Gang bang
– Tatsächlich kann man mit Lost Girls eine Menge Spaß haben, wird man doch die meiste Zeit auf sehr viel niveauvollere Weise angetörnt, als das sonst bei Pornos der Fall ist. Von Tina Manske
Einen Porno zu schreiben, den auch Frauen gut finden: das war das erklärte Ziel von Alan Moore und Melinda Gebbie, als sich sich daran machten, die Geschichte der Lost Girls zu erzählen. Dabei begegnen wir den drei Hauptdarstellerinnen Alice (die aus dem Wunderland), Dorothy (aus dem „Zauberer von Oz“) und Wendy Darling (aus „Peter Pan“), die sich kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs im Hotel Himmelpforten in Österreich treffen.
Sie sind – entsprechend der fortgeschrittenen Zeit – erwachsen geworden und finden Gefallen daran, ausgiebig miteinander und mit den anderen Hotelgästen Sex zu haben und sich nebenbei ihre geschlechtlichen Erlebnisse und Fantasien zu erzählen. Dabei erfahren selbstredend die uns bekannten Geschichten aus der Kindheit eine oftmals überraschende Neudeutung, und auch die weltpolitischen Verhältnisse fließen immer wieder in den Erzählstrang ein. In einem Kapitel wird zum Beispiel die Ermordung Franz Ferdinands erwähnt; den choc dieser Nachricht verarbeiten die drei Frauen spontan in einem ausgiebigen gang bang.
Die Idee der dreibändigen Geschichte ist natürlich bestechend, und da man spätestens nach Watchmen und From Hell weiß, welcher Genius in Alan Moore steckt, sind die Erwartungen an das Lesevergnügen hoch. Und tatsächlich kann man mit Lost Girls eine Menge Spaß haben, wird man doch die meiste Zeit auf sehr viel niveauvollere Weise angetörnt, als das sonst bei Pornos der Fall ist.
Peter Pan hat den längsten
Melinda Gebbie gesteht jeder der drei Frauen eine eigene Bildsprache und eigene vorherrschende Farben zu, außerdem weiß sie die Vorgeschichte oft subtil in die Erzählung einzubinden. So spielt natürlich bei der ätherischen Alice (die übrigens in ihrer Kindheit missbraucht wurde und deswegen nur noch auf Frauen steht) der Spiegel eine große Rolle, Wendy dagegen verkörpert das handfeste, etwas naive Landmädchen (das von Peter Pan, der natürlich den längsten hat, so richtig ‚fliegen‘ lernt), während Dorothy sich mit einem verklemmten, heimlich schwulen Liebhaber langweilt. Die sehr naive Bildsprache Gebbies allerdings ist gewöhnungsbedürftig, und dass jedes Kapitel im Stil eines literarischen bzw. kunstgeschichtlichen Vorbilds gehalten ist, fällt manchen Lesern vielleicht gar nicht auf – man muss extra drauf hinweisen.
Im letzten Band wird die Drastik erhöht. Keine Seite des Buches, wo jetzt nicht irgendjemand von oben und unten gepimpert wird, Schwänze seitlich und sonstwo ins Panel ragen, und die Geschichten drumherum doch sehr ins Hintertreffen geraten, ganz wie im herkömmlichen Porno auch. Letztendlich korrespondiert der Plot von Lost Girls aber mit dieser vehementen Volte auch mit den gesellschaftlichen Wahrheiten der einbrechenden Moderne: aus Fantasien werden plötzlich sehr reelle Machtverhältnisse. Auch bei aller pornographischen Deutlichkeit ist die Subtilität von Moores Kunst eben niemals zu unterschätzen.
Tina Manske
Alan Moore und Melinda Gebbie-Moore: Lost Girls. 3 Alben im Schuber. Hardcover, vierfarbig,
Cross Cult, 2008. 336 Seiten. 75,00 Euro.
Abbildung: Cross Cult