Geschrieben am 3. September 2014 von für Kolumnen und Themen, Lichtjahre später, Litmag

Aleks Scholz: Lichtjahre später (28)

Aleks Scholz ist Autor und Astronom. In seiner Kolumne „Lichtjahre später“ erklärt er regelmäßig alles, was wir über das Universum wissen müssen. Seit Januar 2013 befindet er sich auf einer Irrfahrt über den Nachthimmel. Heute: Die FAQs der Astronomie.

Aleks Scholz. Foto: Ira Struebel

Aleks Scholz. Foto: Ira Struebel

Die drei einfachen Fragen

Was it a heliocopter, or an airplane, or ufo, or else. – Email aus Serbien, Juli 2014

Frage 1

“Was ist das helle Ding da am Himmel” ist die klassische Standardfrage für Astronomen. Wer die nicht beantworten kann, sollte den Job wechseln. Dabei sehen wir heute fast nie mehr mit den eigenen Augen und ohne Riesenteleskop an den Himmel. Wir verfolgen auch nicht unbedingt die Bahn der Planeten über das Kalenderjahr, wir haben andere Sorgen. Die meisten von uns sind bei dieser kritischen Frage eher auf informiertes Raten angewiesen. Mein üblicher Konter besteht darin, ein paar Gegenfragen zu stellen. Erst die üblichen Beobachterthemen: “In welche Richtung? Um welche Uhrzeit?” Ohne Ort und Zeit keine Wissenschaft. Dann: “Bewegt es sich?” Falls ja, kann man Stern und Planet gleich ausschließen. Die Optionen sind dann: Flugzeug, Satellit, Sternschnuppe, UFO. Und schließlich die beste Frage: “Was hat das Licht für eine Farbe?” Damit gewinnt man Zeit und säht Verwirrung. “Wie, Farbe. Farbe?”

Wenn ich ein Smartphone hätte, könnte ich in der Zwischenzeit die Antwort googeln. So muss ich raten. “Sicher Jupiter”, sage ich meistens. Jupiter ist heller als alle Sterne. Er zieht seine Kreise so weit draußen im Sonnensystem, dass die Sonne recht selten zwischen uns und Jupiter steht und die Sicht blockiert. Deshalb steht Jupiter ziemlich oft hoch am Himmel. Wenn der helle Stern kurz nach Sonnenaufgang oder kurz vor Sonnenaufgang gesichtet wurde, sage ich “sicher Venus”. Venus steht so dicht an der Sonne, dass sie sich nie weit genug von der Sonne entfernt, um mitten in der Nacht gesehen zu werden. Wenn jemand sich traut, auf die Farbfrage “rot” zu antworten, sage ich “sicher Mars”, noch so ein superheller Planet. Zur Unterscheidung von Planeten und Sternen empfehlen viele das Kriterium “Funkeln”. Sterne funkeln, Planeten nicht, und zwar, weil Sterne für das Auge Punkte sind, die wegen der diversen Unredlichkeiten der Erdatmosphäre immer ein wenig hin- und herspringen. Planeten dagegen sind viel näher als Sterne und erscheinen daher als kleine Scheibchen am Himmel. Aber unerfahrene Beobachter können mit so einer Frage normalerweise wenig anfangen. Funkeln, was soll das sein. Und auch Jupiter kann sowas wie “funkeln”, zum Beispiel wenn der Himmel nur ein wenig bewölkt oder der Beobachter betrunken ist.

