraße von einem Mörder zu Tode gestochen.
Der 1975 im Nordirak geborene kurdische Regisseur Hisham Zaman, der in Norwegen Film studiert hat & diesen episch ausgreifenden “Vor dem Schneefall“ realisiert hat, ist kein Unbekannter in Mannheim. Er nahm bereits vor 6 Jahren am dortigen Wettbewerb teil. Sein damaliger Film “Winterland” spielte humoristisch seine persönliche Situation als Kurde in Norwegen durch. Jetzt ist ihm ein ebenso eindringlich dargestelltes, erzählerisch dicht gewobenes & emotional bewegendes Melodrama gelungen. Man fragt sich, ob es nicht bei uns wenn nicht im Kino, so doch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen einen herausragenden Platz finden könnte.
Das trifft auf eine ganze Reihe der in Mannheim gezeigten Filme zu, die unter der Hand offenbarten, wie reich & vielseitig (& auch exzentrisch) das Weltkino zwischen den USA & Dänemark, Belgien, Südkorea, der Türkei & Slowenien ist.
Reiches, vielseitiges Weltkino
Ein besonders eindringlicher, kurioser & gelungener Film sei noch abschließend aus dem in diesem Jahr besonders gut bestückten Wettbewerb herausgegriffen: die estnisch-georgische (!) Koproduktion “Mandariinid” von Zaza Urushadze. Der tragikomische, groteske Film verdankt sich der historischen Besonderheit, dass es estnische Siedlungen an der georgischen Schwarzmeerküste seit mehr als 100 Jahren gab. Die meisten Esten sind aber nach dem Ausbruch der Kaukasuskriege in den neunziger Jahren an die Ostsee geflohen. Nur der alte Schreiner Ivo & sein Mandarinen züchtender Nachbar Markus, dem er die dafür gebräuchlichen Holzkisten fertigt, sind in dem abgelegenen Geisterdorf zurückgeblieben, nachdem nun auch der Doktor sie verlassen hat – obwohl Ivo in seinem Haus zwei Verwundete untergebracht hat, einen islamischen & einen christlichen Militär, die sich am liebsten auf der Stelle gegenseitig umbringen würden.
Daraus entwickelt der georgische Regisseur ein fabulöses Kammerspiel für ein Männerquartett, das wie in einer Beckettschen Parabel den kompletten Irrsinn von Nationalismus, Machismo & religiösem Wahnsinn uns vor Augen stellt – aufgrund eines Drehbuchs voller Dialogwitz & mit tätiger Hilfe von vier spielfreudigen Darstellern, denen mit Hilfe Urushadzes eine fast tänzerische Gratwanderung zwischen Komik & Tragik gelingt.
Er war nicht die einzige der vielen unterschiedlichen Entdeckungen, die man auf dem 62. Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg machen konnte, wenn man neugierig & abenteuerlustig sich auf den Parcours zu den rund 50 Filmen zwischen dem 31. Oktober & 10. November begab.
Wolfram Schütte
Mehr zum Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg finden Sie hier. Alle Fotos: Pressebereich IFFHM.