Der Weltraum, unendliche Weiten. Wie oft haben wir uns beim Nachdenken über Zeit und Raum, Entfernungen und Größen und Astrophysik schon das Gehirn verrenkt. Diese Zeiten sind nun vorbei. In der neuen Kolumne „Lichtjahre später” wird uns Autor und Astronom Aleks Scholz regelmäßig alles erklären, was wir wissen müssen: Bis zur Unendlichkeit und noch viel weiter! Heute:
Der aristotelische Winterkrieg
Im Februar 2001 begann ich, an meinem Verstand zu zweifeln. Ich wohnte noch in der Sternwarte, und arbeitete Tag und Nacht an Lichtkurven von Braunen Zwergen im Sternbild Orion, aufgezeichnet mit unserem weißen, glänzenden Zweimeterteleskop. Eine Lichtkurve ist nichts anderes als eine Reihe von Messungen, die zeigt, ob der jeweilige Stern seine Helligkeit verändert oder nicht. Wir rechneten mit winzigen Lichtschwankungen, hervorgerufen durch dunkle Stellen auf der Sternoberfläche – das, was man auf der Sonne seit Galilei als Sonnenflecken kennt. Aber was diese Lichtkurven offenbarten, war ein wahnsinniges Auf und Ab um mehr als eine Größenklasse. „Größenklasse“ ist eine zweieinhalbtausend Jahre alte Maßeinheit für die Helligkeit von Sternen, die wir heute aus Gewohnheit immer noch verwenden. Eine Größenklasse Helligkeitsanstieg bedeutet, dass der Stern etwa dreimal heller wird. Mit anderen Worten: Meine Zwerge flackerten wie eine Glühlampe, kurz bevor die Sicherung rausfliegt. War das schon der Weltuntergang?
Es war schwer zu glauben. Leuchtbälle, die ein paar 100.000 Kilometer groß sind, gingen vor meinen Augen an und aus. Noch nicht einmal in irgendeinem Rhythmus, der es erlauben würde, das Verhalten vorherzusagen. Himmelsobjekte sollten sich nicht so verhalten, sie sollten robust und verlässlich sein. Ich fing noch einmal von vorne an mit der Datenauswertung. Die Zwerge flackerten weiter. Ich nannte sie hilflos „Feuerwerkskörper“. Nachts starrte ich nach oben in Richtung Orion und legte die Stirn in Falten. Was soll das, Himmel?
Zu diesem Zeitpunkt war mir nicht klar, dass diese Frage im Zusammenhang mit veränderlichen Sternen schon häufiger gestellt wurde. Im November 1576 zum Beispiel beobachteten europäische Astronomen zum ersten Mal eine Supernova. Im Sternbild Cassiopeia erschien ein Stern, der vorher nicht da war, und wurde innerhalb kurzer Zeit so hell wie Venus. Der legendäre Tycho Brahe hinterließ akribische Beobachtungen des „neuen Sterns“; es war nur eine von 10 Supernovae, die je mit bloßem Auge sichtbar waren und dokumentiert wurden. Heute ist die Angelegenheit klar: Ein Weißer Zwerg saugt Materie von einem nahen Stern ab, wächst dadurch solange, bis er das gesetzlich erlaubte Massenlimit für Weiße Zwerge überschreitet, und wird zur Strafe vom Universum verbrannt, mit den üblichen rabiaten Methoden. Tod durch thermonukleare Kettenreaktion, Explosion, Ende. Neuer Stern, my ass.
Für Brahe und Zeitgenossen allerdings hatte die Supernova eine völlig andere Bedeutung. Ende des 16. Jahrhunderts war Aristoteles, der Große Philosoph, noch allgegenwärtig. Die Fixsternsphäre, die oberste Etage des Himmels, kann aus rein logischen Gründen keinen zeitlichen Anfang und Ende haben und sich nicht verändern. Das aristotelische Weltbild schließt Supernovae nicht unbedingt aus; es wäre ohne weiteres möglich gewesen, veränderliche Sterne in diese Art Kosmos einzubauen. Für Aristoteles strahlen die Sterne nicht selbst, sondern erwärmen durch ihre ewige, kreisförmige Bewegung die Luft unter ihnen, die dann wiederum leuchtet. Für die Sphäre unterhalb des Fixsternhimmels gelten jedoch andere Regeln, man könnte sich vorstellen, dass sich dort die beobachteten Veränderungen ereignen.