Die Frage “Planet oder Stern” lässt sich besser klären, wenn mir jemand sagen kann, in welcher Himmelsgegend der Stern auftaucht. Alle Planeten umrunden die Sonne in derselben Ebene, auch die Erde, weswegen sie alle am Himmel in der Nähe der Sonnenbahn bleiben – die Ekliptik, markiert am mythologischen Himmel durch den Tierkreis. Steht das helle Ding in einem Tierkreissternbild, also Löwe, Stier, Jungfrau oder so weiter, dann ist es ziemlich sicher ein Planet. Der Tierkreis hat nicht viele superhelle Sterne. Der hellste in diesem Ring ist Aldebaran im Stier, nur der achthellste Stern im Norden. Aldebaran kann man nicht für bemerkenswert halten, speziell nicht, wenn man unter einem milchigen Stadthimmel lebt. Es MUSS ein Planet sein. Problem gelöst. Expertenstatus gerettet.

Frage 2

“Können wir durch das Teleskop sehen?” Oft wird die Frage nicht einmal gestellt, sondern die Antwort, ja, in einer Sternwarte kann man durch Fernrohre sehen, implizit einfach vorausgesetzt. Dann große Enttäuschung, wenn es nicht so ist. Denn die Antwort ist immer, immer “nein”, jedenfalls, wenn es sich um ein professionelles Observatorium handelt. Bei dieser Frage trennt sich der Spaß-Sternengucker vom ambitionierten Astronomen. Während der eine tatsächlich mit dem eigenen Auge am Fernrohr hängt und irgendwas ansieht, lässt der andere das Teleskop alleine arbeiten. Die großen Fernrohre der Welt, nie kann man durchsehen.

Hätte ein Laie vor dem 19. Jahrhundert dem Profiastronom dieselbe Frage gestellt, die Antwort wäre anders ausgefallen. Bis dahin nämlich sah der Astronom tatsächlich noch selbst durch das Teleskop. Hinterher schrieb er auf, was er gesehen hatte. Falls er gut zeichnen konnte, fügte er noch eine Skizze hinzu. Man kann sich vorstellen, dass man so in die wissenschaftliche Hölle geraten kann. Wenn der Akt der Beobachtung so unauflösbar mit dem Akt der Interpretation verbunden ist, dann kommt am Ende vermutlich eher das heraus, was man von Anfang an schon immer geahnt hat.*

Was den alten Astronomen fehlte, war eine ordentliche Kopie des Himmels, mit anderen Worten: Daten. Alles wird anders, wenn man erst einmal Daten hat. Unter anderem können verschiedene Leute zu verschiedenen Zeiten über die Datenschicht an exakt dieselben Informationen über ein Himmelsobjekt gelangen. Daten lassen sich normieren, standardisieren, aufbewahren, viel leichter als die unzuverlässigen Erinnerungen des Menschen. Daten sind unbestechlich und objektiv. Mit der Erfindung von Daten erreichte die Wissenschaft das nächste Level. Aber dafür muss man vom Teleskop zurücktreten und dort, wo man normalerweise das Auge anlegen würde, etwas anderes anbauen. Zum Beispiel eine Kamera mit einer Glasplatte, beschichtet mit lichtempfindlichen Material. Im Jahr 1839 richtete Daguerre zum ersten Mal eine Kamera auf den Mond. Heraus kam ein verwaschener Fleck. Die ersten astronomischen Daten. Sehr schlechte Daten.**

Es folgte die überaus schnelle Eroberung des Weltalls durch die Fotografie. Das erste scharfe Bild des Mondes kam ein Jahr später, die erste Sonne 1845, der erste Stern 1850, das erste Spektrum eines Sterns 1863, der erste Orionnebel 1880. Heute arbeiten Astronomen mit denselben lichtempfindlichen Chips, mit denen andere Leute Selfies machen, nur sind unsere Kameras eine Million Mal besser. Besser und teurer. Kameras, ob elektronisch oder fotografisch, haben verglichen mit Augen noch einen offensichtlichen Vorteil. Während das Auge nur die Gegenwart sieht, einen kurzen Augenblick, Bruchteile von Sekunden, kann die Kamera Licht über lange Zeiträume einsammeln. Man dreht einfach die Belichtungszeit hoch. Zehnmal länger belichten heißt zehnmal mehr Licht. Wir können einfach mehr sehen. Für das “Extreme Deep Field” des Hubble-Weltraumteleskops sammelte man insgesamt 23 Tage Licht ein, nochmal deutlich länger als für die vorausgehenden tiefen Beobachtungen mit den wahnsinnig originellen Namen “Ultra Deep Field” und “Deep Field” .

