Geschrieben am 28. August 2013 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Annes Andere Welten: Neues aus Science Fiction und Fantasy

In ihrer Kolumne „Annes Andere Welten“ stellt uns Anne Schüßler interessante Bücher aus Science Fiction und Fantasy vor. Diesmal schaut sie auf Alternativuniversen und Helden mit gebrochenen Herzen.

„Was wäre, wenn…?“

Mit der Frage „Was wäre, wenn…?“ kann man sich bekanntlich stundenlang beschäftigen. Was wäre, wenn Kriege anders ausgegangen wären oder gar nicht erst begonnen hätten? Wenn wichtige historische Figuren einen Unfall gehabt hätten oder gar nicht erst geboren worden wären? Wenn technische Errungenschaften nicht verbreitet oder auf ganz andere Art eingesetzt worden wären?

Galiani_Stein Komet.inddHannes Stein: Der Komet

In „Der Komet” von Hannes Stein lautet die Frage: Was wäre, wenn… der österreichische Kaiser nach dem Attentat in Serbien den Ausflug abgebrochen und einfach wieder nach Hause gefahren wäre? Kein erster Weltkrieg und dementsprechend auch kein Bedarf an einer nationalsozialistischen Partei in Deutschland. Und demzufolge auch kein zweiter Weltkrieg. Kein Hitler. Kein Holocaust.

Dafür haben wir jetzt eine boomende Österreicher Filmindustrie, gegen die Hollywood einpacken kann, Mondkolonien, und einen Kometen mit einer äußerst ungünstigen Flugbahn. Irgendwas ist eben immer.

Dabei wirkt die Sprache, mit der Hannes Stein diese Science-Fiction-Alternativuniversum-Geschichte erzählt, beinahe wie ein Widerspruch zu dem Genre, in dem wir uns befinden. Hier ist nichts abgeklärt und modern, vielmehr fühlt man sich zurückkatapultiert in einen Jahrhundertwenderoman, so wortverliebt und charmant romantisch kommt diese Apokalypse daher. Im k.u.k. Wien verlieben sich arme Studenten bei Lyrikvorträgen in gelangweilte verheiratete Frauen, während sich Staatsräte zum Tarockspiel im Café treffen. Nur auf der Couch eines frustrierten Psychotherapeuten liegt ein armer Mensch, der von Massenmord und Konzentrationslagern träumt. Träume, die sich keiner erklären kann, so absurd und düster sind sie.

Es ist auch die Liebe zum Detail, die „Der Komet” zu einem großen Lesevergnügen machen, und man wünscht sich doch, ein bisschen mehr aus dem Geschichtsunterricht behalten zu haben, um den ein oder anderen beiläufig erwähnten Namen besser einordnen zu können, und nicht zu den umfangreichen Anmerkungen blättern zu müssen. Doch selbst, wenn man den Umfang dieser spekulativen Geschichtsstunde nicht in seiner Gänze erfassen kann, so kann man einfach mit dem Kopf voran in Steins Roman eintauchen und nach dreihundert Seiten etwas erschöpft, aber durchaus glücklich wieder auftauchen.

Lavie Tighar_OsamaLavie Tidhar: Osama

Der Ausgangspunkt von Lavie Tidhars „Osama“ ist ein anderer. Hier gibt es nicht den einen Moment, an dem der Lauf der Geschichte geändert wurde, vielmehr fehlt ein ganzes Konzept.

Was wäre, wenn… es keinen Terrorismus gäbe? Wenn Terrorismus als Konzept völlig unbekannt wäre? Keine Bombenanschläge in Afrika oder London. Kein 9/11. Kein Osama Bin Laden. Oder zumindest kein richtiger Osama. Der fiktive Osama taucht hier lediglich als ominöser Name einer Buchreihe auf. „Osama Bin Laden – Vergelter” prangt es auf den Buchrücken der Groschenromane eines gewissen Mike Longshotts, den Privatdetektiv Joe auftreiben soll. Warum, weiß er nicht, aber die schwarze Kreditkarte, die ihm eine Frau in seinem Büro in Laos in die Hand drückt, reicht, um ihn auf eine Irrfahrt von Paris über London bis nach New York zu führen, in einem hypnotischen, opiumgeschwängerten Noirthriller voller grauer Männer, geheimnisvoller Frauen und ungelöster Fragen.

Die Kapitel sind kurz, die Sprache einfach, fast fühlt man sich wie in einem Detektivgroschenroman. Joe, der bei diesem Vornamen eigentlich auch fast namenlos hätte bleiben können, trinkt, raucht, steckt Prügel ein und teilt gelegentlich aus, genau, wie man es von einem typischen Privatdetektiv eben erwartet. Aber dann kommt alles anders. Langsam und bedächtig verschmilzt die Realität mit etwas anderem, einer surrealen Parallelwelt, in der Joe nicht nur auf Geister, oder – wie er sie nennt – „Irrwirren” trifft, sondern vor allem auch mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontiert wird.

Lavie Tidhar entkam selber nur knapp zwei Anschlägen und hat nun ein Buch geschrieben, das in einer Welt spielt, in der diese Anschläge und viele andere nicht passiert wären oder eben: Nicht passiert sind. Dabei steckt hinter der einfachen Geschichte eine viel größere. Es geht um Schuld und Vergeben. Um Vergessen und Erinnern. Und nicht zuletzt um die Suche nach der eigenen Identität.

Lassen wir die Parallelwelten des „Was wäre, wenn…” hinter uns und betreten die Welt der gebrochenen Helden von Mathias Malzieu, Mike Mignola und Christopher Golden.