Aber Aristoteles’ Himmel ist nicht allein der Ort, an dem sich die Fixsterne aufhalten, sondern die Substanz, die mit all ihren Attributen dem Göttlichen entspricht, ein metaphysisches Ideal. Auch die wissenschaftlichen Schriften des Mittelalters verstehen den Himmel nicht rein physisch, sondern außerdem als geistige Sphäre mit theologischer Symbolkraft – die Erde, das Ei der Schöpfung, ruht in Gottes Händen, der ewigen Himmelskugel. Aristotelische Aussagen über den Himmel sind darum keine empirisch nachprüfbaren Vorhersagen, und sollten nicht rückwirkend als solche interpretiert werden. Die Argumente lassen sich nicht durch den Blick an den Himmel widerlegen, die Supernova ist darum als Beweismittel völlig irrelevant. Sie ist nicht das rauchende Gewehr für ein neues Weltbild, sondern symbolisiert die Neuerung, dass am Himmel überhaupt nach Rauch und Gewehren gesucht wird. Brahes Supernova war zwar kein neuer Stern, aber der Vorbote eines neuen Himmels.
Sterne verändern ihre Helligkeiten aus den unterschiedlichsten Gründen. Manche einfach nur deshalb, weil sich ein anderer Körper vor sie schiebt – ein zweiter Stern, ein Planet, eine Wolke, irgendwas. Andere wie Brahes Supernova explodieren. Wieder andere, zum Beispiel der Superriese „R Coronae Borealis“ im Sternbild Nördliche Krone, das eher aussieht wie ein Nachttopf, erzeugen in unregelmäßigen Abständen große Mengen Kohlestaub, der sie für Monate verfinstert. Viele Zwergsterne werden ab und zu für ein paar Stunden deutlich heller, weil in ihren Atmosphären magnetischer Aufruhr herrscht, vergleichbar mit den Sonnenstürmen, die uns gelegentlich Nordlichter bescheren. Die meisten Riesensterne wiederum pulsieren, sie blähen sich auf und schrumpfen wieder zusammen, und verändern deshalb ihre Helligkeit, in schönen, regelmäßigen Perioden. Ein Beispiel ist Mira, ein roter Riese im Sternbild Walfisch, der mit einer Periode von elf Monaten seine Helligkeit zunächst vertausendfacht und dann wieder runterfährt. Weil Mira die meiste Zeit für das menschliche Auge unsichtbar ist, sah es lange so aus, als würde der Stern sich auf wundersame Weise ein- und wieder ausschalten.
Ähnlich mysteriös verhält sich ein Objekt namens „T Tauri“. Im Oktober 1852 berichtete der Engländer John Russell Hind von einem Nebel im Sternbild Stier, der auf keiner Karte eingezeichnet war. Neun Jahre später jedoch verschwand der Nebel wieder von der Bildfläche. „Is not this nebula variable?“, fragte sich der deutsche Astronom Heinrich Louis d’Arrest verwundert. Mehrere Jahrzehnte lang herrschte Verwirrung um Hinds Nebel und einige andere, ähnlich geartete Gestalten. Im Jahr 1895 löste der ultraproduktive Amerikaner Edward Emerson Barnard (knapp 700 Publikationen) das Rätsel auf, mit Hilfe des Lick-Refraktors – bis heute das größte Linsenfernrohr der Welt mit einer Linse von fast einem Meter Durchmesser. T Tauri und seine Artgenossen sind veränderliche Sterne, die die Nebel, in die sie eingebettet sind, bestrahlen. “The facts are so clear that even the feeblest doubt can never be raised to question the case.”
Nochmal ein halbes Jahrhundert später wurde allmählich klar, dass es sich bei T-Tauri-Sternen um extrem junge Gebilde handelt, die noch umgeben sind von den Resten der Wolke, aus denen sie hervorgegangen sind. Im Unterschied zu Brahes Supernova ist T Tauri wirklich ein neuer Stern. Noch stürzt Gas auf die Oberfläche der jungen Sterne hinab, ein Prozess, der rapiden Schwankungen unterworfen ist. Wie immer, wenn im Weltall etwas runterfällt, werden große Mengen Energie frei. Es ist diese Energie, die den T-Tauri-Nebel sporadisch heller werden lässt. Soweit jedenfalls die Grundidee, wir sind weit davon entfernt, diese Vorgänge im Detail zu verstehen. Eine Variante: Es könnte so ablaufen wie bei einem Staudamm – irgendwas, zum Beispiel ein Magnetfeld, blockt den Gasstrom, er staut sich auf und wenn es zuviel wird, bricht die Mauer und alle ertrinken.