Observatorium St. Andrews_by Boelsche

Kuppeln auf Häusern. Das Observatorium der Universität St Andrews, im Vordergrund das James Gregory Teleskop, größtes Fernrohr Schottlands. Foto: Jan Bölsche

Frage 3

“Wo ist dein Teleskop?” Ja, wo habe ich es nur hingelegt. Es gab Zeiten, in denen Astronomen tatsächlich neben ihrem Fernrohr wohnten und arbeiteten. Die kleinen Kuppeln, die sich heute immer noch auf den Gebäuden von Universitätssternwarten befinden, sind Zeugen dieser Zeiten. Ein Haus, das Astronomen enthält, muss automatisch eine Kuppel haben, in der ein Teleskop still darauf wartet, dass sich das Dach öffnet. Diese Art Astronomie stößt spätestens dann an ihre Grenzen, wenn die Stadt rings um die Sternwarte immer größer, dreckiger und heller wird, wenn man von Kerzen auf Glühbirnen umsteigt und wenn es keine Nachtwächter mehr gibt, die am Abend herumgehen, und die Laternen auslöschen.***

Der Himmel über den Uni-Sternwarten ist heute nur noch eine milchige Suppe mit ein paar hellen Brocken. Außerdem regnet es alle paar Tage. Deshalb stehen die wirklich großen, teuren Teleskope seit Jahrzehnten nicht mehr dort, wo wir arbeiten, sondern dort, wo sie hingehören – in einsamen Wüsten, auf hohen Bergen, auf unbemannten Raumschiffen. Seit den 1960er Jahren baut die “Europäische Südsternwarte” (ESO), ein Zusammenschluss von mittlerweile fünfzehn Nationen, ihre Großteleskope in der Atacama-Wüste in Chile, unter anderem das “Very Large Telescope”. Das VLT besteht zwar in Wahrheit aus vier Fernrohren, ist aber tatsächlich sehr groß. Das amerikanische Äquivalent zu ESO, das “National Optical Astronomy Observatory” (NOAO) betreibt seine Teleskope auf dem Cerro Tololo, ebenfalls in der chilenischen Wüste, und auf dem Kitt Peak in Arizona. Organisationen wie ESO und NOAO bündeln die Kräfte von vielen Instituten und bieten allen Astronomen Zugang zu großen Teleskopen, nicht nur denen, die zufällig eines auf dem Dach haben. Es ist der erste Schritt der Trennung zwischen Astronom und Himmel. Wo sind unsere Teleskope? Im Zweifelsfall immer woanders.

Lange vor der Gründung von Superorganisationen wie ESO und NOAO zog es Astronomen in ferne Länder, vor allem, weil es dort einen anderen Himmel gibt als in Europa. Die alten Universitäten in Europa und Nordamerika liegen alle in der nördlichen Hemisphäre. Der gesamte schöne Südhimmel mit seinen Sternhaufen und Dunkelwolken, mit dem Zentrum der Milchstraße und den Magellanschen Wolken ist von unseren Breiten aus unbeobachtbar. Mitte des 18. Jahrhunderts konnte man sich auf ein Schiff setzen, in den Süden fahren, auf irgendwas am Himmel zeigen, “da!” sagen, und schon hatte man etwas Neues entdeckt. Ungefähr so muss man sich die Expedition von Nicolas Louis de Lacaille vorstellen, der 1750 nach Südafrika fuhr und ein paar Jahre später mit zehntausend neuen Sternen, 42 neuen Nebeln und vierzehn neuen Sternbildern zurückkehrte. Wenig später fingen die Briten damit an, in allen Kolonien Sternwarten zu bauen. In Madras im Jahr 1786, in Paramatta nahe Sidney im Jahr 1822, in Kapstadt im Jahr 1825. Die ehemalige Sternwarte von Madras steht in einem Viertel mit dem Namen “Thousand Lights”. Viel mehr als zehn Lichter wird man aber heute in der Milchsuppe von Madras nicht mehr finden.