Mathias Mazieu_Die Mechanik des HerzensMathias Malzieu: Die Mechanik des Herzens

„Die Mechanik des Herzens” von Mathias Malzieu entwickelte sich in Frankreich zum Kultbuch. Die Voraussetzungen dafür hat es. Ein modernes Märchen auf knapp 200 Seiten, eine Geschichte voller Zauber und Emotionen. Eine Liebesgeschichte, eine Tragödie mit einem Protagonisten, den es eigentlich gar nicht geben dürfte und der sich in ein Mädchen verliebt, die er eigentlich nicht lieben dürfte.

So folgt Jack, der statt eines Herzens eine Kuckucksuhr hat, die jeden Tag aufgezogen werden muss, seiner großen Liebe Miss Acacia von Edinburgh bis nach Spanien in eine Zirkuswelt. Dabei darf er sich eigentlich gar nicht verlieben, denn sein sensibles Uhrwerk, eben diese Mechanik des Herzens, würde diese Gefühlsgewalt nicht aushalten. Mathias Malzieu erzählt diese Geschichte einer unmöglichen Liebe leicht und beschwingt, bleibt dabei aber manchmal zu sehr an der Oberfläche. Zu märchenhaft und zu abstrakt bleiben die Figuren, als dass man ihnen näher kommen könnte. Eventuell ist das auch genauso gewollt. Ein Märchen eben, so wie ein Traum, bei dem man auch nicht alles erklären kann, der einen aber auch nach dem Aufwachen lange nicht loslässt.

Mignola Golden_Joe GolemMike Mignola / Christopher Golden: Joe Golem und die versunkene Stadt

Während die Figuren in Malzieus fantastischer Liebestragödie eher schwer zugänglich bleiben, schaffen es Mike Mignola und Christopher Golden in ihrer „Illustrated Novel” fast unerwartet und mit überraschend einfachen Mitteln, den Helden dieser Steampunkfantasie Leben einzuhauchen. Glaubwürdig, menschlich und gebrochen präsentieren sich der Beschwörer Orlov, die Waise Molly McHugh, der geheimnisvolle Simon Church und sein riesenhafter Helfer Joe.

Es ist ein zweigeteiltes New York, fünfzig Jahre nach dem Erdbeben 1925, bei dem Downtown New York überflutet wurde. Während sich die Einwohner des zerstörten Teils mit der Katastrophe und ihren Folgen arrangieren, geht es den Bewohnern Uptowns gut. In dieser Welt führt das Schicksal Molly, Joe und Simon Church zusammen, als Widersacher Cocteau und seine Gasmaskengesellen Orlov während einer Séance entführen. Es geht um ein mysteriöses Objekt, und wie immer ein bisschen um das Ende der Welt.

Dabei ist die Geschichte an sich keine, die man nicht schon einmal gehört oder gelesen hätte, jedenfalls nicht, wenn man kein Genreneuling ist. Aber das ist hier auch egal, denn sobald man die ersten Seiten gelesen hat, ist man drin in der Jagd quer durch Kanäle über Friedhöfe bis auf den Grund des Meeres in verlassene U-Bahn-Stationen. „Joe Golem und die versunkene Stadt” wird als „Illustrated Novel” verkauft. In diesem Fall bedeutet das, dass die angenehm gradlinige Fantasygeschichte mit Schwarzweißgrafiken illustriert wird, die allerdings so abstrakt sind, dass sie die Fantasie des Lesers eher anregen als steuern. Ein Buch, das aus der Masse gerade dadurch heraussticht, weil es nicht auf Teufelkommraus versucht, etwas Besonderes zu sein, sondern stattdessen einfach gut ist und seine Geschichte mit einfachen Worten und ohne viel Chichi erzählt.

Was man daraus lernen kann? Vielleicht, dass es auch bei Büchern, die im selben Genre verhaftet sind, die auf den gleichen Grundfragen aufbauen oder deren Helden ähnliche Sorgen mit sich herumtragen, kein richtig und kein falsch gibt. Der eine erzählt seine Geschichte in wortgewaltiger Sprache, der nächste nüchtern und abgeklärt. Noch ein anderer liefert Bilder dazu. Aber letztlich sind es ja gerade diese Unterschiede, die jedes Buch aufs Neue spannend machen. Weil wir eben nicht wissen, worauf wir uns einlassen und in welche Welt uns der Autor dieses Mal mitnimmt.

Anne Schüßler

Hannes Stein: Der Komet. Galiani Berlin 2013. 272 Seiten. 18,99 Euro, eBook 16,99 Euro.

Lavie Tidhar: Osama (Osama, 2012). Rogner und Bernhard 2013. Aus dem Englischen übersetzt von Juliane Gräbener-Müller. 303 Seiten. 22,95 Euro (mit einmaligem Download eines eBooks).

Mathias Malzieu: Die Mechanik des Herzens (La Mécanique du Coeur, 2007). Aus dem Französischen von Sonja Finck. carl’s books 2012. 192 Seiten. 12,99 Euro, eBook 9,99 Euro.

Mike Mignola / Christopher Golden: Joe Golem und die versunkene Stadt (Joe Golem and the Drowning City: An Illustrated Novel, 2012). Aus dem Englischen übersetzt von Dietmar Schmidt. Bastei Lübbe 2013. 304 Seiten. 15,00 Euro, eBook 11,99 Euro.

Zum Blog von Anne Schüßler.

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