Im Sommer 2001 dämmerte mir allmählich, dass die Geschichte von T Tauri mir etwas über die eingangs erwähnten Braunen Zwerge sagen will. Sie befinden sich in einer Gegend, wo es extrem junge Sterne gibt, ihre Lichtkurven sahen genauso aus wie die von T Tauri, und zumindest bei einigen von ihnen war klar, dass sie genauso wie T Tauri von warmem Staub umgeben sind. Die Lösung liegt auf der Hand: Womöglich spielt sich bei jungen Braunen Zwergen dasselbe ab wie bei jungen Sternen, sie sammeln das Material, aus denen sie zusammengesetzt werden, aus ihrer Umgebung auf. Dabei kommt es zu unordentlichen Blockaden und Verwerfungen, was zu Fluktuationen in der Helligkeit führt. Wenn wir keinen Fehler gemacht haben, dann entstehen diese Objekte – Braune Zwerge mit Massen von weniger als 10% der Sonnenmasse – genauso wie T Tauri und alle anderen Sterne am Himmel.
Dezember 2001. Ich befinde mich seit 10 Tagen auf dem Calar Alto, einem 2168 Meter hohen Berg in Andalusien östlich der Sierra Nevada, angeblich die trockenste Gegend Europas. Davon war in diesen zehn Tagen nicht viel zu bemerken, der Berg vollständig eingeschneit, Wolken, dichter Nebel, und die Anzeige der relativen Luftfeuchtigkeit steht festgenagelt bei 100%. Ich bin hier, um mit Hilfe eines 1,2-Meter-Spiegelteleskops die Messungen vom Vorjahr zu reproduzieren. Flackern die jungen Braunen Zwerge tatsächlich dauerhaft, so wie T Tauri, und ist unsere Interpretation somit richtig? Orion war den ganzen Sommer über nicht sichtbar, weil sich die Erde auf der falschen Seite der Sonne befand, die ominösen Feuerwerkskörper damit unerreichbar, und jetzt, wo sich die Erde bequemt hat, an die richtige Stelle zu fahren, schlagen irdische Phänomene zu. Jeden Abend laufe ich durch den Schneeregen zum Teleskop, schließe mich ein und mache extrem aufwendige Bilder von der Innenwand der Kuppel.
Astronomie war schon immer eine WYSIWYG-Wissenschaft – what you see is what you get. Man kann Beobachtungen zwar planen wie Experimente in der Physik, aber ob am Ende etwas dabei herauskommt, ist schwer vorhersagbar. Abgesehen von technischen Problemen und von menschlichem Versagen, letzteres wahrscheinlicher, weil die Arbeit bei Nacht und in der dünnen Höhenluft stattfindet, spielt immer das Wetter eine Rolle. Man sollte nicht unterschätzen, welche Wirkung das auf angehende Astronomen hat. Vor die Wahl gestellt, nur gegen Murphy’s Gesetze zu kämpfen (Physik) oder zusätzlich auch noch gegen die Naturgewalten Regen, Wolken und Luftfeuchte, welche Sorte Mensch entscheidet sich wohl für eine Karriere als beobachtender Astronom? Und was sagt es über diese Art Menschen aus, dass sie ihr Schicksal zu einem nicht geringen Anteil in die Hände von unberechenbaren Mächten legen? Wenigstens können wir mittlerweile in geheizten Räumen auf besseres Wetter warten.
In der 11. Nacht lichten sich die Wolken. Am selben Tag stellt sich heraus, dass die Anzeige der Luftfeuchtigkeit festgefroren war und es in Wahrheit viel weniger feucht ist als gedacht. Aufbruchsstimmung. Orion am Himmel. Kuppel geöffnet. Ein paar Stunden später zieht der Himmel wieder zu. Aber es hat gereicht: Die Handvoll Bilder, die auf der Festplatte liegen, zeigen schön und klar, dass die Feuerwerkskörper in Orion immer noch genau dasselbe tun wie ein Jahr zuvor, sie flackern unberechenbar und werden innerhalb weniger Stunden dramatisch heller oder schwächer. Wir haben ein Ergebnis. Der lange Sommer des Zweifelns ist vorbei.
Aleks Scholz
(Alle Details zu den Feuerwerkskörpern finden Sie hier und hier.)
Aleks Scholz, geboren 1975, ist Astronom und Schroedinger Fellow am „Institute for Advanced Studies“ in Dublin, Irland. Er befasst sich vorwiegend mit der Entstehung und der Entwicklung von Gelben, Roten und Braunen Zwergen. Foto: Ira Struebel. Aleks Scholz bei Google+. Foto: Bild: SMARTS/Aleks Scholz