Aleks Scholz

* Galileos berühmte Zeichnungen der Mondoberfläche aus dem legendären Winter 1609-10 zeigen zweifellos eine Oberfläche, die der des Mondes ungefähr ähnlich sieht. Nur eben mit ein paar Fantasieelementen. Zum Beispiel der eine riesige Krater knapp unterhalb der Mitte, den es zwar auf dem echten Mond auch gibt, aber lange nicht so groß. “I represented it as well as I can”, schreibt der listige Meister über genau diesen Krater. Galileo will den Leser davon überzeugen, dass die Oberfläche des Mondes gebirgig ist, mit Kratern, die Schatten werfen, was sie tatsächlich tun. Der übertrieben große Krater wirft natürlich einen übertrieben großen Schatten.

** Man muss sich klarmachen, wie schwierig es ist, Bilder vom Nachthimmel zu machen, also von winzigen Lichtern im Dunkeln. Sterne bewegen sich Himmel, sie kreisen scheinbar um die Erde weil, naja, die Erde sich dreht, welch Überraschung. Um ein Bild von Sternen machen zu können, das länger als ein paar Sekunden belichtet ist, muss das Teleskop dieser Bewegung folgen. Dafür benötigt man eine spezielle Montierung, ein präzises mechanisches Getriebe und eine genaue Uhr, die dem Teleskop mitteilt, wie schnell es sich mit dem Himmel drehen soll. Dazu sollte das Teleskop aus einem Material sein, das zwar leicht ist, aber auch so rigide, das es sich nicht verbiegt, nur weil das Rohr sich bewegt. Ganz zu schweigen von der Optik, der Kamera und dem photographischen Material selbst. All das muss es geben, bevor es Daten vom Himmel geben kann. Erfindungen, die wiederum eine komplette Umwälzung der Gesellschaft verursachen oder benötigen, eines von beiden.

*** Ganz abgesehen davon war der Himmel über dem Flachland Mitteleuropas noch nie besonders gut. Newton spekulierte schon 1704, dass man auf hohen Bergen vermutlich ruhigere und klarere Luft und damit bessere Beobachtungsbedingungen vorfindet. Hundertfünfzig Jahre später testete der schottische Hofastronom Charles Piazzi Smyth diese Hypothese. Er nahm ein Teleskop und stieg auf ein paar Berge in Teneriffa und, was soll man sagen, die Sterne sahen plötzlich viel, viel besser aus. Später lebte Smyth vier Monate lang in einer Grabkammer in der großen Pyramide von Gizeh und kam heraus mit den seltsamsten numerologischen Behauptungen. Ein wichtiger Mann, keine Frage.

Der Nachthimmel im Internet, zum Nachvollziehen der Reise.

Aleks Scholz, geb. 1975, ist Astronom und Autor. Zurzeit arbeitet er als Direktor des Observatoriums an der Universität von St. Andrews in Schottland. Zusammen mit Kathrin Passig veröffentlichte er das »Lexikon des Unwissens« und »Verirren« (beides bei Rowohlt Berlin). Er war Redakteur des Weblogs Riesenmaschine und schrieb für die Süddeutsche Zeitung, den Standard, die taz, die Zeit, Spiegel Online und CULTurMAG. Zuletzt erschien im CulturBooks-Verlag „Lug, Ton und Kip. Die Entdeckung der Wicklows“ (mehr hier). Foto: Ira Struebel. Aleks Scholz bei Google+.

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