Geschrieben am 12. Juni 2013 von für Kolumnen und Themen, Lichtjahre später, Litmag

Aleks Scholz: Lichtjahre später (17)

Aleks Scholz ist Autor und Astronom. In seiner Kolumne „Lichtjahre später“ erklärt er regelmäßig alles, was wir über das Universum wissen müssen. Seit Januar 2013 befindet er sich auf einer Irrfahrt über den Nachthimmel. Heute: Die Bootes-Void.

Aleks Scholz. Foto: Ira Struebel

Aleks Scholz. Foto: Ira Struebel

Die Vega-Karambolage

Das Universum ist schlecht umgerührt. An manchen Stellen klumpen seine Bestandteile zusammen, es entstehen Haufen und Superhaufen. An anderen gibt es absolut nichts zu sehen. Manchmal stehen die große Vielfalt und die große Einöde direkt nebeneinander am Himmel. Eine Handbreit östlich vom Coma-Haufen mit seinen tausend Galaxien liegt eine der größten kosmischen Leerstellen, die wir kennen. Die Bootes-Void. Eine Blase mit einem Durchmesser von 200 Millionen Lichtjahren mit gerade so ein paar Dutzend Galaxien. The great nothing.

Voids und Supervoids, die Stellen, an denen Zeug fehlt, geben uns einen direkten Draht zur Frühphase des Universums, der Zeit, in der es weder Sterne noch Galaxien gab, noch nicht einmal Kohlenstoff. Voids sind die Blasen im Schaum des Universums, riesige Strukturen, größer als Galaxien, größer als Galaxienhaufen. Aus der Existenz dieser Strukturen folgt, dass es vor 13 Milliarden Jahren, als die Atome des Universums noch neu und unverbraucht waren, die ersten Klumpen im Teig gegeben haben muss, Gegenden, in denen die Materie eine Winzigkeit dichter war als anderswo. Es scheint klar, dass die Schwerkraft irgendwie die Klumpen vergrößert, die Dichteunterschiede verstärkt und damit die Superstrukturen von heute produziert. Aber wie genau das abläuft und wo die ersten Klumpen herkamen, ist unklar. Die Bootes-Void widerlegt einwandfrei das ursprüngliche Urknallmodell, das ein gründlich umgerührtes Universum erzeugt. Um weiterzukommen, muss man Zusatzmodule einbauen, Dunkle Materie zum Beispiel und kosmische Inflation. Irgendsowas.

Wer die Bootes-Leere am Frühlingshimmel finden will, suche zunächst Arktur in der Konstellation Bootes. Arktur, hellster Stern der nördlichen Hemisphäre, dritthellster am gesamten Himmel, nach Sirius und Canopus. Arktur kann man eigentlich nur mit Jupiter oder Venus verwechseln, zum Beispiel wenn man betrunken ist. Die Bootes-Void liegt direkt oberhalb von Arktur, auf der Verlängerung der Deichsel des Großen Wagens, mit bloßem Auge eine unverdächtig wirkende Stelle am Nachthimmel. Arktur selbst hat mit der Leere über ihm natürlich nichts zu tun, er fliegt im Vordergrund des Bildes quer durch unsere Milchstraße und gehört zu den vielen unerreichbaren galaktischen Nachbarn der Sonne.

Außerdem ermöglicht Arktur einen Blick in unsere Zukunft. Der Stern ist so etwas wie die Sonne, nur deutlich älter. Während die Sonne noch lange auf der Hauptreihe Wasserstoff verbrennt, ist Arktur schon ein paar Milliarden Jahre weiter und hat sich zu einem orangenen Riesen aufgebläht, dreißigmal größer, mehr als hundertmal heller als die Sonne. Noch in den 1920ern hätte ich hier geschrieben, dass Arktur eine junge Sonne ist, nicht eine alte, weil sich Sterne, so wäre meine Argumentation damals gewesen, schon irgendwie von groß zu klein entwickeln. Vor allem deshalb, weil das Zusammenziehen Energie freisetzt, hätte ich gesagt. Zusammen mit meinem Idol Henry Norris Russell hätte ich wirre Entwicklungslinien gemalt, mit Pfeilen, die von Arktur zur Sonne zeigen. Alles falsch, völlig falsch.

