Säge im Kopf, Schmetterling vor Augen
Ziemlich extrem, wie wir so leben zwischen heute und heute, zwischen Empfindsamkeit und Brutalität, Leere und Überfülle. Andre Rudolph blättert die Bilder zur Lage auf. Von Gisela Trahms
Das sogenannte wirkliche Leben tendiert ja eher zur Langeweile: „die straße. dieser öde text. hier / passiert heute nix mehr. / (scrolln)“ Und das, obwohl doch jeder Augenblick Möglichkeiten ohne Zahl zu bieten scheint. Na los! Jetzt! Und „jetzt“ ist tatsächlich das erste Wort dieses Gedichts: „jetzt! spieln wir mit / dem playboyhasen der zeit.“ Spielen wir also immerzu ein Spiel namens Jetzt, in dem die Zeit zu Momenten zerbröselt, so dass sich ein seiner selbst gewisses Ich gar nicht erst bilden kann? Hoppelt ein käufliches Häschen durch unsere Jahre, immerhin sexy? Oder ist es die eigene Lebenszeit, die wir als käuflich anbieten müssen, was sie zu einem „öden text“ macht?
Vertrackte Bilder schlingern im Kopf, während man diese Gedichte liest. Ins Eindeutige übersetzen kann man sie glücklicherweise nicht. Zwar sind wir die Leser, aber gleichzeitig der ebenso vertraute wie hermetische Text, bis hin „zum fließtext der leiber“. Gern blieben wir unentziffert, aber das gelingt nur selten. In der Bewusstlosigkeit der Liebe vielleicht.
Erforscht wird diese Konstellation in einem Korpus von 46 Gedichten gleicher Form mit dem Titel „schmetterlingssäge.doc“: sieben gegeneinander versetzte Zweizeiler bilden das Hin und Her der Sägebewegung ab, je sieben Gedichte gehören zusammen. Die siebente Gruppe bleibt unvollständig; das Textgebäude demonstriert so sein Trümmerbewusstsein, ähnlich manchen Beispielen moderner Architektur, in die eine bröckelnde Wand eingebaut wurde. Sieben ist eine mythische, eine Märchenzahl, daher wundert es nicht, bei der Lektüre auf Schneewittchen zu treffen, auf Zwerge, Gold, den Wald und die Lichtung.
„jetzt. da // immer. hier“
Flieht da jemand in die Idylle? Überhaupt nicht. Immer geht es um die ineinander verschraubte Komplexität von Wahrnehmung, Reaktion und medialer Vermittlung. So stecken wir ja gleichzeitig „in den finsteren jahren der lohnarbeit“, im Zwang zur Selbstentfremdung also, verfolgt von den Formern und Verformern unserer Psyche, sprich „mama und papa“, und betreten wir endlich Heideggers „lichtung“, den Ort der Kunst, wartet dort die grässliche „schmetterlingssäge“, die zwar Goldstaub produziert, aber um den Preis der Zerstörung des Kreatürlichen. Mehrfach begegnen wir dieser Säge, jedesmal macht die Metapher uns schaudern, verbindet sie doch in extremer Weise Brutalität und Zartheit. In gegenläufigen Bewegungen nehmen wir uns als vielfach Zersplitterte wahr, und zersplittert ist auch der Wortspiegel.
So düster wie sich das anhört, wirken die Gedichte jedoch keineswegs. Sie besitzen die Leichtigkeit des Schmetterlingsflugs, und sicher wäre die Zweizeiligkeit auch als Anspielung auf das Flügelpaar zu deuten. Unablässig wechseln die Bild- und Bezugsebenen, die der Schmetterling mühelos durchquert. Die Straße, also das Draußen, die Realität, ist der Text, der Text auf dem Bildschirm wird zum Lebenstext, und statt ihn bloß mechanisch zu scrollen, könnten wir vielleicht seine Schönheiten entdecken – in der Utopie zumindest.
Die Vorzüge des gedimmten Lichts
In diese Richtung scheint ein Gedicht über die „tiere des waldes“ zu weisen, aber siehe da: „sie wirkten erschöpft; müde von // den netten gesten, ausgezehrt / vom wettbewerb um die besseren // freunde. – bei gutem licht / diskutierten wir über die vorteile // unsrer (künftigen) freiwilligen / rückverdunklung. das fühlte sich // leicht an und schwer. wie mühlen. / wie strohspinnen aus gold.“ Glaubten wir zunächst an ein Naturgedicht, begegnen wir uns selbst und dem Kampf um soziale Anerkennung. Plötzlich klingt es verlockend, das Licht des psychologischen Scharfblicks und der endlosen Reflexion zu dimmen und umzukehren zur „freiwilligen rückverdunklung“. Nicht mehr analysieren, sondern fraglos sein. Nicht mehr Stroh zu Gold spinnen und dem Reichtum hinterher hetzen, sondern umgekehrt. Nicht mehr die anderen in den Schatten stellen, sondern sich selbst. Gleichzeitig werden diese Sehnsüchte nach Dunkel und Ursprung melancholisch belächelt, denn sie äußern sich ja „bei gutem licht“: das Bewusstsein weiß um seine Helligkeit und kann den Schalter nicht einfach umlegen.
Andre Rudolph, geboren 1975 in Warschau, aufgewachsen in Leipzig, brachte das Kunststück fertig, als Autor diskutiert und preisgekrönt zu werden, ohne ein Buch veröffentlicht zu haben. Nun hat er sich in diesem von Annette Kühn einfühlsam gestalteten Band endlich materialisiert. Seine Texte besitzen einen unverwechselbaren Ton – intellektuell, souverän in der Auseinandersetzung mit der Tradition von Sophokles bis Thomas Kling, an den die umgangssprachlich verkürzten Formen erinnern („unsrer“, „spieln“), voll ironischer Brechungen und dann wieder rüde und direkt.
„alethe ost (2004)“ beispielsweise ist sicher eines der besten Gedichte zum Thema „Nach dem Mauerfall“: „die größten kartoffeln ausm fenster geschmissn / die glasierten langweiligen möhren ausm / westen auch … wir sitzen immer noch, in den ruinen, von / russnkasernen…“ Die ganze Wut und Ratlosigkeit von „ost“ spricht daraus. Wenn die Schulbehörden das in zehn Jahren realisiert haben, werden sich noch Generationen von Abiturienten daran abarbeiten. Sinnvoller wäre es allerdings jetzt. „jetzt!“
Gisela Trahms
Andre Rudolph: fluglärm über den palästen unsrer restinnerlichkeit.
Gedichte. Illustrationen von Annette Kühn.
Luxbooks Wiesbaden 2009. 106 Seiten. 18,50 Euro.