Geschrieben am 8. Dezember 2018 von für Litmag, Specials, Verlust-Special 2018, Verlust-Special DUE

Alberto Manguel: Sehnsuchtsort Utopie

Sehnsucht_Utopie_Manguel

NUTOPIA
New York, 1973

John Lennon, der Sänger der Beatles, lernt Yoko Ono 1966 in London anlässlich einer Ausstellung der japanischen Künstlerin und Menschen­rechtsaktivistin kennen. Für die Performance Bed-Ins for Peace verbringt das Paar 1969 aus Protest gegen den Vietnamkrieg eine Woche im Bett. 1973 verkünden Ono und Lennon in einer Pressekonfe­renz die Gründung des Kon­zept­Landes Nutopia. Ihre Wohnung im New Yorker Dakota Building erklären sie zur „Nutopischen Botschaft“. Beim Betreten dieses Gebäu­des wird Lennon einige Jahre später von einem Bewunderer, dem er wenige Stunden zuvor noch ein Autogramm gegeben hatte, erschossen.

Am 1. April 1973 stellten John und Yoko auf einer Pressekonfe­renz in New York das Konzept­Land Nutopia vor, dessen „Inter­nationale Hymne“ – bestehend aus drei Sekunden Stille – das Paar etwas später auf seinem Album Mind Games veröffentlichte. Nuto­pia ist ein Land ohne Grenzen, ohne Pässe für die Bürger. Seine Flagge ist ein weißes Stofftaschentuch, was von einigen Zeitgenossen kritisiert wurde, da dies zu sehr an den Akt der Kapitulation erinnere. Die beiden Gründer hingegen versicherten, man könne „den Frieden nicht erkämp­fen, sondern sich ihm nur ergeben“.

Nutopia hat keine Gesetze außer den kosmischen, und jeder, ungeachtet seines Geschlechts, seiner Haut­farbe oder seines Glaubens, kann Nutopia die Treue schwören und damit seine Absicht bekunden, nach den Idealen von Lennons Song Imagine zu leben. Nutopia beantragte, von der UN als Land anerkannt zu werden, fand jedoch kein Gehör.

An einer Tür zur Wohnung des Paares im New Yorker Dakota Building befand sich eine goldene Plakette, die den Ort zur Nutopischen Botschaft erklärte. Yoko bemerkte, dass Besucher die Wohnung nun lie­ber durch diese Tür betraten, als habe „das Schild die Küchentür in unsere neue Eingangstür verwandelt“. Yoko und John ernannten sich zu Botschaftern Nutopias, um diplomatische Immunität zu bekommen und Johns Einwanderungsprobleme zu lösen. Yoko besaß dank ihrer vorigen Ehe bereits eine Greencard, während John die unbegrenzte Aufenthalts­genehmigung verweigert worden war.

john-lennon-mind-gamesAm 1. April 2015, dem 27. Jubiläum der Gründung Nutopias, schrieb Yoko Ono:

Nutopia ist ein Land, das in uns allen existiert.

Wir alle repräsentieren Nutopia.

Am heutigen Geburtstag Nutopias
Lasst uns alle in Gedanken die weiße Fahne oder ein Taschentuch 
schwenken
Und sagen, „ich liebe alles an mir“, und viel Spaß haben.
Denn wir haben es verdient.
Jeder von uns.

Botschafter Nutopias,
Denkt Frieden, handelt Frieden, verbreitet Frieden und erinnert die Leute daran, sich FRIEDEN VORZUSTELLEN.
Sehr bald wird die ganze Welt verstehen, dass wir alle Nutopier sind.
Gemeinsam werden wir den anderen Planeten zeigen, dass es das ist, was hier auf unserem Planeten geschieht –

Dass wir alle zusammen sind und in Frieden leben.

 

Auszug mit freundlicher Genehmigung aus:

Alberto Manguel: Sehnsucht Utopie. Eine Reise durch fünf Jahrhunderte (Voyage en utopies. Cinq siècles, vingt textes commentés, 2017). Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Folio Verlag, Bozen und Wien 2018. Halbleinen, durchgehend Farbabb., Format 21 x 28 cm. 104 Seiten, 32 Euro. Verlagsinformationen.

Alberto Manguel, geb. 1948 in Buenos Aires. Schriftsteller, Literaturdozent, Übersetzer und Redakteur. Er war mehrere Jahre Vorleser beim erblindeten Jorge Luis Borges. Von 2015 bis 2018 Direktor der argentinischen Nationalbibliothek. Seine Bücher – zum Beispiel „Eine Geschichte des Lesens“, „Tagebuch eines Lesers“, „Im Spiegelreich“, „Eine Geschichte der Neugierde“ – wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und 1998 mit dem Prix Medicis ausgezeichnet. 

Es ist ein großformatiger Prachtband,  selbstverständlich mit Lesezeichen, durchgängig vierfarbig, reich illustriert, schön gestaltet, viele alte Landkarten und Stiche, ein Buch für Bibliophile. Alberto Manguel führt prägnant und – was den ja nun durchgängig zu beklagenden Utopieverlust angeht – lakonisch durch Utopien aus funf Jahrhunderten. Die andere Welt als Sehnsuchtsort: Sehnsucht Utopie. Ob Eldorado oder irdisches Paradies, Liliput, Oz, Shangri-La oder die Zauberschule Hogwarts, die Vorstellung von einem besseren, glücklicheren, reicheren Ort ist tief in uns verwurzelt, weiß Manguel. Als Buchkundiger kennt er viele „Stellen“ und Zitate, führt uns als Erstes in das Utopia von Thomas Morus: „Herzog Utopos machte mich aus einer Nichtinsel zur Insel. Ich allein von allen Ländern der Erde habe den Sterblichen, obgleich ohne Philosophie, den philosophischen Staat dargestellt. Gerne lass ich anderen zugutekommen, was mein ist, willig nehme ich von ihnen Besseres entgegen.“ Wir reisen in Tommaso Campanellas Sonnenstaat und Francis Bacons Nova Atlantis, zu Charles Fouriers Ideen der freien Liebe und zu Jean-Baptiste André Godins „Solutions sociales“, in Austin Tappan Wrighta Islandia, Charlotte Perkins Gilmans Herland und auch zu John Lennons und Yoko Onos Nutopia – insgesamt an 20 Sehnsuchtsorte der Utopie.

In diesen Tagen ist dieses Buch klar eine Empfehlung als Weihnachtsgeschenk. – Alf Mayer

Adriaen Coorte_5_Stillleben mit Erdbeeren, 1705, Mauritshuis, Den Haag

Adriaen Coorte: Stillleben mit Erdbeeren, 1705, Mauritshuis, Den Haag (Wiki-Commons)

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