Geschrieben am 22. Januar 2014 von für Kolumnen und Themen, Lichtjahre später, Litmag

Aleks Scholz: Lichtjahre später (23)

Aleks Scholz ist Autor und Astronom. In seiner Kolumne „Lichtjahre später“ erklärt er regelmäßig alles, was wir über das Universum wissen müssen. Seit Januar 2013 befindet er sich auf einer Irrfahrt über den Nachthimmel. Heute: Die Unterschiede der Sterne.

Aleks Scholz. Foto: Ira Struebel

Aleks Scholz. Foto: Ira Struebel

Die Toaster-Analogie

Der allererste Ausflug an den südlichen Himmel ist vor allem verwirrend. Die Sterne sind nicht da, wo man sie erwartet, oder sie sind einfach nicht da, wie in den Filmen, bei denen sich niemand die Mühe gemacht hat, einen echten Himmel zu rendern. Was macht Orion, steht er wirklich auf dem Kopf? Es ist Dezember 2003, Weihnachten in Valparaiso, die Straßen voller Dreck, ein Chilene, der in den Rotphasen der Ampel mit drei Macheten jongliert, und Orion steht auf dem Kopf. Was soll das? Mein Himmel stürzt ein. Ich brauche neue Sternbilder, neue Geschichten, neue Orientierungshilfen, neue Mythen, neue Götter.

Eine Woche später bin ich in der Atacama-Wüste, vierundzwanzig Grad südlich des Äquators. Cerro Paranal ist einer der trockensten Berge der Welt, null Vegetation, nichts als Staub. Es wäre ein Ort des Todes, wenn nicht ein paar Verrückte auf die Idee gekommen wären, hier eine Oase für Astronomen zu errichten. Paranal ist ein besonderes Observatorium, mit vier der größten Teleskope der Welt, dem größten optischen Interferometer, einem unterirdischen Swimmingpool und einem Fußballplatz. Die Luft ist so trocken, dass man stundenlang duschen kann, ohne dass der Badspiegel beschlägt. Stundenlanges Duschen wiederum ist untersagt, weil jeder Tropfen Wasser von weither auf den Berg transportiert werden muss. Die nächsten Ansiedlungen sind hundert Kilometer Luftlinie entfernt. Sie heißen Taltal und Antofagasta. Chile-Experte Tex Rubinowitz über Antofagasta: “Es gibt dort eine Limonade namens Pap und dreckige Pelikane, sonst nichts.”

Paranal

Der Himmel über Paranal. Orion auf dem Kopf. Sirius darüber. Capella darunter. Credit: ESO/Y. Beletsky

Erst mal Orientierung. Beteigeuze, der rote Stern links oben im Orion, steht rechts unten. Rigel, der blaue Stern rechts unten, steht links oben. Von der bekannten, wenn auch umgekippten, Gestalt Orions am Nordhimmel ausgehend, wandert der Blick weiter Richtung Süden. Etwas südöstlich von Rigel, aber immer noch im Norden, landet man bei Sirius, dem alten Freund. In Deutschland sieht man ihn meistens nur knapp über dem Horizont, vermutlich der Stern, der am häufigsten mit einem UFO verwechselt wird. Hier im Süden kulminiert er sechzig, siebzig Grad über dem Horizont, ein echter Nordstern. Der Himmel südlich von Sirius ist mir völlig fremd. Der erste große Unbekannte: ein heller Stern vierzig Grad südlich von Sirius. Ich habe Canopus erreicht, ein gelber Riesenstern, dreihundert Lichtjahre von uns entfernt, fünfzehntausendmal heller als die Sonne. Wie im Mexican Standoff stehe ich den beiden Supersternen gegenüber, einer im Norden, einer im Süden, ich in der Mitte, the good, the bad, the ugly. Im Hintergrund die Berge der Atacama. Keiner blinzelt. Eine Krähe schreit.

Schiffskiel, so heißt das obskure Sternbild, in dem sich Canopus aufhält. Fünfundzwanzig Jahre vor der französischen Revolution zerschlug Nicolas Louis de Lacaille das antike ptolemäische Sternbild Argo, das Schiff, mit dem das Goldene Vlies gefunden werden sollte, und ersetzte es durch den Kiel, das Achterschiff und das Segel. Die restlichen Teile des Schiffs gingen bei dieser Revolution verloren, bei der auch die Luftpumpe ihren Platz am Himmel fand. Auf dem Achterschiff liegt der Kompass. Fliegende Fische flattern über dem Boot. Es ist eine der wenigen Himmelsgegenden, die Sinn macht.