Die polynesischen Seefahrer fragten sich vermutlich nie, ob Arktur älter oder jünger als die Sonne ist. Ihr Problem war ein ganz anderes, die Position von Arktur am Himmel. Dafür setzten sie ihr Leben aufs Spiel, und nicht nur ihre wissenschaftliche Reputation wie Russell. Arktur war der Stern, der die Polynesier nach Hawaii führte. Hawaii, eine winzige Oase in der Supervoid des Pazifik. Segelt man von Tahiti aus in Richtung Norden, dann taucht irgendwann, nach mehreren sorgenvollen Monaten, Arktur auf, knapp über dem nördlichen Horizont. Noch weiter im Norden, auf der geografischen Breite von „Big Island“, steht Arktur im Zenit. Hier ändert der Navigator den Kurs und steuert in Ost-West-Richtung, um die Insel zu finden. Alles schön und gut, denkt man, kann Thor Heyerdahl sicher auch, bis einem Folgendes einfällt: Generationen von antiken Bootsfahrern müssen diese Reise ausprobiert haben, ohne zu wissen, dass es Arktur gibt. Natürlich wussten sie auch nicht, dass es Hawaii gibt. Für den Rückweg nimmt man übrigens Sirius, dies nur zur Information.

Polynesische Ruinen

Antike polynesische Ruinen an der Südspitze von Hawaii. Foto: Aleks Scholz

Das Großartige am Himmel sind die vielen Geschichten, die sich da oben überlagern. Zum Beispiel: Der mythologische Mann Bootes, in dessen linkem Knie Arktur sitzt, ist entweder der Wächter des Großen Bären oder der Erfinder des Pfluges oder aber der Fahrer des Großen Wagens. Dreht man den Kopf nur ein klein wenig nach links, dann landet man bei einem ganz anderen hellen Stern, Wega in der Leier, nach dem ein ganz anderer großer Wagen benannt wurde, der Facel Vega, ein vulgäres Luxusauto mit jeder Menge Chrom, Leder und Pferdestärken. Im Jahr 1960 wickelte sich eines dieser Vega-Fahrzeuge um einen Baum im Burgund. Eine Million Joule an kinetischer Energie geriet außer Kontrolle. Der menschliche Körper von Albert Camus, der sich in dem Auto befand, nahm große Mengen der freigewordenen Energie auf und verschmolz mit Blech und Baum. Am Himmel stehen der Urknall, Hawaii und Camus’ Todesgefährt direkt neben- und übereinander. Welches Unterhaltungsmedium kann damit schon mithalten (rhetorische Frage, nicht beleidigt sein, Internet).

Wega, das Himmelsobjekt, ist nach der Sonne der zweitwichtigste Stern am Himmel der modernen Astronomie. Wega war einer der ersten fotografierten Sterne und der erste mit einem Spektrum. Alles hängt an Vega. Zum Beispiel die Skala, die wir für Helligkeiten am Himmel verwenden. Die Geschichte der Helligkeiten ist weder wissenschaftlich noch besonders logisch, sondern eher peinlich. Es handelt sich um einen dieser Prozesse, bei denen man sich fragt, wie das bloß passieren konnte, ein jahrzehntelanges Ausbessern und Korrigieren, an dessen Ende eine vollkommen unpraktische, aber doch unantastbare Konvention steht.

Rückblende, Mitte des 19. Jahrhunderts. Eine Generation aus Astronomen bemüht sich, das alte griechische System, in dem die hellsten Sterne „1. Größe“ sind und die schwächsten mit bloßem Auge sichtbaren „6. Größe“, irgendwie krude nachzuahmen. Wie geht man damit um, dass manche Beobachter bessere Augen haben als andere? Was macht man mit Sternen jenseits der 6. Größe, die nur im Teleskop sichtbar sind? Und kann man die Skala vielleicht feiner einteilen? Einig ist man sich, dass ein Stern 1. Größe ungefähr zwei- oder dreimal heller ist als ein Stern 2. Größe, der wieder zwei- oder dreimal heller als einer 3. Größe und so weiter. Aber was ist der genaue Faktor? Johnson sagt 2.43, Stampfer 2.51, Steinheil gar 2.83. Was Struve für 10. Größe hält, ist für Argelander 12, für Bond 13 und für Herschel 14. Chaos herrscht. Helligkeiten machen, was sie wollen.

Gewonnen hat schließlich der Engländer Norman Robert Pogson. Pogson war kein Genie, keine Legende, kein Sheldon Cooper, er versuchte vor allem, das Beste aus den Umständen zu machen, so wie wir alle. Vermutlich war er ein wenig genervt von dem Durcheinander mit den Helligkeiten, aber zu höflich, um mit der Faust auf den Tisch zu hauen. Für seine Beobachtungen legt er sich im Jahr 1856 auf die Zahl 2.512 fest, die fünfte Wurzel aus 100, ein bequemer Faktor, der dafür sorgt, dass ein Stern 1. Größe hundertmal heller ist als ein Stern 6. Größe. Ein Faktor, der zwar einigermaßen willkürlich gewählt ist, aber letztlich etwas mit der Funktionsweise des menschlichen Auges zu tun hat, was allerdings erst ins Bewusstsein der Astronomen drang, als sie vergessen hatten, dass Pogson nichts von Fechners Gesetz und der logarithmischen Adaption des Auges wusste. Pogson kennt heute niemand mehr, vielleicht zu Recht, seine magische Zahl jedoch lernen Astronomiestudenten im ersten Semester.

