Geschrieben am 9. November 2009 von für Litmag, Vermischtes

Akzente. Zeitschrift für Literatur, Heft 5/09

Eine Brücke ins Neuland

Carl Wilhelm Macke hat die neue Ausgabe von Akzente, der „Zeitschrift für Literatur“ gelesen.

Entdeckerfreude. Auch das kann ein Grund sein, sich in Buchhandlungen zu begeben. Einfach von Regal zu Regal schlendern. Da in dem Buch eines Autors blättern, von dem man bislang nur seinen Namen kennt. Hier ein Buch aufschlagen, dessen Titel einen neugierig macht, von dessen Autor man aber noch nie etwas gehört hat. Oder man wird wieder von seinem schlechten Gewissen gepeinigt, weil man immer noch nicht Die Blechtrommel gelesen hat und sich so beschämend wenig in der amerikanischen Gegenwartsliteratur auskennt. Aber noch, so hofft man, bleibt ja ausreichend Zeit, auch diese Wissenslücken zu schließen. Man sucht also weiter entlang der Buchregale nach Neuerscheinungen, nach Autorennamen, nach den Klassikern. Dann stößt man, unweit der Kasse, auf einen Stand mit Literaturzeitschriften. Einige möchte man sofort mitnehmen. Man muss sich aber entscheiden. Die Zeit und das Geld – das in diesen Zeiten ganz besonders – fordern auf, sich zu begrenzen. Also erwirbt man nur ein Magazin.

Dieses Mal ist es Akzente, die traditionsreiche Zeitschrift für Literatur aus dem Münchner Hanser-Verlag. Seit Jahrzehnten schon ist diese, heute von Michael Krüger herausgegebene kleine, wunderbar handliche Zeitschrift eine Schatztruhe für literarische Freibeuter und notorische Bücherschnüffler. In jeder Ausgabe stößt man hier auf Prosatexte, auf viele Gedichte, auf Namen, von denen man noch nie etwas gehört und gelesen hat. Die Sommerausgabe 2009 war zum Beispiel der Bulgarischen Poesie der Gegenwart gewidmet. Namen wie Konstantin Pavlov, Ekaterina Yossifova, Georgi Gospodinov oder Kristin Dimitrova waren mir bis zum Erwerb dieser Ausgabe von Akzente vollkommen fremd. Und das ‚neue Bulgarien‘ verband ich, frank und frei sei es bekannt, vor allem mit üppig wuchernder Korruption und wuchtigen Männerchören. Aber es gibt auch eine beeindruckende neue Lyrik-Szene in diesem Land, die weder korrumpierbar ist noch den alten Folklore-Klischees entspricht. Was Tzveta Sofronieva in ihrem Überblick über die neuere bulgarische Lyrik schreibt, macht mich sprachlos, auch verlegen – auch über meine eigene Unkenntnis, über meine bornierten Vorurteile.

Beschämendes Unwissen

Und diese Konfrontation mit dem eigenen peinlichen Nichtwissen setzt sich bei der Lektüre des neuesten Akzente-Heftes (Oktober 2009) fort. Noch nie hatte ich etwas von dem serbischen Dichter Milan Djordjevic gehört. Und dann liest man in einem Essay von Alida Bremer ein Zitat in englischer Sprache (vom slowenischen Schriftsteller Tomaz Salamun), das einen stutzen lässt. „Djordjevic is a major world poet and also the best living Serbian poet at the moment.“ Tatsächlich lassen die wenigen, von Alida Bremer ins Deutsche übersetzten Gedichte von Djordjevic erahnen, was wir geschenkt bekommen würden, wenn wir, der serbischen Sprache unkundig, noch mehr Gedichte von ihm lesen könnten.

Mag in Den Haag über die Kriegsverbrechen auf dem Balkan juristisch entschieden werden. Mag in Belgrad der politische Kampf zwischen den „Pro-Europäern“ und den „Nationalisten“ mit dem Wahlzettel – hoffentlich nur mit ihm – ausgefochten werden. Die Schriftsteller, Theaterautoren, die Lyriker stellen sich der jüngeren Vergangenheit und der fortlaufenden Gegenwart ihres Landes mit der Sprache, mit dem Handwerkszeug Wort.

Ein weiterer Schwerpunkt von Akzente im Oktober 2009 ist dem vor einem Jahr verstorbenen palästinensischen Schriftsteller Mahmud Darwish eingeräumt. Von ihm hatte man schon etwas gelesen. Eine Neu-Entdeckung ist er nicht, aber erst durch das umfangreiche Porträt der Arabistin Angelika Neuwirth erfahren wir, wie sehr dieser gebildete, tief in der arabischen Lyrik-Tradition verwurzelte Dichter in Palästina und weit darüber hinaus in der ganzen Arabisch sprechenden Welt geachtet, auch verehrt wurde. Beschämung auch hier über die eigene Unkenntnis des Werks von Mahmud Darwish zu seinen Lebzeiten. Dass man ihn nie die mit der Verleihung des ‚Nobelpreises‘ verbundene weltweite Aufmerksamkeit geschenkt hat, bleibt unverzeihlich. Immerhin, es bleibt ja noch Zeit, ihn wenigstens jetzt – Akzente sei Dank – zu entdecken.

Jenseits der Grenze

Und auch die polnische Lyrikerin Julia Hartwig wäre noch zu entdecken. Sie hat, liest man in der die publizierten Gedichte begleitenden Notiz ihres Übersetzers nicht ganz unbedeutende Literaturpreise wie den Salzburger „Georg-Trakl-Preis“ erhalten. Und eine Auswahl ihrer Gedichte ist kürzlich in den USA mit größerer Aufmerksamkeit in der literarischen Öffentlichkeit erschienen. Wer aber – der Autor dieser Zeilen schließt sich schamvoll ein – kennt ihr Werk bei uns?

Abgeschlossen wird das aktuelle Akzente-Heft mit einem Namen, der aber nun wirklich in der deutschsprachigen Literaturwelt bestens bekannt ist. Claudio Magris muss man nicht mehr vorstellen, das Gespräch aber, das in Akzente auf vielen Seiten veröffentlicht ist, verdient einen ganz besonderen Hinweis. So ausführlich und angeregt durch kluge Fragen hat sich Magris, jedenfalls in deutscher Sprache, vielleicht noch nie über sein Schreiben, seine Vorbilder, seine literarischen Traditionen geäußert. „Wir brauchen Grenzen, moralische Grenzen, kulturelle Grenzen“, so Magris zum Schluss des langen Gesprächs, „aber Grenzen als Brücken, nicht als Barrieren und Barrikaden.“

Wir brauchen, so könnte man Magris ergänzen, auch Bücher und Literaturzeitschriften wie Akzente, die in einem die Neugierde und die Vorfreude einer Entdeckung provozieren, wie es jenseits der eigenen Grenzen aussieht und welche Schriftsteller dort schreiben, deren Namen einem unbekannt, peinlich unbekannt sind.

Carl Wilhelm Macke

Akzente. Zeitschrift für Literatur. Herausgegeben von Michael Krüger. 56. Jahrgang. Heft 5 2009. 7,90 Euro.