Es ist außerdem das Land der Supersterne. Sirius und Canopus sind zwei der drei hellsten Sterne am Himmel, dazu Rigel, Procyon, Beteigeuze, Capella und in Richtung Südwesten Achernar, der Hellste im Eridanus. Sieben der zehn hellsten Sterne, direkt in der Schusslinie, versammelt in einer Hälfte des Winterhimmels von Paranal. Gleichzeitig eine praktische Sammlung von Sterntypen. Blaue Sterne wie Rigel, gelbe wie Capella, rote wie Beteigeuze. Große Sterne wie Canopus und Rigel, hundertmal größer als die Sonne. Sterne in sonnenähnlichem Format wie Sirius und Procyon. Sterne kurz vor dem Ende ihres Daseins wie Beteigeuze, Sterne im besten Alter wie Sirius und solche in der Midlife-Crisis wie Capella. Heiße Sterne wie Achernar und weniger heiße wie Beteigeuze. Unsere sieben Freunde decken fast das gesamte Spektrum der Sternphysik ab. Abgesehen davon, dass sie alle superhell sind, haben sie wenig gemeinsam.

Sterne sind nicht wie identische Teelichter am Himmel, sondern extrem verschieden, eine Erkenntnis, die nicht so neu ist. Aber lange scherte man sich nicht darum. Fixstern, noch ein Fixstern, noch einer, same, same. Erst als die ersten Entfernungen bekannt wurden und damit zum ersten Mal klar war, wie hell die Lichtpunkte tatsächlich sind und nicht nur, wie hell sie uns erscheinen, wurde die Verschiedenheit der Sterne ein Thema. Nicht nur die Helligkeiten sind verschieden, sondern auch die Temperaturen an der Oberfläche. Unsere sieben Sterne, von Beteigeuze bis Rigel, reichen von 3000 bis 15000 Grad Celsius.

Woher wissen wir das? Man kann es sofort sehen, ohne Teleskop, ohne Doktorarbeit. Die Farbe von Dingen verändert sich, wenn man sie erwärmt. Jeder, der schon einmal einen Toaster eingeschaltet hat, weiß das. Die Heizstäbe glühen erst dunkelrot, dann hellrot, dann orange. Erhitzt man Metall noch weiter, wird es weiß und schließlich blau. Diese Verbindung von Temperatur und Farbe ist ein Naturgesetz und gilt immer und überall im Universum, überall, wo heiße Körper Strahlung abgeben. Mit bloßem Auge ist der Unterschied zwischen dem blauen Rigel und dem roten Beteigeuze erkennbar. Heiße Sterne strahlen blau, kühle Sterne strahlen rot. Wobei “kühl” bei Sternen immer noch ein wenig wärmer ist als der Toaster, nämlich ein paar tausend Grad. Die Farbkodierung der Astronomen folgt dem Naturgesetz, nicht der Intuition, die blau als eisige Kälte und rot als lodernde Flammen liest.

Die Temperatur regelt nicht nur die Farbe, sondern auch das Spektrum. Schickt man Sonnenlicht durch ein Prisma, dann verwandelt es sich in ein Spektrum, ein Regenbogen, der an diversen Stellen von dunklen Streifen durchsetzt ist. Schon bald nachdem die Herren Bunsen und Kirchhoff feststellten, dass diese Streifen etwas mit den chemischen Elementen zu tun haben, die sich in den Flammen befinden, wurde klar, dass die Spektren der Sterne auch solche Streifen zeigen. Sterne bestehen aus denselben Elementen, die man auf der Erde findet, Wasserstoff, Helium, Eisen, Kohlenstoff, der ganze Reigen. Himmel und Erde funktionieren nicht nur nach denselben physikalischen Gesetzen, sie haben auch dieselbe Chemie.

Um 1860 herum begannen Astronomen, von allem, was man am Himmel sehen kann, Spektren aufzunehmen. Warum auch nicht. Sie wünschten sich einen Spektrographen zu Weihnachten und legten los. Sterne sind nicht nur unterschiedlich hell und warm, sie haben auch extrem unterschiedliche Spektren. Aber wenn man nur genug davon ansieht, erkennt man allmählich ein Muster. Es folgt die Erfindung der Spektraltypen. Spektraltypen sind ein fantastisch sauberes Konzept. Man sieht sich das Spektrum an, beschreibt, wie es aussieht und steckt es dann in eine Schublade. Spektraltypen sind reine Taxonomie, wie Briefmarkensammeln, kein bisschen Physik oder Chemie. Es geht ausschließlich um die Erscheinungen, nicht um Erklärungen.

