Geschrieben am 11. Mai 2011 von für Litmag, Porträts / Interviews

125. Todestag von Emily Dickinson

Haiku oder Rorschach-Test?

Ihre Lyrik ist so intensiv und frisch, dass ihre Emotionalität direkt auf den Leser überspringt. So suggerieren wir uns als Leser ihrer Gedichte, mit der gut bekannten „Freundin“ Emily Dickinson direkt im Gespräch zu sein – aber was wissen wir schon über diese obskure  amerikanische Eigenbrötlerin, die jahrelang völlig isoliert von der Außenwelt in Amherst lebte? Anlässlich ihres 125. Todestags rätselt Peter Münder über Leben und Werk dieser faszinierenden „Lady in White“.

Auch an diesem 15. Mai wird die treue Dickinson-Gemeinde sich wieder – wie schon seit über vierzig Jahren – am Friedhof in Amherst, Massachusetts, versammeln, um einige ihrer  Gedichte zu rezitieren und an Emily Dickinson (1830–1886) zu erinnern. Aus Japan, wo sich schon seit einigen Jahrzehnten eine enorm kreative Dickinson-Gesellschaft mit ihrem Werk beschäftigt, werden wieder viele Haiku-Fans präsent sein, die in der Amerikanerin eine Kollegin von Basho sehen. Außerdem werden diverse Krimi-Spezialisten vor Ort sein, um über neue Erkenntnisse, ungewöhnliche Biografien und aufregende Gerüchte zu spekulieren, nachdem die Thriller-Autorin Jane Langton mit einem Hausverbot bestraft wurde, als sie  ihren reißerischen Band „Emily Dickinson is dead“ veröffentlicht hatte.

Dickinson Homestead

Keine Frage: Die puritanische Einzelgängerin hat auch heute noch fast jedem etwas zu bieten – egal, ob es sich nun um Biografen, Analytiker, Thriller-Autoren oder verschrobene  Esoteriker handelt. Aus diversen biografischen ED-Versatzstücken kann sich aber auch jeder, der seine Vorurteile, Ahnungen und Komplexe bestätigt sehen möchte, seinen eigenen Rorschachtest zusammenbasteln: War ED vielleicht von ihrem geliebten Neufundländer Carlo beeinflusst worden, der auf dumme Nachbarn neuralgisch reagierte? Wurde sie deswegen zur Eremitin? War ED Epilektikerin? Oder war sie als kritische Atheistin einfach nur blasphemisch, borniert und elitär? Hielt die angeblich so streng fundamentalistische Calvinistin alle Mitmenschen für so retardiert, dass sie mit diesen Dumpfbacken nicht mehr länger kommunizieren wollte? Oder litt sie vielleicht an einer geheimnisvollen Krankheit? All dies und noch viel mehr ist ja in den letzten Jahren in einem wahren Wust von ED-Biografien untersucht worden.

Maximaler Minimalismus

Aber bevor wir nun selbst eintauchen (und darin untergehen?) in diesen diffusen Nebel wilder Spekulationen über einen autoritären Vater und ein auf die Produktion von Schuldgefühlen spezialisiertes calvinistisches Umfeld, das Emotionen, erfüllte Beziehungen oder weibliche Emanzipation beeinträchtigte und verteufelte, sehen wir uns erst mal eins dieser auf maximalen Minimalismus konzentrierten Gedichte an, die wegen ihrer pointierten Knappheit  oft als Haikus verstanden werden, was sie ja nicht sind. Passend zur prächtigen, ganz in grün schwelgenden Jahreszeit empfiehlt sich etwa dieser Sechszeiler von ca. 1875 (ohne Titel, wie alle ihre Gedichte):

A little Madness in the Spring
Is wholesome even for the King.
But God be with the Clown –
Who ponders this tremendous scene –
This whole Experiment of Green –
As if it were his own!

Ja, wer wollte da widersprechen? Natürlich tut ein bisschen tollkühner Übermut im Frühling auch einem Royalisten gut und die meisten Clowns sind eh klüger und selbstkritischer als größenwahnsinnige Herrscher, die das bombastische, alle Dimensionen sprengende supergrüne Experiment (etwa „Green Twentyone“?) für ihre eigene Erfindung halten.