Um dieses zurechtgeflickte pseudo-antike System ordentlich in der Metrologie der Neuzeit aufzuhängen, benötigt man einen Nullpunkt. Irgendwo muss die Skala befestigt sein, damit sie nicht willenlos im Wind flattert. Ursprünglich diente der Polarstern als Anker des Systems, bis man Anfang des 20. Jahrhunderts herausfand, dass Polaris ein pulsierender Cepheid ist, der Naheste sogar, ein eminent wichtiges Objekt für die Cepheidenforschung, aber als Standard völlig unbrauchbar. Stattdessen wurde Wega das neue Urmeter, mit einer Helligkeit von 0.0, ein wunderschöner Nullpunkt für die renitente Helligkeitsskala. Astronomen mögen Wega, weil sie hell ist, ein relativ einfaches Spektrum hat und, wie der Polarstern auch, den größten Teil des Jahres irgendwann im Laufe der Nacht am Himmel auftaucht. Zumindest, wenn man in der nördlichen Hemisphäre wohnt. Man merkt, dass die Astronomie des 19. und 20. Jahrhunderts vorwiegend von nördlichen Breiten aus betrieben wurde. Wenn Astronomen heute sagen, ein Stern sei von 6. Größe, dann meinen sie damit nicht mehr, dass er gerade so noch mit bloßem Auge erkennbar ist. Sie meinen damit, dass Wega 2.512 hoch 6 gleich 250-mal heller erscheint als dieser Stern. Je kleiner die Helligkeit, umso heller der Stern. Es ist kein besonders schönes System.

Ein schmutziges Geheimnis der Astronomen ist die Tatsache, dass Wega zwar bequem zu beobachten ist, aber keinesfalls der ideale, saubere Standardstern, an dem man seine Messungen kalibrieren kann. Zum einen gibt es seit fast hundert Jahren immer wieder Berichte, die bekunden, dass sich die Helligkeit von Wega um ein paar Prozent ändern kann, womöglich, weil der gesamte Stern pulsiert, so ähnlich wie Polaris, nur nicht ganz so schlimm. Ein veränderliches Ding als Standard, hurra. Zum Zweiten rotiert Wega so schnell, dass sie wie ein Pizzateig stark abgeplattet ist. Kein schöner runder Stern, wie er im Lehrbuch steht, sondern ein flacher Kloß. Zum Dritten ist Wega umgeben von einer sogenannten Trümmerscheibe, englisch „debris disk“. Trümmerscheiben sind nichts Ungewöhnliches, die Sonne hat so etwas auch und wir nennen es „Kuiper-Gürtel“, ein Ring aus Dreck und Felsen, weit draußen im Planetensystem. Die Trümmerscheibe von Wega ist nicht unsichtbar, sondern strahlt im Infraroten und verunreinigt damit das Licht des Sterns. Und schließlich ist die gleißende Helligkeit von Wega mittlerweile ein Nachteil. Die großen Teleskope mit ihren empfindlichen Detektoren können mit so einer Flut aus Photonen nicht mehr umgehen. Der Standard ist unbeobachtbar geworden. Unsere Fähigkeit, Helligkeiten von Sternen zu messen, ist auch heute noch nicht besser als vor hundert Jahren. Wega, der schmutzige Standard der Astronomie, muss sterben.

In dem Koordinatensystem, das Astronomen über den Himmel gestülpt haben, befindet sich Wega bei einer „Rektaszension“ von „18 Stunden“. Der Himmel braucht 24 Stunden, um sich einmal um den Beobachter zu drehen, oder anders ausgedrückt: Die Erde dreht sich so, dass man nach 24 Stunden wieder in dieselbe Richtung ins Weltall blickt. Wir nennen es Tag. Der Nullpunkt des Koordinatensystems heißt Widderpunkt und liegt dort, wo sich die Sonne am Frühlingsanfang befindet. Der Widderpunkt wiederum liegt zurzeit im Sternbild Fische. Orion, der Anfang der Reise, steht bei 6 Stunden. Wega ist 12 Stunden weiter, genau gegenüber von Orion. Die Hälfte des Himmels ist absolviert.

Aleks Scholz

Der Nachthimmel im Internet, zum Nachvollziehen der Reise.

Aleks Scholz, geboren 1975, ist Astronom und Schroedinger Fellow am „Institute for Advanced Studies“ in Dublin, Irland. Er befasst sich vorwiegend mit der Entstehung und der Entwicklung von Gelben, Roten und Braunen Zwergen. Foto: Ira Struebel. Aleks Scholz bei Google+.

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