Das erste einigermaßen kluge System der Spektraltypen stammt von Angelo Secchi, dem wohl produktivsten jesuitischen Astronomen des 19. Jahrhunderts. Er unterscheidet vier Arten von Spektren. Drei davon stehen am Nordhimmel von Paranal. Sirius hat nur ein paar tiefe schwarze Linien im Spektrum, die alle vom Wasserstoff stammen. Capella hat schwache Linien, aber dafür sehr viele davon, so wie die Sonne. Beteigeuze hat keine Linien, sondern breite schwarze Bänder. Je mehr Sterne man ansah, umso mehr Typen fand man. Ende des 19. Jahrhunderts waren es schon 16, jetzt mit Großbuchstaben bezeichnet. In den Kammern der Sternwarte von Harvard entstand ein neues, besseres System. Jahrelang schoben die Astronominnen Antonia Maury, Wilhemina Fleming und Annie Jump Cannon Buchstaben und Zahlen hin und her, auf der Suche nach einer möglichst sinnvollen Anordnung. Cannon war die Frau, die Spektraltyp B vor A setzte. Am Ende blieben sieben klassische Typen übrig – O B A F G K M, in dieser Reihenfolge. Die fertige Spektralsequenz ist ein Meisterwerk der Taxonomie.

Die Harvard-Spektralsequenz von O bis M

Die Harvard-Spektralsequenz von O bis M. Wenn ein Puzzle fertig ist, sieht es immer so einfach aus. Credit: NASA/APOD

Generationen von Studenten mussten sich Eselsbrücken für die seltsame Buchstabensequenz ausdenken. Der Klassiker: “Oh be a fine girl, kiss me.” Die feministische Variante: “Only Boys Accepting Feminism Get Kissed Meaningfully.” Nagetiere: “Oregon Beavers Attack Famous Gardens, Killing Many.” Und Monster: “Overseas Broadcast: A Flash! Godzilla Kills Mothra!”

Aber warum bloß? Warum haben Sterne unterschiedliche Spektraltypen? Wenn die Linien von chemischen Elementen herrühren, warum dann gibt es unterschiedliche Versionen von Spektren? Warum ist Sirius anders als Capella und anders als Beteigeuze? Bestehen manche Sterne etwa aus Wasserstoff und andere aus Eisen, wieder andere aus Titanoxid? Fragen, die sich mit Taxonomie nicht mehr beantworten lassen. Das nächste Kapitel beginnt. Wir brauchen eine Theorie, in der Atome nicht mehr die kleinen Kügelchen sind, aus denen Materie besteht, sondern eine Struktur haben. Spektrallinien entstehen in der Atomhülle, wo Elektronen sich auf wohlbestimmten “Bahnen” “bewegen”. In der Quantenwelt bricht die Sprache zusammen, es empfiehlt sich, viele Wörter nur noch mit Anführungszeichen zu verwenden. Eigentlich “schwingen” die Elektronen mit wohlbestimmten Energien. Spektrallinien entstehen, wenn die Elektronen von einem niedrigen Energieniveau auf ein höheres “springen”. Das Elektron saugt Energie auf, nimmt sich dafür ein Photon, das infolgedessen im Sternenlicht fehlt, eine schwarze Stelle im Spektrum.

Wie genau die Elektronen schwingen, hängt davon ab, wieviel Energie man in die Atome “pumpt”, mit anderen Worten: von der “Temperatur”. Und hier schließt sich der Kreis: Sirius und Beteigeuze bestehen genau aus demselben chemischen Mischmasch. Das meiste ist Wasserstoff und Helium, dazu ein paar Spuren von anderem Zeug. Der Sternenstoff ist heute überall derselbe. Aber weil Sirius heißer ist als Beteigeuze, sind seine Atome anders konfiguriert. Die Elektronen schwingen “auf” anderen Energieniveaus. Infolgedessen liegen die Spektrallinien woanders. Die Temperatur regelt die Atome. Die Spektren von Sternen, diesen riesigen Geräten, sehen so unterschiedlich aus, weil ihre kleinsten Bestandteile, Atome und Moleküle, sich je nach Temperatur anders verhalten. Für eine Theorie des Allergrößten benötigt man eine Theorie des Allerkleinsten.

Aleks Scholz

Der Nachthimmel im Internet, zum Nachvollziehen der Reise.

Aleks Scholz, geb. 1975, ist Astronom und Autor. Zurzeit arbeitet er als Direktor des Observatoriums an der Universität von St. Andrews in Schottland. Zusammen mit Kathrin Passig veröffentlichte er das »Lexikon des Unwissens« und »Verirren« (beides bei Rowohlt Berlin). Er war Redakteur des Weblogs Riesenmaschine und schrieb für die Süddeutsche Zeitung, den Standard, die taz, die Zeit, Spiegel Online und CULTurMAG. Zuletzt erschien im CulturBooks-Verlag „Lug, Ton und Kip. Die Entdeckung der Wicklows“ (mehr hier). Foto: Ira Struebel. Aleks Scholz bei Google+. (Abbildung Paranal: ESO/Y. Beletsky. Abbildung Harvard-Spektralsequenz: NASA/APOD)

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