Aber im Subtext klingen so viele Anspielungen auf gesellschaftliche Hierarchien, auf die Fantasien von König und Clown mit, dass ein grüblerisches Abdriften in ambivalente  intellektuelle Untiefen leicht umschlagen kann von einer „little madness“ zum großen Kopfschmerz.

Elaborierte Twitter-Messages im prähistorischen No-Net-Age

Getreu ihrem puritanischen Hintergrund sind einige Dickinson-Lyrismen zwar auch durchtränkt mit religiösen Anspielungen und Überlegungen, doch meistens setzt sich eine gesunde skeptische, agnostische Grundhaltung durch, die an der Existenz eines gütigen höheren Wesens grundsätzliche Zweifel äußert.

Die einsame Lady, die in ihren späteren Jahren meistens weiße Kleider trug und sich nie aus ihrem Elternhaus traute, wird ja immer als Meisterin des Verzichts und als aufopferungsfreudiges Heimchen am Herd beschrieben, was dem Frauen-Ideal engstirniger Biedermänner sicher sehr entgegenkäme – wenn es denn so gewesen wäre. Die große Liebe hat sie offenbar nie gekannt, der angebetete verheiratete Pastor und Literaturexperte Thomas Wentworth Higginson war für sie unerreichbar; denn die idealen Beziehungen blieben für sie die unerfüllbaren, so angenehm konfliktfreien.

Wahrscheinlich spielte der einflussreiche autoritäre Vater Edward (1803–1874), ein Anwalt und Kongressabgeordneter, in ihrem Leben die entscheidende Rolle. Denn vor seinem kritischen Auge konnte kaum jemand – eben auch kein potentieller Schwiegersohn – bestehen.

Ihr Großvater hatte das renommierte Amherst College gegründet, sie selbst besuchte die Amherst Academy sowie ein evangelikales Seminar, wo sie als fleißige, brillante Studentin auffiel. ED war extrem kontaktscheu, schrieb ihre Nachrichten und Einfälle am liebsten auf  Zettel und veröffentlichte zu Lebzeiten nur sieben von rund 1800 Gedichten.

Ihre Lyrik war für sie sicher auch als Mittel zur Kommunikation mit einer schwer erreichbaren Umwelt gedacht – sozusagen als elaborierte Twitter-Messages im prähistorischen No-Net-Age. Wie etwa dieses Gedicht:

Speech is one symptom of Affection
And Silence one –
The perfectest communication
Is heard of none
Exists and it´s indorsement
Is had within –
Behold said the Apostle
Yet had not seen!

Sprechen, aber auch Schweigen als Indiz für Zuneigung – das hört sich schon nach Zen-artigem, paradoxem Weltverständnis an. Das ED-Enigma scheint jedenfalls eine herrliche Symbiose aus ästhetischer Mehrdeutigkeit, naturseligem Schwelgen und haikumäßigem Minimalismus eingegangen zu sein. Was gibt es Spannenderes und Schöneres als so ein auf essentielle Einsichten oder Grübeleien konzentriertes Faszinosum, das die Dechiffrierer schon seit ihrem Tod vor 125 Jahren beschäftigt?

Peter Münder

Emily Dickinson: Guten Morgen, Mitternacht. Gedichte und Briefe zweisprachig. Ausgewählt, aus dem Amerikanischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Lola Gruenthal. Zürich: Diogenes Verlag 2011. 192 Seiten. 10,90 Euro.
Emily Dickinson: Gedichte Englisch/Deutsch. Auswählt und aus dem Amerikanischen übersetzt von Gertrud Liepe. Leipzig: Reclam Verlag. 222 Seiten. 6,00 Euro.
Cynthia Griffin Wolff: Emily Dickinson. New York: Alfred Knopf Verlag 1986. 641 Seiten. 25,00 Dollar.
Alfred Habegger: My Wars are Laid Away. The Life of Emily Dickinson. New York: Random House 2001. 764 Seiten. 35,00 Dollar.
Connie Ann Kirk: Emily Dickinson. Westport: Greenwood Press 2004. 216 Seiten. 38,95 Dollar.Sämtliche Gedichte  finden Sie hier im Original. Audio-Aufnahmen der Gedichte können Sie hier anhören. Und eine ausführliche Diskussion ihrer Gedichte finden Sie hier.